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Europäisch, aber allenfalls im Hintergrund. Angela Merkel etikettiert nationale Politik oft supranational.

© Marko Erd/dpa

Flüchtlingspolitik, Klima und Verteidigung: Merkel will europäische Lösungen - meint aber deutsche

Die liebste Illusion der Deutschen ist, dass alle werden wie wir. Das wird vor allem in der Europapolitik entlarvt. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Sie ist schwer zu finden, obwohl alle nach ihr suchen: die europäische Lösung. Sie wechselt ständig ihr Aussehen. Ob es sie überhaupt gibt und was sie beinhaltet, scheint vom Auge des Betrachters abzuhängen. Es kommt auch auf den Zeitpunkt der Betrachtung an. Und auf den Standort, den politischen wie den geografischen. Die CDU beschreibt eine europäische Lösung anders als die CSU und wieder anders die SPD oder die Grünen. Das gilt im Migrationsstreit, aber auch für Energie- und Verteidigungspolitik. Jedes EU-Land scheint seine eigene Vorstellung zu haben. Immerhin ist der Begriff positiv besetzt. Niemand sagt: Auf keinen Fall wollen wir eine europäische Lösung.

Das verdankt sich einem Etikettentrick. Viele in Europa, auch die Deutschen, definieren die eigenen Vorstellungen gerne als „europäisch“. Im Zweifel sollen die anderen übernehmen, was man selbst denkt oder was sich als nationale Praxis im eigenen Land bewährt hat. Wenn man den eigenen Wünschen das Etikett „europäisch“ aufklebt, ist damit freilich noch keine Mehrheit in der EU gewonnen.

Vor dem EU-Gipfel schien die Mehrheitsmeinung in Deutschland zu sein: Wenn die CSU einen härteren Umgang mit Asylsuchenden verlangt, die bereits in einem anderen EU-Land registriert sind und sie an der Grenze abweist, wäre das ein nationaler Alleingang und stehe einer europäischen Lösung im Weg. Kanzlerin Merkel hingegen, die ihre Linie der offenen Grenzen aus dem Jahr 2015 verteidigt, strebte in diesem Narrativ eine europäische Lösung an.

Deutschlands Position auf dem Gipfel in der Minderheit

Der EU-Gipfel hat wenig beschlossen, das Wenige weist aber in die entgegengesetzte Richtung: Kein Land möchte Zufluchtsuchende in größerer Zahl als bisher bei sich aufnehmen. Eine Verteilung auf die EU-Staaten lehnen viele Länder ab. Einigen konnte man sich nur auf geschlossene Zentren sowohl in der EU als auch in Afrika; dort sollen Zufluchtsuchende bleiben, bis ihre Anträge geprüft sind. Das ist nicht, was sich die liberale Mehrheit in Deutschland unter einer europäischen Lösung vorgestellt hatte. Der Juso-Vorsitzende Kevin Kühnert nennt es eine „Kasernierung“ und unannehmbar. Und doch verteidigt die CDU nun das Ungewollte als europäisch und muss die CSU sagen, dass es ihr genügt.

War dieser Ausgang nicht absehbar? Wer unter den EU-Staaten durchzählt, wer für mehr Entgegenkommen und wer für mehr Restriktionen ist, wusste vorher: Die große Mehrheit in der EU möchte es unattraktiver machen, nach Europa zu kommen.

Wie kam es dann zu der Erwartung in Deutschland, der Gipfel werde sich gegen Abgrenzung aussprechen? Emmanuel Macron hatte Unterstützung für Merkel versprochen. Frankreichs Taten sprachen eher für die CSU. Es hat 2017 über 50.000 Migranten an der Grenze zu Italien abgewiesen, sieht darin also offenbar keinen Gegensatz zu einer europäischen Lösung. Österreich und Italien wollen ungern die von Deutschland Abgewiesenen zurücknehmen. Sie verlangen, Europa solle dafür sorgen, dass die Menschen erst gar nicht von Afrika über das Mittelmeer kommen.
Deutschland blieb mit seinem Werben für mehr Solidarität in der Minderheit. Merkel hat eine komplette Wende vollzogen. Die Migrationskrise ist nicht das einzige Beispiel dafür, dass die europäischen Partner deutschen Vorstellungen nicht folgen. Viele EU-Länder wollen die Energiewende nicht kopieren, nicht aus der Atomkraft aussteigen und lehnen die deutschen Gasgeschäfte mit Russland ab; die richten sich gegen Europas Ziel, die Abhängigkeit von Moskau zu verringern.

Sollen sich die anderen eben anpassen

In der Verteidigung propagieren die Deutschen gerne die europäische Armee als Ziel. Ihre nationalen Eigenheiten wollen sie jedoch beibehalten. Am Parlamentsvorbehalt darf sich nichts ändern. Nur, warum sollen Niederländer oder Franzosen integrierte Einheiten mit den Deutschen bilden, wenn sie fürchten müssen, dass sie die nicht einsetzen können, wenn sie es für nötig halten, weil der Bundestag nicht zustimmt? Und woher soll die militärische Ausrüstung kommen, die Europa mehr Unabhängigkeit von den USA verschafft, wenn die Deutschen nicht mehr Geld bereitstellen?

Das ist noch immer die unausgesprochene Erwartung der Deutschen an die europäische Integration: Konvergenz mit unserem Modell als Vorbild. Über kurz oder lang werden alle wie wir. Nicht wir müssen uns ändern und zu Kompromissen bereit sein. Sondern die anderen passen sich an uns an. Uns geht es gut. Die Krisen geschehen anderswo. Wie weit wird Europa damit kommen?

Christoph von Marschall ist erster Helmut-Schmidt-Fellow der ZEIT-Stiftung und des German Marshall Fund of the United States (GMFUS) und arbeitet derzeit in Washington an einer Studie über die Zukunft der Transatlantischen Beziehungen. Am 20. August erscheint sein Buch „Wir verstehen die Welt nicht mehr. Deutschlands Entfremdung von seinen Freunden“, Herder Verlag 2018.

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