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Winfried Kretschmann und Bundeskanzlerin Angela Merkel.

© dpa

Flüchtlingspolitik: Warum Kretschmann erneut ein grünes Tabu bricht

Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann hat die Grünen verändert. Sie müssen sich neu mit alten Gewissheiten auseinandersetzen. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Cordula Eubel

Es ist alles andere als sicher, dass Baden-Württemberg nach den Landtagswahlen im März weiterhin von einem grünen Ministerpräsidenten regiert wird. Doch allein die Aussicht, dass Winfried Kretschmann sich in diesem Amt behaupten könnte, ist eine politische Sensation. Fünf Jahre nach der Atomkatastrophe von Fukushima ist es ihm gelungen, die Grünen als Baden-Württemberg-Partei zu etablieren. Und es ist auch nicht ausgeschlossen, dass die Kretschmann-Grünen bei der Wahl mit der CDU gleichauf ziehen werden, also mit jener Partei, die sich lange im dem Glauben wähnte, das Land gehöre ihr.

Das ist vorbei. Ein eindrucksvoller Beleg für die Zeitenwende: Die Wähler im Südwesten trauen den Grünen im Land laut Umfragen in der Flüchtlingspolitik weit mehr Kompetenz zu als der CDU. Kretschmann hat sich entschieden, bei diesem Thema nicht auf Befindlichkeiten seiner Berliner Parteifreunde Rücksicht zu nehmen. Er weiß, dass er die Mehrheitsgesellschaft nicht gegen deren Willen verändern kann. Er will auch die überzeugen, die den Flüchtlingszuzug mit Skepsis sehen.

Die Konflikte mit der Bundespartei schaden dem Landesvater dabei nicht, im Gegenteil: Im Herbst 2014 stürzte er die Grünen in eine Krise, als er dem ersten Asylkompromiss im Bundesrat zustimmte. Damals wurden drei Balkan-Staaten zu sicheren Herkunftsländern erklärt, im Gegenzug machte die große Koalition Zugeständnisse in der Flüchtlingspolitik. Das war für viele in der Menschenrechtspartei ein Tabubruch, für viele Bürger im Südwesten aber der Nachweis von Vernunft.

Nun stellt der Ministerpräsident erneut in Aussicht, dass er einer weiteren Ausweitung der sicheren Herkunftsstaaten zustimmen kann, dieses Mal auf die Maghreb-Staaten Marokko, Tunesien und Algerien. Angesichts der Menschenrechtslage in diesen Ländern halten viele Grüne das für das falsche Signal. Sie murren, meutern aber nicht.

Lauter streiten nach den Wahlen

Das liegt natürlich auch daran, dass sich im Moment keiner vorwerfen lassen will, den Wahlerfolg des grünen Parteifreundes zu gefährden. Es hat aber auch damit zu tun, dass der Flüchtlingszuzug die Grünen zwingt, sich neu mit alten Gewissheiten auseinanderzusetzen. Natürlich sind sie die Partei, die für Offenheit gegenüber Flüchtlingen wirbt. Doch der grüne Mainstream nähert sich der These an, dass nicht jeder hierbleiben kann, der in Deutschland Asyl beantragt. Wie beim Kosovo-Krieg Ende der 90er Jahre hat in der Partei ein Klärungsprozess eingesetzt, nur dass die Debatten heute nicht mit derselben Heftigkeit geführt werden wie damals. Vor Farbbeuteln muss Kretschmann sich nicht fürchten.

Klar ist aber auch: Nach der Landtagswahl werden die Grünen wieder lauter streiten. Es wird dann nicht nur um Asylrecht und die Menschenrechtslage in Herkunftsländern gehen, sondern um die Grundsatzfrage, wie viel Kompromissbereitschaft der Partei guttut und wie viel Prinzipientreue für sie unverzichtbar ist. Dabei steht, ganz egal, wie es am 13. März in Baden-Württemberg ausgeht, eines schon jetzt fest: Kretschmann hat nicht nur die politische Landschaft in seinem Heimatland verändert, sondern auch seine grüne Bundespartei. Pragmatismus kann, jedenfalls wenn er Werten verpflichtet ist, bei den Grünen nicht mehr als Opportunismus diffamiert werden. Die Zeiten sind vorbei.

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