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Flüchtlinge aus Nordafrika vor der libyschen Küste kurz vor ihrer Rettung durch die spanische NGO „Proactiva Open Arms“ Ende Juli.

© Santi Palacios/AP/dpa

Flüchtlingspolitik im Wahlkampf: Wie sich die Asylpolitik ändern könnte

Flüchtlingspolitik lasse sich aus dem Wahlkampf nicht heraushalten, sagt die Bundeskanzlerin. Wie ist die Lage und was wird geplant? Ein Überblick.

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Das Thema rangiert weiter auf Platz eins der Sorgen der Deutschen, und wer die Nachrichten aus dem Mittelmeer verfolgt, kann nur zu dem Schluss kommen: Mit Recht. Die Zahl der Flüchtlinge, die in wackeligen Booten ihr Leben für eine erhoffte Zukunft in Europa riskieren, ist zwar weit niedriger als in der großen Flüchtlingswelle von 2015/16. Aber Europa ist immer noch weit davon entfernt, das Problem im Griff zu haben.

So ist es kaum verwunderlich, dass sich auch Angela Merkel gleich am ersten Arbeitstag nach Urlaubsende wieder damit befasst. Der Wahlkampf auf der einen, Hilferufe aus Italien, Griechenland und Spanien auf der anderen Seite – für Deutschland und seine Kanzlerin bleibt die Flüchtlingspolitik eine Herausforderung, auch ohne die Warnungen ihres Herausforderers Martin Schulz vor einem Spiel auf Zeit. „Themen, die wir bearbeiten, werden wir nicht aus dem Wahlkampf heraushalten können und werden wir auch nicht aus dem Wahlkampf heraushalten wollen. Sie müssen besprochen werden“, sagte die CDU-Chefin dazu am Freitag in Berlin.

Wie ist die Lage?

Die Zahl der in Europa und Deutschland ankommenden Flüchtlinge ist nach wie vor hoch, aber doch sehr deutlich unter den Rekorden vom Winter 2015/16. Die Internationale Organisation für Migration (IOM) meldete bis Anfang August knapp 120.000 Neuankömmlinge in Europa. Das sind in etwa halb so viele wie im Vorjahreszeitraum. Fast 97.000 von ihnen landeten von Libyen kommend in Italien: Menschen überwiegend aus Nigeria und Bangladesch, Guinea und der Elfenbeinküste. Griechenland registrierte zur gleichen Zeit etwa 12.000 Menschen. Der Bilanz zufolge starben in diesem Jahr schon mehr als 2.400 Flüchtlinge im Mittelmeer.

Stark gestiegen sind die Zahlen in Spanien: Fast 8.500 Menschen kamen bisher 2017 dort an – 2500 waren es in der ersten Hälfte des vorigen Jahres. Der Anstieg ist offenbar ein Ergebnis des rigoroseren Vorgehens gegen Schlepper vor der libyschen Küste. Aber auch die Gefahren der Sahara- Routen und in Libyen selbst lassen wohl vielen flüchtenden Menschen den westlichen Umweg sicherer erscheinen.

In Deutschland hat sich die Lage im Vergleich zur Zeit vor der Schließung der Balkanroute im März 2016 wieder normalisiert. Nach Angaben des Bundesinnenministeriums reisten im vergangenen Monat 15.069 Asylsuchende nach Deutschland ein. Sie kamen vor allem aus Syrien, dem Irak und Afghanistan. Bis zur Jahresmitte verzeichneten die Behörden etwas über 90000 neue Asylanträge.

Was will Europa nun tun?

Die jüngsten Initiativen kommen aus Rom und aus Paris. Der italienische Ministerpräsident Paolo Gentiloni hat klar gemacht, dass Italien nicht bereit ist, nach der alten schlechten Sitte des Dublin-Verfahrens die in seinen Häfen ankommenden Flüchtlinge nicht nur registrieren, sondern gleich behalten zu müssen. Der neue französische Präsident Emmanuel Macron hat das Thema hoch auf seine Agenda gesetzt und für den 28. August Merkel, Gentiloni und den spanischen Regierungschef Mariano Rajoy zum Vierergipfel nach Versailles geladen.

Macrons Plan ist nicht neu, und er ist ehrgeizig: Er will entweder mit den EU- Partnern oder notfalls auch im Alleingang Registrierzentren im Norden Afrikas aufbauen. In solchen „Hotspots“ könnten Asylanträge vorgeprüft und aussichtslose Bewerber dazu bewogen werden, lieber gleich nach Hause zurückzukehren, als ihr Leben in der Wüste und auf dem Mittelmeer zu riskieren. Macron hat sogar schon angekündigt, dass er dafür Mitarbeiter der Flüchtlingsbehörde Ofpra nach Libyen schicken werde.

Ganz ähnliche Ideen hat Bundesinnenminister Thomas de Maizière schon vor längerer Zeit vorgelegt. Aber der Aufbau solcher Zentren in Libyen setzt ein Mindestmaß an friedlicher Kooperation mit den Konfliktparteien in dem Bürgerkriegsland voraus. Ende Juli lud Macron also Libyens Ministerpräsidenten Fajes al-Sarradsch und seinen größten Konkurrenten, den Milizenchef Chalifa Haftar, zu Gesprächen in der Nähe von Paris. Beide versprachen daraufhin einen Waffenstillstand und Wahlen im nächsten Frühjahr.

Am Tag drauf war Sarradsch in Rom, wo er Regierungschef Gentiloni um Hilfe der italienischen Marine gegen Schleuser schon im Hoheitsgebiet der libyschen Küstengewässer bat. Ein entsprechender Beschluss des italienischen Parlaments, der diesen Einsatz der Marine erlaubt, liegt inzwischen vor. Allerdings berichtete unmittelbar nach dem Parlamentsbeschluss in Rom der arabische Nachrichtensender Al Arabyia, dass Milizenchef Haftar mit der Bombardierung der italienischen Kriegsschiffe gedroht habe.

Hinzu kommt, dass viele Details von Macrons Plan zur Einrichtung der Hotspots noch offen sind. Anfangs hatte es aus dem Elysée-Palast geheißen, dass die Registrierzentren in einer Zone im Süden Libyens, im Nordosten Nigers und im Norden des Tschad eingerichtet werden könnten. Am vergangenen Wochenende erklärte allerdings Frankreichs Innenminister Gérard Collomb in einem Interview, dass Libyen wegen der dortigen Sicherheitslage für die Einrichtung der Hotspots ausscheide.

Welche Rolle spielen Deutschland und seine Kanzlerin Merkel dabei?

Die Bundesregierung verfolgt die französische Initiative schon deshalb mit Sympathie, weil sie Merkels eigenem Ansatz entgegenkommt: Flüchtlinge sollen möglichst gar nicht erst bis Europa kommen, sondern vorher zur Umkehr bewogen werden – oder im Idealfall gar nicht erst ihre Heimat verlassen müssen. Die zentrale Rolle Libyens wird dabei in Berlin wie in Paris gesehen – was auch damit zusammenhängt, dass ein Deutscher, der Diplomat Martin Kobler, im UN-Auftrag dort um Vermittlung zwischen den Parteien bemüht ist, die sich um die Macht im Land streiten.

In Berlin werden die Chancen der Macron-Initiative denn auch positiv gesehen. „In Libyen kommen wir gut voran“, sagt ein Regierungsmann. Wieviel Zweckoptimismus in Wahlkampfzeiten in solchen Aussagen steckt, ist aber schwer zu ermessen. Dass auch bayerische Spitzenpolitiker vom CSU-Chef Horst Seehofer bis zum Spitzenkandidaten für die Bundestagswahl, Joachim Herrmann, neuerdings das von ihnen lange mit Skepsis begleitete Flüchtlingsabkommen mit der Türkei als leuchtendes Vorbild für ähnliche Verträge mit Maghreb-Staaten preisen, lädt ja förmlich zu Misstrauen ein.

Andererseits taugt das Thema für keine Partei außer der AfD wirklich für den Wahlkampf. SPD-Kanzlerkandidat Schulz hat zwar während Merkels Urlaub einen Anlauf genommen – „Wer auf Zeit spielt und versucht, das Thema bis zur Bundestagswahl zu ignorieren, verhält sich zynisch“, hatte er in einem Interview gesagt. Aber es blieb bei dieser einen verdeckten Attacke. Denn die SPD und speziell der damalige Präsident des Europaparlaments haben Merkels frühe Willkommenskultur zu deutlich mitgetragen, als dass sie jetzt mit Aussicht auf Erfolg auf Distanz gehen könnten. Gegen Macrons Vorstoß lässt sich auch wenig sagen – bemüht sich doch Schulz um den Platz als der bessere Partner an der Seite des französischen Überraschungssiegers.

Merkel kommt der Pariser Eifer deshalb erst recht gelegen: Macron flankiert damit sichtbar ihre eigene Politik. Am Freitag hatte sie UN-Flüchtlingshochkommissar Filippo Grandi und den Generaldirektor der Migrationsorganisation IOM, William Lacy Swing, im Kanzleramt zu Gast. Beiden stellte sie bis zu 50 Millionen Euro im laufenden Jahr für ihre Einsätze besonders in den Flüchtlingslagern in Aussicht. „Am Geld darf diese Arbeit nicht scheitern“, sagte Merkel – dass der UNHCR aus Geldmangel die täglichen Rationen in den Lagern für Syrer im Libanon kürzen musste, war einer der wichtigsten Auslöser der Massenflucht in Richtung Europa.

Auch aus einem anderen Grund kann Merkel froh über den Einsatz des neuen französischen Partners sein: Wenn überhaupt in der Frage der Verteilung von Flüchtlingen innerhalb Europas ein Fortschritt möglich ist, dann nur gemeinsam mit Paris. An der Seite von Grandi und Swing zeigte sich Merkel jetzt sogar offen dafür, die Quote von 20000 syrischen Kontingentflüchtlingen zu verdoppeln, die die EU den Vereinten Nationen schon vor Jahren versprochen hatte aufzunehmen. 40000 Menschen seien eine Zahl, die die 500-Millionen-Einwohner-Gemeinschaft sicher verkraften könnte, sagte die Kanzlerin – allerdings unter der Voraussetzung, dass die illegale Zuwanderung gebremst werden könne.

Was kann der Mini-Gipfel Ende August in Versailles leisten?

Die große Lösung wird das Treffen von Merkel, Macron, Gentiloni und Rajoy sicher nicht bringen. Schon allein, weil die Flüchtlingsfrage nur einen Teil der Tagesordnung ausmachen soll – Macron will auch über wirtschaftliche Fragen sowie seine Forderung reden, das Sozialdumping in der EU einzudämmen. Aber der Italiener Gentiloni wird sicher dafür sorgen, dass sein dramatischer Hilferuf an die EU-Partnerländer, speziell Frankreich und Spanien, von vor ein paar Wochen jetzt nicht in Vergessenheit gerät. Mit großem Entgegenkommen Macrons und Rajoys ist aber kaum zu rechnen.

Doch nur mit schönen Worten kann die Runde aber auch nicht auseinander gehen. Alle vier brauchen Zeichen für Fortschritte: Der Italiener und der Spanier angesichts der Flüchtlinge in ihrem Land, der Franzose als treibende Kraft – und Merkel vier Wochen vor der Wahl sowieso.

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