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Ein Teil des Triebwerks. War ein technischer Defekt Schuld am Absturz?

© dpa

Flugzeugabsturz mit 224 Toten: Die Airline, der neue Staatsfeind

Offiziell wird in alle Richtungen ermittelt, doch gilt es weiterhin als unwahrscheinlich, dass Terroristen den russischen Flieger über Ägypten vom Himmel geholt haben. Die Wut auf die Airline in Russland wächst.

Neben seinem Hauptfeind – dem Westen, der ständig dran ist – hatte Dmitri Kisseljow, der Chefpropagandist von Kremlchef Wladimir Putin, sich Sonntagabend beim politischen Wochenrückblick im Staatsfernsehen auf einen Nebenfeind eingeschossen: Die Airline Kogalymavia. Ihr gehörte der Airbus, der Samstag über dem ägyptischen Sinai mit 217 Passagieren und sieben Besatzungsmitgliedern an Bord abstürzte. Bewaffnet mit Bildmaterial aus dem Archiv schilderte er, wie 2011 im westsibirischen Surgut noch auf dem Rollfeld das Triebwerk einer startenden Tupolew 154 in Brand geriet. Es gab drei Tote und 43 Verletzte, Unfallursache: ein Kurzschluss, den der Fernsehmann mit schlampiger Wartung erklärte. Von da war es nicht mehr weit zu Analogieschlüssen zu der Katastrophe über dem Sinai. Dabei hatten Sprecher von Kreml und Außenamt die Medien gerade erst gebeten, auf Vorverurteilungen und Spekulationen zu verzichten. Es gelte, den Bericht der Untersuchungskommission abzuwarten.   

Dann versteinerte Kisseljows Gesicht und seine Redefluss verhedderte sich. Der Grund: Eine Eilmeldung der staatsnahen Nachrichtenagentur Ria Nowosti: Fazit: Ganz ausschließen lasse sich der Terrorismusverdacht als Abschussursache womöglich nicht. Ein ägyptischer IS-Ableger hatte schon Samstag die Verantwortung für den Anschlag übernommen, die Ermittlungsbehörde bei der russischen Generalstaatsanwaltschaft das Bekenner-Video jedoch zu einer „besonders zynischen PR-Aktion der Islamisten in eigener Sache“ erklärt.

Kurz danach meldete sich die amtliche Nachrichtenagentur Tass mit einem ähnlichen Verdacht. Demzufolge hatten Experten der russischen Luftfahrtbehörde und ehemalige Testflieger Deformationen von Teilen der Tragflächen mit Hitzeeinwirkung und starken Druck erklärt. Auch habe die Maschine etappenweise an Tempo und dadurch an Höhe verloren. Nach mehreren Minuten sei die magische Grenze von 172 Stundenkilometern erreicht worden, danach ist Fliegen nicht mehr möglich, nur noch freier Fall.  

Ähnlich verliefen auch die letzten Minuten des Fluges MH 17. Die malaysische Boeing war im Juli 2014 über der umkämpften Ostukraine mit 297 Menschen an Bord abgestürzt, Regierungstruppen und pro-russische Milizen werfen einander vor, sie mit Raketen vom Himmel geholt zu haben.

Zwar glauben Experten – darunter auch westliche – IS verfüge derzeit nicht über Waffen um Flugzeuge in Höhen von 9.000 – 12.000 Metern abschießen zu können. Russische Blogger lassen sich dennoch nicht von ihren Verschwörungstheorien abbringen. Demzufolge haben die Dschihadisten sich mit dem Abschuss für Moskaus Militäroperation in Syrien gerächt.

"mechanische Einwirkung" als Absturzursache

Neue Nahrung bekamen die Spekulationen durch eine Pressekonferenz, die leitende Mitarbeiter der Unglücks-Airline Montag in Moskau gaben. Es habe, so Kogalymavia-Vizechef Alexander Smirnow, mechanische Einwirkung“ auf das Flugzeug gegeben. Das sei die „einzig erklärbare Ursache“ für den Absturz. Auch habe die Crew keinen Notruf abgesetzt. Das deute darauf hin, dass die Besatzung „zum Zeitpunkt der Katastrophe offenbar bereits vollständig arbeitsunfähig“ war.

Technische Mängel schloss auch der stellvertretender technischer Direktor der Airline Andrei Awerjanow aus. Zwar habe es 2001 bei einer Landung einen Crash gegeben. Die dabei entstandenen Schäden seien jedoch beseitigt worden und hätten keinen Einfluss auf die Sicherheit gehabt. Auch sei die Maschine erst im Frühjahr generalüberholt und auf eventuelle Haarrisse und andere Verschleißerscheinungen des Materials gecheckt worden. Die Befunde seien durchweg negativ ausgefallen.  

Weder Risse noch ein Ausfall der Systeme oder schlechter Treibstoff, so auch Mitarbeiter Viktor Jung hätten das Unglück auslösen können. Pilotenfehler oder eine technische Störung schloss er ebenfalls „völlig aus“:

Keine Version - „vom Terrorakt bis zum Unfall“ sei ausgeschlossen, so Kremlsprecher Dmitri Peskow. Er und andere hochrangige Beamte halten einen Anschlag dennoch für unwahrscheinlich und sahen sich durch erste Ergebnisse von Auswertungen der Flugschreiber bestätigt. Demzufolge gab es keine „äußeren Einwirkungen“ auf die Maschine.

Klarheit erhofft man sich vor allem von den Gesprächen der Besatzung unmittelbar vor dem Absturz. Laut Verkehrsminister Maxim Sokolow, der die russische Regierungskommission zur Untersuchung der Katastrophe leitet und seit Samstag vor Ort ist, sind die Voice Recorder in „befriedigendem Zustand“.

Wo sie ausgewertet werden – in Russland oder in Ägypten – stehe bisher nicht fest, so Luftfahrtbehördenchef Alexander Neradko. Die Zusammenarbeit mit den ägyptischen Kollegen sei gut. In St. Petersburg, wo Gouverneur Georgi Poltawtschenko eine dreitätige Trauer angeordnet hat, trafen gestern die die sterblichen Überreste der ersten 144 Insassen ein. Auch ihre Smartphones – viele wurden bereits geborgen – versprechen sich die Ermittler wertvolle Informationen über die letzten Minuten des Fluges.

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