zum Hauptinhalt
Wägt Worte lieber ab: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier.

© Thilo Rückeis

Frank-Walter Steinmeier im Interview: „Wer für Gewalt nur einen Funken Verständnis aufbringt, macht sich mitschuldig“

30 Jahre nach der Wende ruft der Bundespräsident auf, den demokratischen Streit wieder zu lernen. Ein Gespräch über Hass und Hetze, Träume und Enttäuschungen.

Herr Bundespräsident, am 9. Oktober würdigten Sie gerade die friedlichen Demonstranten vor 30 Jahren in Leipzig, als ein rechtsextremer Terrorist in Halle versuchte, Dutzende Juden in einer Synagoge zu töten. Damals träumten die Menschen, heute wirkt einiges wie ein Alptraum – wie sehr zersetzt Hass und Hetze unsere Demokratie?
Die große Demonstration in Leipzig am 9. Oktober 1989 gehört zweifellos zu den Höhepunkten der an Sternstunden nicht reichen deutschen Demokratiegeschichte. 70.000 Menschen haben damals allen Mut zusammengenommen und sind für ihre Freiheit auf die Straße gegangen. An diesem Tag hat die Angst die Seiten gewechselt. Ging vorher die Furcht vor einer „chinesischen Lösung“ um, war seit Leipzig klar: Ein friedliches Ende der Diktatur ist möglich.

Das ist eine ganz wertvolle Erfahrung, an die wir heute anknüpfen können: Die Zukunft ist offen, lasst uns mutig sein. Das ist die Haltung, die ich mir wünsche, wenn wir über die heutigen Herausforderungen sprechen und die sind nicht klein. Denn unsere Demokratie ist angefochten. Während ich in Leipzig sprach, bangten in einer Synagoge in Halle, nur wenige Dutzend Kilometer entfernt, Jüdinnen und Juden um ihr Leben, bedroht von einem Rechtsextremisten. Das ist in der Tat ein Albtraum. Und aus dem erwachen wir nur, wenn wir mutig Freiheit, Menschenwürde und unsere Demokratie verteidigen - so wie die Leipziger es uns vor dreißig Jahren vorgemacht haben.

30 Jahre nach dem Mauerfall reißt es die Gesellschaft immer weiter auseinander. Es ist überall zu spüren, was ist schiefgelaufen in den letzten Jahren?
Wir haben viel zu lange mit der Illusion gelebt, dass wir von dem verschont bleiben, was in anderen liberalen Demokratien des Westens schon seit einiger Zeit festzustellen war. Nicht nur in den USA, nicht nur in der europäischen Nachbarschaft, auch bei uns nimmt die Polarisierung der Gesellschaft in rasender Geschwindigkeit zu. Vielleicht dachten wir, wir blieben verschont, weil die wirtschaftliche Stabilität in Deutschland größer ist als anderswo. Inzwischen wissen wir: Diese Trends, die wir im gesamten Westen feststellen, haben auch uns erreicht, zwar mit zeitlicher Verzögerung, aber mit Wucht. Die Risse in unserer Gesellschaft sind sichtbar, und diese Risse sehen wir inzwischen auch in den Wahlergebnissen.

Was treibt die Polarisierung in Deutschland?
30 Jahre nach der Einheit existieren Unterschiede zwischen dem Ostteil und dem Westteil unseres Landes. Und die prägen auch die öffentliche Auseinandersetzung. Das ist nicht automatisch schlecht. Im Gegenteil: Ich freue mich darüber, wenn zum Beispiel junge Menschen aus Ostdeutschland lauter und klarer als zuvor ihre Forderungen hörbar machen. Und mit einigem Abstand werden auch Enttäuschungen, Fehler und Illusionen, die in den Jahren nach der Wiedervereinigung entstanden sind, noch einmal anders sichtbar. Das Sprechen darüber ist ein wichtiger und ich glaube, am Ende auch heilsamer Prozess.

Problematisch ist es, wenn die Risse tatsächlich zwischen unterschiedlichen Lebenswelten verlaufen: zwischen Arm und Reich, Jung und Alt, offline und online und auch zwischen Stadt und Land. Das findet ja in ganz Deutschland statt, in Ost und in West. Und anders als vor 20 Jahren wird diese Kluft durch eine veränderte Kommunikationskultur vergrößert. Vor allem die sozialen Medien verstärken die Polarisierung. Dort gibt es wenig Platz für Differenzierendes: Das Netz kennt oft nur schwarz und weiß, Zwischentöne sind nicht vorgesehen.

Wie muss sich unser Verhalten verändern?
Wir müssen wieder lernen, uns mit anderen Standpunkten auseinanderzusetzen, wir müssen wieder lernen, konstruktiv miteinander zu streiten. Streit zu vermeiden ist nicht die Aufgabe von Demokraten. Das müssen wir uns zumuten. Aber wenn wir streiten, dann bitte in Respekt voreinander. Auch das Gegenüber kann Recht haben, das sollten wir immer für möglich halten. Auf dieser Einsicht ist unsere Demokratie gebaut.

[30 Jahre Mauerfall: Der Tagesspiegel feiert das Jubiläum am 9. November mit einer umfangreichen Sonderausgabe. Bestellen Sie die Zeitung in ihrer digitalen Variante hier kostenlos.]

Der Streit wird angetrieben durch große Unzufriedenheit, etwa im Umgang mit der Einwanderung, durch die Vernachlässigung von Schulen, die Nullzinspolitik der EZB. Vielen Menschen fehlt die Führung, und zwar durch die Kanzlerin. Was müsste sie tun?
Bei meinen Reisen durchs Land stelle ich immer wieder fest, dass die Menschen sich nach Orientierung und klaren Strukturen sehnen. Sie erwarten zu Recht, dass die Politik ihre Aufgaben erledigt - beispielsweise dass dort, wo viele Menschen weggezogen sind, gute Arbeits-  und Lebensbedingungen erhalten bleiben, die junge Menschen zum Dableiben bewegen. Dazu gehören eine funktionierende Infrastruktur, ärztliche Versorgung, auch ein kulturelles Angebot und der Zugang zum Internet. Dazu gehört aber auch eine Wertschätzung des ländlichen Raums, die uns im Zuge der Urbanisierung deutlich verloren gegangen ist. Ich glaube, vielen ist nicht einmal bewusst, dass mehr als die Hälfte der Deutschen auf dem Land wohnen.

Also zu viel Berliner Blase, die Politik und Medien dominiert?
Die debattierten Themen lassen es manchmal vermuten. Wenn ich mir beispielsweise das Thema Wohnen anschaue: Ich bin zwar froh, wenn wir darüber diskutieren, dass sich im städtischen Umfeld wenige Leute eine goldene Nase verdienen, aber viele Menschen Schwierigkeiten haben, eine bezahlbare Wohnung zu finden. Das darf jedoch nicht unser einziger Blick auf das Thema sein. Im ländlichen Raum verlieren die Leute den Wert ihres Eigentums, weil die Häuser nicht zu vermieten, geschweige denn zu verkaufen sind. Wenn der Sog in die Städte anhält, wird man das nur schwer ändern können, aber deshalb können und dürfen wir die Sorgen der anderen Hälfte der Gesellschaft nicht ignorieren.

Hinzu kommt, dass die Diskussion über innerparteiliche Auseinandersetzungen und Personen sehr viel mehr Gewicht einnimmt als die Auseinandersetzungen über aktuelle politische Inhalte. Das ist nicht gänzlich neu, das gebe ich zu, und ob das nur der Politik geschuldet ist oder nicht auch der Berichterstattung über Politik, das lasse ich mal dahingestellt. Aber wir müssen aufpassen, nicht den Eindruck zu erwecken, dass sich die Politik in persönlichen Querelen und Machtspielchen erschöpft. Wir sollten die Regierung vielmehr daran messen, was sie sich vornimmt und ob sie ihre Vorhaben umsetzt – und uns nicht in Spekulationen und Gerüchten erschöpfen.

In ländlichen Regionen ist man genervt von der Dominanz der Klimapolitik, zumal Pendler hier draufzahlen könnten.
Das ist genau das, was ich mit der Kluft zwischen den Lebenswelten meine. Es hat wahrscheinlich keine gesellschaftliche Bewegung der vergangenen 20 Jahre so viel Aufmerksamkeit und Debatte erreicht wie Fridays for Future. Das ist ein großer Verdienst der engagierten jungen Leute und hilft, notwendige Maßnahmen auch tatsächlich anzuschieben. Wir kommen aber nicht weiter, wenn wir jede Woche apokalyptische Bedrohungen beschreiben, die kaum zu bewältigen scheinen. Denn Apokalypse lähmt! Und – absichtlich oder nicht – dadurch werden die Möglichkeiten der Demokratie immer kleiner geredet. Ich finde, dass die Lösungsfähigkeit der Demokratie gerade bei der Klimapolitik systematisch unterschätzt wird.

[Mehr zum Thema: „Die Forderung, dass Fleisch teurer wird, ist sozial ignorant“, sagt die Linke Sahra Wagenknecht im Tagesspiegel-Interview.]

Die Klimabewegung redet durch die Klage über zu langsame demokratische Prozesse die Demokratie schlecht?
Ich sage das nicht als Großvater mit den weißen Haaren, sondern aus innerer Überzeugung: Ich kenne keine andere politische Ordnung weltweit, die die Möglichkeit zur Umkehr, die Möglichkeit zur Selbstkorrektur so in sich trägt wie die Demokratie. Wenn in der Vergangenheit Weichen falsch gestellt wurden, dann bietet die Demokratie die Möglichkeit, diese falschen Weichenstellungen zu korrigieren. Oder Entscheidungen nachzujustieren. Und sie trägt es in sich, dass unterschiedliche Interessen und Perspektiven, auch die der Pendler zum Beispiel, in die Lösungen einfließen.

Wer meint, dass irgendeine autoritäre Ordnung besser mit den Herausforderungen der Gegenwart umgehen kann, der irrt. Das ist keine Ausrede, um notwendige Schritte jetzt nicht zu gehen. Ganz im Gegenteil: Wer den Erwartungen der Wähler nicht nachkommt, wird abgewählt.

Eine bei den letzten Wahlen noch erfolgreichere Bewegung ist die AfD. Gewählt wird sie auch von den Trägern der Demokratie von morgen. In allen Altersgruppen unter 60 war die AfD in Thüringen stärkste Kraft. Kippt der Osten nach rechts?
Wir leben in einer Zeit der Zuspitzung und der Polarisierung. Ich sehe nicht jeden, der frustriert ist und seine Wahl als Ausdruck von Protest versteht, schon als Gegner der Demokratie. Ich warne im Gegenteil davor, ganze Gruppen für die Demokratie verloren zu geben. Wer andere abschreibt, der hat auch die Demokratie schon abgeschrieben.

Wir müssen uns auch um die bemühen, die irritierend anderer Meinung sind. Wenn sie spüren, dass Politik vor Ort präsent ist, dass ihre Probleme und Nöte erkannt und bearbeitet werden, dass es für ihre Erfahrungen und Haltungen einen Raum gibt in der öffentlichen Debatte, dann wächst Vertrauen. Aber ich sehe auch klare Grenzen dieses Bemühens: Nämlich genau dort, wo die Grenze zu Menschenverachtung und Gewalt überschritten wird. Wir müssen diese Grenze klarer als bisher markieren und auch durchsetzen – im Netz ebenso wie auf den Schulhöfen und Marktplätzen.

Was erzürnt sie besonders?
Es macht mich fassungslos, nach Verbrechen wie der Ermordung von Walter Lübcke oder dem Anschlag in Halle, bei einigen klammheimliche Freude zu sehen. Wer für Mord und Gewalt auch nur einen Funken von Verständnis aufbringt, der macht sich mitschuldig. Punkt! Und ich bin die tägliche Verächtlichmachung von demokratischen Institutionen und ihrer Repräsentanten leid: Die Beleidigungen von Bürgermeistern, das Gerede vom „System“, das alles trägt zur Diskreditierung der Demokratie bei. Deshalb erwarte ich von allen, von der schweigenden Mehrheit, die – da bin ich ganz sicher – Vernunft im Diskurs und Zusammenhalt in der Gesellschaft nicht verlieren will, endlich laut zu werden und Position zu beziehen.

Demokratien sterben nicht mit einem lauten Knall, sondern langsam. Kann diese zweite deutsche Demokratie auch sterben, wenn es so weitergeht?
Bonn war nicht Weimar und Berlin ist nicht Weimar. Wir leben nicht in Nachkriegsjahren. Die Menschen laufen nicht in Lumpen herum, sind nicht von Hunger gepeinigt. Wir haben nicht sechs oder zehn Millionen Arbeitslose, sondern sind wirtschaftlich erfolgreich und leben seit 70 Jahren in einer starken Demokratie. Dieses Land hatte vor 30 Jahren die Kraft, die deutsche Einheit mit all ihren wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen zu schultern. Es hat auch in der großen weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009 einen Weg gefunden, wirtschaftlich stark zu bleiben. Und wir hatten die Kraft, 2015 und 2016 fast eine Million Flüchtlinge aufzunehmen, bei allem Streit, den es darüber gegeben hat.

Ich finde, wir können stolz und selbstbewusst auf das blicken, was wir geschafft haben: Dass wir mit Krisen und großen Aufgaben fertig werden können und neue Stärke daraus wachsen lassen. Aber es gibt politische Kräfte, die genau dieses Selbstbewusstsein nicht wollen, um sich mit Schlechtreden selbst stark zu machen und die Diskreditierung und Gewalt in die politische Auseinandersetzung streuen. Das dürfen wir nicht unwidersprochen lassen.

Braucht es schärfere Strafen gegen Hass und Diffamierung gerade im Netz?
Ja. Und die müssen durchgesetzt werden. Es ist gut, dass die Bundesregierung jetzt Maßnahmen beschlossen hat, um die Regeln für einen zivilen Umgang miteinander, die außerhalb des Netzes gelten, auch innerhalb des Netzes zu gewährleisten. Und es ist gut, dass endlich auch Kommunalpolitiker besser vor Angriffen geschützt werden. Wer sich für unsere Demokratie einsetzt, der muss auf den Schutz des Staates vertrauen können.

Die Polarisierung wird so schnell nicht weichen, die Wahl in Thüringen war eine Zäsur: Erstmals gab es keine Mehrheit für die Parteien der demokratischen Mitte. Stehen für Sie Linke und AfD auf einer Stufe?
Die Landtagswahl in Thüringen hat gezeigt, dass Parteien von den Wählerinnen und Wählern regional sehr unterschiedlich bewertet werden. Die Linkspartei stand dort offenbar für die meisten Wähler nicht für radikale Veränderungen, sondern hat auch Bewahrendes verkörpert. Dieses Beispiel zeigt doch: Mit bloßen Etiketten kommen wir künftig nicht mehr sehr weit, wenn Parteien ihren Umgang miteinander finden müssen.

In Leipzig haben Sie am 9. Oktober gesagt, Demokratie ohne mutige Demokraten – das kann nicht funktionieren. Viele der Leute, die 2019 in Dresden, Leipzig und anderswo für rechte Anliegen auf die Straße gehen, fühlen sich auch als mutige Demokraten. Würden Sie die einbeziehen?
Wer in Deutschland im Jahr 2019 auf die Straße geht, muss nicht mutig sein. Anders als in der DDR leben wir in einer Demokratie. Jeder hat das Recht, seine Stimme zum Protest zu nutzen. Ich würde sogar sagen: Jeder hat auch den Anspruch darauf, dass ihm zugehört wird. Er hat allerdings keinen Anspruch darauf, dass ihm dann auch alle zustimmen. Das allerdings wird manchmal verwechselt, gerade von denen, die heute über die Einschränkung ihrer Meinungsfreiheit klagen.

Braucht es neue große und kleine Runde Tische?
Ich habe selbst oft erlebt, dass sich, wenn Menschen einander Auge in Auge gegenübersitzen, die Kommunikation verändert und die Bereitschaft zum Zuhören entsteht. Es ist deshalb wichtig, das Gespräch in der Gesellschaft zu suchen und zu fördern und uns auch gerade über die verschiedenen Lebenswelten hinweg unterschiedliche Meinungen zuzumuten.

Aber es geht um mehr als um Debattenkultur. Was die Runden Tische der friedlichen Revolution so besonders gemacht hat, war das pragmatische, auf Verständigung ausgerichtete Ringen um die gemeinsame Zukunft. Das sollten wir auch heute nicht als das Außergewöhnliche, sondern als die konstituierende Kraft in einer Demokratie verstehen. Insofern verfolge ich mit großem Interesse die verschiedenen Projekte, die sich bemühen, Bürgerinnen und Bürger über neue Formate zusammenzubringen und einzubeziehen.

Sie sind viel im Land unterwegs, welche Geschichten haben Sie 30 Jahre nach dem Mauerfall besonders schockiert, und was hat Ihnen andererseits Mut gemacht?
Den Besuch bei der Witwe und den Kindern von Walter Lübcke in Kassel vergesse ich nicht. Genau so wenig wie den Besuch in der Synagoge oder auch das Gespräch mit dem Besitzer des Döner-Imbisses in Halle. Ja, ich gebe zu: Unmittelbar nach solchen Gewaltverbrechen fühlt man sich ohnmächtig, ausgeliefert, ringt um Worte, die Anteilnahme zeigen, um Worte, die einordnen. Und das erwarten die Menschen von ihrem Staatsoberhaupt, wie ich aus vielen Briefen weiß. Aber darin darf es sich nicht erschöpfen. Ich will deshalb immer wieder die Aufmerksamkeit auch auf Ermutigendes lenken, auf Menschen, die ihre Zukunft in die eigene Hand nehmen und das Beste daraus machen.

Für mich ist spannend, was in ländlichen Regionen geschieht, die wir in Berlin vielleicht für abgehängt halten. In dem kleinen Ort Tantow zum Beispiel, im Osten Brandenburgs an der polnischen Grenze, wo man schnell denken könnte, da passiert nicht viel. Und dann kommen wir dort hin und werden empfangen von der örtlichen Feuerwehr, von der Bürgermeisterin und von einer Erzieherin, die uns sagt: ‚Alle denken, hier ist das Ende der Welt. Aber wissen Sie was? Das hier ist der Anfang von Europa‘. Und dann erzählt sie begeistert, wie die Menschen in Tantow von Europa profitieren.

Erfreuliche Begegnungen in Brandenburg: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier.
Erfreuliche Begegnungen in Brandenburg: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier.

© Thilo Rückeis

Was haben Ihnen die Menschen in Tantow erzählt?
Sie haben vor allem von den positiven Veränderungen ihres kleinen Ortes durch die Grenzlage zu Polen erzählt: Sie konnten neue Bewohner aus Polen gewinnen, die jetzt dazu beitragen, die Region lebenswert zu erhalten, indem sie sich in der freiwilligen Feuerwehr engagieren oder die Kita vor der Schließung bewahrt haben. In Tantow wird jetzt Deutsch und Polnisch gesprochen. In so einem Ort kann man sehen, dass es funktioniert. Ich finde es falsch, ein Klagelied davon zu singen, dass im ländlichen Raum nichts mehr möglich ist.

Viele fühlen sich aber hier von der Bundespolitik vergessen.
„Die“ Menschen auf dem Land gibt es so wenig, wie „die“ Menschen in der Stadt. Ich erinnere mich an Besuche in Kleinstädten in Ostdeutschland, nur wenige Kilometer voneinander entfernt und vor denselben Herausforderungen: In dem einen Ort herrscht Zuversicht und Selbstbewusstsein; ich treffe einen tatkräftigen Bürgermeister umrahmt von Bürgerinnen und Bürgern, die mit anpacken, die Ideen mitbringen. Und in der zweiten Gemeinde, wo die Voraussetzungen nicht entscheidend anders sind, habe ich die Klage vom Vergessensein noch im Ohr.

Ich rede die Probleme nicht klein, aber es gibt mehr gute Ideen für die Erhaltung guter Lebensbedingungen im ländlichen Raum als bekannt. Die vielen guten Ideen müssen auch umgesetzt werden. Die Gesundheitsversorgung auf dem Land muss kreativer sein als sie es in der Vergangenheit war. In jedem Dorf ein Arzt, das wird nicht mehr möglich sein. Wenn die letzte Gaststätte zumacht, müssen neue Treffpunkte geschaffen werden. Und Fahrdienste für die Älteren sind vielfach auch schon vorbildlich organisiert.

Sie fordern einen Solidarpakt für Wertschätzung. Was verstehen Sie darunter ganz konkret?
Die Ostdeutschen haben mit der friedlichen Revolution, mit Mauerfall und Wiedervereinigung deutsche Demokratiegeschichte geschrieben. Aber was danach kam – die vielen persönlichen Umbrüche, der Jobverlust, die Abwanderung ganzer Generationen, die unzähligen Veränderungen – das ist im Westen nicht wirklich gesehen, geschweige denn anerkannt worden. Das hat zu neuen Enttäuschungen, zu neuen Rissen geführt. Es war eine Illusion zu glauben, wir könnten dieses Problem allein mit Geld lösen.

Wir brauchen deshalb einen neuen, einen ganz anderen Solidarpakt – einen der offenen Ohren und des offenen Austauschs, der Wertschätzung und des Respekts, zwischen Ost und West, aber auch über die anderen, die lebensweltlichen Gräben in unserem Land hinweg. Es geht darum, die Menschen zusammenzubringen, Geschichten und Perspektiven auszutauschen. Darum können sich zum Beispiel Städtepartnerschaften, Nachbarschaftsinitiativen oder digitale Stammtische bemühen. Ich glaube: Die Vielfalt an Erfahrungen ist eigentlich eine Stärke dieses Landes.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier mit Tagesspiegel-Chefredakteur Mathias Müller von Blumencron und Hauptstadtbüroleiter Georg Ismar (von rechts) in Schloss Bellevue.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier mit Tagesspiegel-Chefredakteur Mathias Müller von Blumencron und Hauptstadtbüroleiter Georg Ismar (von rechts) in Schloss Bellevue.

© Thilo Rückeis

Was waren Ihre persönlichen Träume, als die Mauer fiel? Und was ist aus ihnen geworden?
Die Wiedervereinigung hat meine Träume verändert. Ich war an der Universität in Gießen, habe promoviert, danach wollte ich eigentlich den akademischen Weg weitergehen, in der Wissenschaft bleiben – das war jedenfalls mein Traum. Im Herbst 1989 lag ich gerade in den letzten Zügen meiner Doktorarbeit. Mit ungläubigem Staunen habe ich gleichzeitig die Ereignisse im Osten allabendlich in den Nachrichten verfolgt. Als politischer Mensch, der ich nun einmal war, war mir spätestens mit dem 9. Oktober klar: Hier wird Geschichte geschrieben.

Auf Einladung von Wolfgang Ullmann war ich noch im Winter 89/90 in Potsdam, wo in einer schnell anberaumten Konferenz über die sich abzeichnende Wiedervereinigung diskutiert wurde. Mir war schnell klar, dass dies nicht die Zeit für eine größere wissenschaftliche Arbeit war. Deshalb habe ich der Universität erst einmal den Rücken gekehrt. Dass es ein Abschied für immer würde, ahnte ich damals noch nicht. Aber von der Politik, die mich von Anfang an immer wieder von Niedersachsen in den Osten Deutschlands gebracht hat, gab es dann kein Zurück mehr. Meine Träume, mein Werdegang, mein berufliches Wirken haben sich durch die Wiedervereinigung völlig verändert und dafür bin ich heute dankbar.

Im Osten folgte auf den Traum bald der Kater, auch dort veränderten sich viele Biografien. Heute befeuert die AfD ein Opfernarrativ – und in ihrem Zentrum steht die Treuhandanstalt.
Ich war immer bei Richard Schröder, der früh dafür plädiert hat, zur Vermeidung weiterer Mythenbildung die Akten zur Treuhandgesellschaft zu öffnen und der Wissenschaft zur Verfügung zu stellen. Nur so kommt man der Wahrheit auf die Spur. Ganz ohne Zweifel waren nicht alle Entscheidungen alternativlos, natürlich wurden Fehler gemacht - das sagt inzwischen auch die frühere Chefin der Treuhand, Birgit Breuel. Aber zur ganzen Wahrheit gehört eben auch, dass die DDR-Wirtschaft am Boden lag und mit Beginn der Währungsunion ihre Unternehmen zum ersten Mal nach Marktkriterien bewertet worden sind.

Bevor die Treuhand die Unternehmen bewertet hat, wurden sie allerdings von den Konsumenten bewertet. Sie haben gesagt: Wir kaufen keinen Wartburg mehr, wir kaufen keinen Trabant mehr.
Wir brauchen eine nüchterne Bestandsaufnahme. Es geht mir nicht darum, die Treuhand reinzuwaschen. Den Menschen war aber zum Beispiel nicht klar, dass die Währungsunion das faktische Aus für viele DDR-Unternehmen bedeutete. Das hätte die Politik sicher deutlicher sagen können; das ist vielleicht einer dieser Fehler, den man aus der heutigen Perspektive nicht wiederholen würde.

Wie erklären Sie sich, dass junge Leute, die die AfD wählen, auch wegen der Geschichten ihrer Eltern zur Treuhand, ein nostalgisches Bild von einer DDR zeichnen, die es nie gegeben hat?
Mit zeitlichem Abstand verliert eine SED-Diktatur für diejenigen, die sie nicht erlebt haben, an Schrecken. Und wir dürfen nicht vergessen, dass es immer auch um die eigenen Familiengeschichten, um das persönliche Leben der Eltern und Großeltern geht. Deshalb ist es gut und wichtig, dass frühere Bürgerrechtler in Schulen gehen und erzählen, wie sie mutig für das gekämpft haben, was ihnen verwehrt war und was für uns heute selbstverständlich geworden ist: Reisefreiheit, Meinungsfreiheit und Demonstrationsfreiheit und vieles mehr, das sich mit Freiheit und Wohlstand umschreiben lässt.

Sie wägen Ihre Worte sorgfältig ab. Doch mit wohl gewählten Sätzen durchzudringen, ist schwerer geworden. Wir leben in einer Welt der Lautsprecher. Wie wollen Sie die Menschen erreichen, wenn andernorts selbst auf präsidialer Ebene eine ganz andere Tonlage angeschlagen wird?
Die Welt wird nicht besser, wenn jetzt alle auf demselben Kanal zum Lautsprecher werden. Auf diesen Weg sollten sich Menschen mit politischer Verantwortung möglichst nicht begeben in einer Welt, in der die Fliehkräfte stärker werden und die gemeinsame internationale Ordnung von einigen für wertlos erklärt wird.

Ich bin völlig sicher, dass das, was im Augenblick zum Beispiel auf der anderen Seite des Atlantiks stattfindet, Schaden anrichten kann und schon angerichtet hat. Aber die Zukunft ist offen. Ich glaube an Vernunft und Verständigung. Ich glaube, das Bedürfnis der Menschen wird wieder wachsen, zurückzukommen zu einem Fundament, auf dem Verständigung über unterschiedliche Interessen möglich ist – jenseits von autoritärer Pose und nationalem Egoismus. Dieses Fundament zu stärken, im Kleinen wie im Großen, das sehe ich als meine Aufgabe an.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false