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Gilles Kepel ist einer der wichtigsten Islamwissenschaftler Frankreichs. Am 16. Dezember erscheint sein Buch „Terreur dans l’Hexagone“, das sich mit den Ursachen des Dschihadismus im Nachbarland befasst, in Frankreich im Verlag Gallimard.

© AFP

Frankreich: "Die Islamisten wollen einen Bürgerkrieg herbeiführen"

Der Islamwissenschaftler Gilles Kepel warnt davor, dass Dschihadisten es auf eine Spaltung der westlichen Gesellschaft anlegen. "Die Islamisten wollen eine gewaltsame Reaktion der Mehrheitsgesellschaft provozieren", sagt er im Interview.

Herr Kepel, zweimal wurde die französische Gesellschaft in diesem Jahr von islamistischen Anschlägen getroffen. Wie wirken sich die Anschläge auf die französische Gesellschaft aus?
Wenn man die Folgen der Anschläge vergleicht, gibt einen Unterschied, was den Zusammenhalt in der Gesellschaft anbelangt. Die Attentäter vom Januar, die Brüder Kouachi und Amedy Coulibaly, hatten es auf eine klar umrissene Gruppe von Personen abgesehen: die in ihren Augen „islamophoben“ Intellektuellen von „Charlie Hebdo“, „abtrünnige“ Polizisten und Juden. Sie folgten damit dem Aufruf des Vordenkers Abou Moussab al Souri, der zu einem „globalen Dschihad“ aufgerufen hat und der eine Spaltung der Gesellschaft, einen regelrechten Bürgerkrieg zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen herbeiführen möchte. Die Islamisten wollen eine gewaltsame Reaktion der Mehrheitsgesellschaft provozieren, beispielsweise Brandanschläge auf Moscheen. Dieser Spaltungsversuch hat im Januar auch tatsächlich teilweise funktioniert – denken Sie nur an Sympathisanten der Islamisten, die den Slogan „Je suis Charlie“ mit dem Spruch „Je suis Coulibaly“ beantworteten.

Und nach den Anschlägen vom November war das anders?
Im November gab es fast niemanden, der sich mit den Attentätern solidarisierte – wenn man einmal einmal von einigen extremistischen Zirkeln absieht. Das liegt daran, dass die Attentäter vor dem Stade de France sowie im zehnten und elften Pariser Arrondissement wahllos auf die gesamte französische Gesellschaft zielten. Die Dschihadisten argumentierten, dass die sich die Attentate gegen die „Unzucht“ gerichtet hätten. Die Jugendlichen in den betroffenen Pariser Arrondissements, die zum Teil aus Einwandererfamilien stammt, konnten sich damit kaum identifizieren.

Die Strategie der Islamisten ist also fehlgeschlagen?
Der Terrorismus verfolgt immer zwei Ziele: den Gegner zu terrorisieren und neue Anhänger zu gewinnen. Selbst wenn die Anschläge vom 13. November aus der Sicht des „Islamischen Staates“ wegen der hohen Opferzahlen einen taktischen Erfolg darstellten, sind sie nach meiner Auffassung ein strategischer Fehlschlag. Denn es zeigen sich die Grenzen eines „Dschihadismus von unten“, bei dem aus Europa stammende Terroristen zum Einsatz kommen. Es ist noch zu früh, um die Folgen der Anschläge vom 13. November zu überblicken. Man kann weitere Anschläge nicht ausschließen. Aber man sollte nicht übersehen, dass selbst die in französischen Gefängnissen inhaftierten Sympathisanten des „Islamischen Staates“ sich von den Anschlägen distanzierten. Die Anschläge verlieren ihre Wirkung, wenn es den Attentätern nicht gelingt, die Bevölkerung auf ihre Seite zu ziehen. Ähnliches haben wir auch schon in der Vergangenheit erlebt: Bin Laden war zunächst für den 11. September verantwortlich, dann für die Anschläge von Madrid und London. Unter radikalen Muslimen nahm dabei die Mobilisierung nach jedem dieser Anschläge ab.

Präsident François Hollande hat angesichts der Attentate von einem „Kriegsakt“ gesprochen. Auch Premierminister Manuel Valls hat gesagt: „Wir sind im Krieg“. Sind Sie einverstanden?

Im Nahen Osten ist der Krieg gegen den „Islamischen Staat“ eine Realität. Anders als die Al Qaida verfügt der IS über ein Territorium im Irak und in Syrien. Wenn es eines Tages gelingen sollte, im Nahen Osten eine echte Koalition gegen den „Islamischen Staat“ zu Stande zu bringen, dann wird die IS-Terrormiliz große Schwierigkeiten bei der Verteidigung des eroberten Gebietes bekommen.
Hollande hat unmittelbar nach den Anschlägen alles daran gesetzt, eine internationale Koalition gegen den IS zu bilden. Hat er damit Erfolg gehabt?
An der internationalen Rundreise von Hollande nach den Anschlägen ist bemerkenswert, dass als Einziger der russische Präsident Putin seine volle Unterstützung im Kampf gegen den „Islamischen Staat“ zugesagt hat – aus reinem Eigeninteresse. Das steht im Gegensatz zu der bisherigen, etwas romantischen Vision der französischen Diplomatie, der zufolge der von Putin unterstützte syrische Präsident Assad abtreten müsse. Jetzt besteht die Hoffnung darin, dass man den „Islamischen Staat“ zerstören kann, wenn man sich mit Russland verbündet. Darin liegt aber auch ein Schwachpunkt der französischen Strategie, der auch einen Mangel an europäischer Koordination offenbart. Hier zeigt sich ein Manko in unserer gemeinsamen europäischen Sicherheitspolitik.

Worin Gilles Kepel die Grenzen des neuen Dschihadismus sieht

Frankreichs Präsident Hollande (links) und Russland Staatschef Putin Ende November in Moskau.
Frankreichs Präsident Hollande (links) und Russland Staatschef Putin Ende November in Moskau.

© dpa

Befinden wir uns auf europäischem Boden ebenfalls im Krieg gegen den IS?
Das glaube ich nicht. Auf europäischem Boden geht es darum, mit den Mitteln der Polizeiarbeit gegen die Islamisten vorgehen. Gleichzeitig muss man darüber nachdenken, warum die Geheimdienste nicht verstanden haben, dass wir es inzwischen mit einer neuen Generation von Terroristen zu tun haben.
Das heißt?
Es gibt drei Generationen von Dschihadisten. Die erste Generation war unter anderem daran beteiligt, die Russen aus Afghanistan zu vertreiben. Dschihadisten aus dieser Generation sind dann anschließend in Ägypten und Algerien aufgetaucht. Dieser Dschihadismus scheiterte aber in Ägypten und Algerien, weil die Gewalt immer mehr überhand nahm. In der zweiten Generation versuchten die Dschihadisten in der arabischen Welt, Anschläge in weit entfernten Ländern zu verüben. Diese Welle gipfelte in den Anschlägen vom 11. September. 2005 entstand dann die Theorie eines Dschihadismus der dritten Generation, dessen Zielgebiet vor allem in Europa liegt und der sich direkt junger Menschen in Europa bedient. Zu dieser Generation gehört der Islamist Mohamed Merah, der 2012 in Frankreich eine Attentatsserie verübte.
Wie sollte Europa dieser Terroristen-Generation begegnen?
Bevor Mohamed Merah seine Attentate verübte, war es den Geheimdiensten 16 Jahre lang gelungen, einen Anschlag in Frankreich zu verhindern. Allerdings konzentrierten sich die Geheimdienste in dieser Zeit auf die Al Qaida und den Waffenhandel innerhalb dieses Terrornetzwerks. Im Fall der dritten Terroristengeneration ist die Ermittlungsarbeit schwieriger, aber nicht unmöglich. Der Dschihadismus der dritten Generation hat seine Begrenzung darin, dass er sich vor allem aus Tätern mit einem einfachen Bildungshintergrund rekrutiert, die zu spontanen Aktionen neigen. Man sollte darauf mit Wachsamkeit reagieren, aber nicht mit Kriegsgeschrei.

Viele der Täter vom 13. November waren Franzosen. Welche Rolle spielt die soziale Ausgrenzung von vielen aus Einwandererfamilien stammenden Jugendlichen für deren Radikalisierung?

Wirtschaftsminister Emmanuel Macron hat neulich darauf hingewiesen, dass es in Frankreich einen Nährboden für derartige Terrorakte gibt. Tatsächlich gibt es keine andere Gesellschaft in Europa, in der ein Teil der Bevölkerung auf dem Arbeitsmarkt derart ausgegrenzt wird. Wenn man nicht die richtigen Schulen besucht hat, kann es mitunter sehr schwer werden, eine Arbeit zu finden. Davon sind übrigens nicht nur Muslime betroffen: Meine eigenen Kinder mussten ins Ausland gehen, um eine Arbeit zu finden.

Der Islamismus unter jungen Leuten in Frankreich, im belgischen Molenbeek oder in Dinslaken hat also in erster Linie soziale Ursachen?

Nein, so ist es nun auch wieder nicht. Ich nehme die Ideologie des „Islamischen Staates“ sehr ernst. Wenn man sich mit den salafistischen Texten beschäftigt, kann man nachvollziehen, wie es dazu kommen kann, dass einige Menschen mit den Werten in ihrer Gesellschaft brechen und zur Gewalt übergehen. Ich war gerade in Molenbeek. In Belgien fällt ins Auge, dass es dort keine nationale Identität mehr gibt. Es gibt da einerseits unterschiedliche Gruppen wie die Flamen und die Wallonen, die sich nicht ausstehen können. Es fehlt also ein Staat, in den sich die Muslime in Belgien überhaupt integrieren könnten...

... und gleichzeitig ist überall in Europa der Rechtspopulismus auf dem Vormarsch.
Die französische Gesellschaft befindet sich zwischen dem Hammer des Dschihadismus und dem Amboss des Front National. Ähnlich ist es in Deutschland, wenn man an die Demonstrationen der Pegida-Anhänger denkt.

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