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Jubiläum für den Nordatlantikpakt. Kein Grund zum Feiern?

© Ints Kalnins,Reuters

Fragen zum Nato-Jubiläum: Allianz der Unwilligen

Die Nato steckt in der schwersten Krise seit der Gründung des Verteidigungsbündnisses 1949. Warum ist das so? Warum gilt Deutschland als unzuverlässig?

Die Nato wird an diesem Mittwoch und Donnerstag in Washington den 70. Jahrestag ihrer Gründung feiern. Von der Abschreckung im Kalten Krieg über umstrittene Einsätze in Kosovo und Afghanistan – das Militärbündnis hat sich mehrmals neu erfunden. Zu den Herausforderungen, vor denen der Nordatlantikpakt heute steht, gehört die Unsicherheit über die geostrategischen Ambitionen Russlands und den unberechenbaren Kurs von US-Präsident Donald Trump.

Trump stellte das Bündnis massiv infrage

Wirklich warm ist Donald Trump mit der Nato nie geworden – und wird es wohl auch nicht. Im Präsidentschaftswahlkampf hat er die Verteidigungsallianz als „obsolet“ bezeichnet. „Sie wurde für die Sowjetunion entwickelt, die es jetzt gar nicht mehr gibt“, sagte er im April 2016. Davon distanzierte er sich, genau ein Jahr später und erst wenige Monate im Amt, bei einer Pressekonferenz mit Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg.

Erkannt hat der US-Präsident, dass die Drohung mit einem Bruch effektiver ist, als ein Bruch selbst. Im Englischen nennt man die Art seiner Rhetorik eine „intentional ambiguity“ („absichtliche Zweideutigkeit“). Immer mal wieder lässt Trump die Frage offen, ob die Beistandsverpflichtung nach Artikel 5 des Nordatlantikvertrages immer und unter allen Umständen gilt. Zweifel an seiner Loyalität zu nähren, erlaubt es ihm, umfassenden Druck auf die Verbündeten auszuüben.

Trumps skeptische Haltung zur Nato reflektiere nicht das Verhältnis des US-Kongresses zur Allianz: Diese Botschaft aus Washington hat das Bündnis zu seinem 70. Jahrestag erreicht. Stoltenberg darf an diesem Mittwoch auf einer gemeinsamen Sitzung von Repräsentantenhaus und Senat reden. Das ist eine der höchsten Ehren, die ausländischen Gästen erwiesen wird. „Der US-Kongress und das amerikanische Volk“, schrieb Nancy Pelosi, die Sprecherin des Repräsentantenhauses, an Stoltenberg, „freuen sich auf Ihre Botschaft von Freundschaft und Partnerschaft. Wir arbeiten zusammen, um unsere wichtige Allianz zu stärken und eine friedliche Zukunft für die ganze Welt zu schaffen.“

Die Türkei ist als wichtiger Vorposten an der Grenze zum Nahen Osten kein verlässlicher Partner mehr

Bis zum Ende des Kalten Krieges war die Rolle der Türkei im atlantischen Bündnis klar. Mit ihrer geostrategisch bedeutsamen Lage an der Südostflanke des Bündnisses war das Land ein Wachtposten des Westens. Im Westen und Norden der Türkei lagen die Warschauer-Pakt-Staaten Bulgarien und Rumänien sowie die Sowjetrepubliken Ukraine, Georgien, Armenien und Aserbaidschan, im Süden der Moskauer Partner Syrien. Die südtürkische Luftwaffenbasis Incirlik diente besonders den USA als Vorposten, von dem aus die UdSSR ins Visier genommen werden konnte. Der lange Zeit sehr starke Einfluss der pro-westlich ausgerichteten türkischen Militärs auf die türkische Politik half der Nato dabei.

Seit dem Ende des Ost-West-Konflikts hat sich das Verhältnis zwischen der Nato und der Türkei jedoch gewandelt. Die Türkei versteht sich heute als eigenständige Regionalmacht, die spezielle Interessen verfolgt. Kurz vor dem Nato-Jubiläum gibt es deshalb Spannungen. Die Türkei will das russische Raketenabwehrsystem S-400 kaufen, obwohl ihre Partner in der Allianz befürchten, dass Moskau im Rahmen der Betreuung dieses Systems Eigenschaften westlicher Kampfjets ausspionieren könnte. Die USA haben deshalb vorerst die Lieferung der neuen amerikanischen Kampfflugzeuge vom Typ F-35 an Ankara gestoppt.

Das Schutzversprechen gegenüber den baltischen Staaten ist zweifelhaft

Bereits seit einigen Jahren durchqueren immer wieder russische Militärmaschinen unangekündigt den baltischen Luftraum und reagieren nicht auf Funkkontakt. Dann steigen Nato-Flugzeuge auf, das transatlantische Bündnis überwacht für die drei baltischen Staaten den Luftraum. Nach der russischen Intervention in der Ukraine entsandte die Nato außerdem Soldaten nach Estland, Lettland und Litauen. Mit beiden Einsätzen will die Nato ein Zeichen setzen, dass sie die drei Staaten nicht im Stich lässt.

Dennoch gibt es für die Balten Anlass zur Sorge. Den Nato-Partner Montenegro zu verteidigen, könne den Dritten Weltkrieg auslösen – mit dieser Bemerkung stellte Trump nonchalant die Beistandsverpflichtung der Nato zur Diskussion. Ob sich die baltischen Staaten im Ernstfall auf ihre europäischen Bündnispartner verlassen könnten, scheint fraglich. Wäre die Nato tatsächlich bereit, im Falle einer Eskalation im Baltikum einen Krieg mit Russland zu riskieren? In Deutschland, das zeigte eine Umfrage bereits 2017, ist jeder Zweite dagegen, den Verbündeten Beistand zu leisten.

Hinzu kommt, dass ein offener Krieg Russlands gegen einen der baltischen Staaten als vergleichsweise unwahrscheinlich gilt. Was wäre aber, wenn das Szenario auf den ersten Blick weniger eindeutig ausfiele – wie in der Ostukraine, wo Russland bis heute bestreitet, Kriegspartei zu sein? Denkbar wären beispielsweise von außen gesteuerte Aktionen prorussischer Kräfte oder eine Verschiebung von Grenzen. In einem solchen Fall bliebe denjenigen mehr Interpretationsspielraum, die einer Unterstützung der Balten kritisch gegenüberstehen.

Das Bündnis und viele Mitglieder haben die Selbstverteidigung vernachlässigt

Kurz vor seinem Abschied machte sich Ben Hodges öffentlich Gedanken über Deutschlands Straßen und Schienen. Die alternde Verkehrsinfrastruktur in Europas wichtigstem Transitland sei leider ein „Flaschenhals“ für den Fall, dass die Nato schnell große Mengen Gerät, Material und Soldaten gen Osten verlegen müsste, befand der General, der bis 2017 die US-Landstreitkräfte in Europa kommandierte. Aber auch in Polen, Tschechien oder Ungarn bröckeln Brücken und fehlen Bahnladerampen, die einen 60-Tonnen-Panzer tragen.

Das Logistik-Desaster ist nur eine der vielen Baustellen, die der „Friedensdividende“-Optimismus nach dem Fall der Mauer hinterlassen hat. Nicht nur in Deutschland wurden Armeen auf Einsätze in fernen Krisengebieten optimiert. Auch andere Länder motteten schweres Gerät ein, fuhren Mannschaftszahlen zurück und verbannten Bündnisverteidigung in den Anhang ihrer Weißbücher.

Auf dem Papier hat die Nato umgesteuert. In den Schubladen liegen wieder Pläne für alle Fälle. Ein neues Kommando in Ulm soll ab 2021 die Verlegelogistik koordinieren. Schnelle und schnellste Eingreiftruppen sind beschlossen. Zuletzt startete der Nato-Gipfel 2018 eine „Readiness Initiative“. Bis 2020 soll die Allianz binnen 30 Tagen 30 Bataillone – bis zu 20000 Soldaten –, 30 größere Kriegsschiffe und 30 Luftstaffeln kampfbereit haben.

Doch Fachleute halten dazu derzeit allenfalls die Briten für fähig. Schon Frankreich käme mit der „Readiness“ hart an die Belastungsgrenze. Beim Aufbau von Cyberkapazitäten, überhaupt der Kriegführung der Zukunft mit Drohnen und automatisierten Systemen besteht überall Nachholbedarf. Und das größte Problem ist kaum angegangen: Das Sammelsurium an Gerät und Systemen bis hin zu Munitionskalibern und Funkstandards wieder auf reibungslose Zusammenarbeit hin zu trimmen.

Deutschland gilt als unzuverlässig

Dass der Deutschland in der Nato gern einmal als Watschenmann herhalten muss, hat einen schlichten Grund. Von der dominanten politischen und wirtschaftlichen Macht Europas erwarten andere ein diesem Status angemessenes Engagement. Die Bundesregierung will ihren Wehretat bis 2024 aber nur auf 1,5 Prozent des Bruttosozialprodukts steigern. Das als ernsthafte Bewegung „in Richtung zwei Prozent“ zu deuten, wie es die Nato-Selbstverpflichtung von 2014 verlangt, erfordert schon einiges an gutem Willen.

Dazu kommen zunehmend Probleme wichtiger Partner mit der deutschen Version von Pazifismus in Rüstungsfragen. Franzosen, Briten, auch Italiener und Spanier wollen nicht länger hinnehmen, dass bildlich gesprochen eine Handvoll deutscher Schrauben in einem gemeinsam gebauten Panzer das Gerät den Berliner Exportbeschränkungen unterwirft. Auf der Arbeitsebene hört man aber kaum Klagen. Deutschlands Rolle als wichtigster Truppensteller im Ausland wird gewürdigt. Die Zusammenarbeit mit Nachbarn gilt als vorbildlich – vom deutsch-französischen über das deutsch-niederländische Corps bis zum Hauptquartier des Multinationalen Corps Nordost in Stettin.

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