zum Hauptinhalt
Unbegleitete Minderjährige aus Lateinamerika kommen in Rekordzahlen an die US-Grenze.

© dpa

Flüchtlingsdramen an US-Grenze: Joe Bidens Merkel-Moment

Biden versprach einen humaneren Umgang mit Migranten als Trump. Nun kommen unbegleitete Kinder in Rekordzahlen - mehr, als er aufnehmen kann. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Das Gegenteil einer falschen Politik ist nicht automatisch die richtige. Das erfährt die neue US-Regierung unter Joe Biden gerade auf unerbittliche Weise; dabei ist sie noch nicht einmal die berühmten 100 Tage Schonzeit im Amt.

Was sich an der Südgrenze der USA abspielt, entwickelt eine beängstigende Destabilisierungsdynamik. Sie hat das Potenzial, die unbestreitbaren Erfolge Bidens beim Impfen und den Wirtschaftshilden zur Überwindung der Corona-Rezession zu überdecken und ihn für Jahre in die Defensive zu drängen – ähnlich wie das Angela Merkel im Flüchtlingssommer 2015 erging.

Im März hat der US-Grenzschutz 19.000 unbegleitete Minderjährige aus Lateinamerika aufgegriffen, mehr als je zuvor in einem Monat. Zum Teil werden Kinder einfach über die Grenzmauer geschoben und ihrem weiteren Schicksal überlassen.

Mit dem Politikwechsel ist der Notstand gewachsen

Schon zuvor waren die Aufnahmelager voll. Medien verbreiten erneut Bilder und Meldungen vom Umgang der USA mit Kindern, die Scham hervorrufen: verwahrlost, ungewaschen, schlecht versorgt in provisorischen Unterkünften, in denen es nicht einmal genug Liegen gibt. Bis vor kurzem hatte man solche Szenen mit Donald Trump verbunden.

Biden versprach eine andere Politik. Er werde Kinder, die mit ihren Eltern illegal über die Grenze kommen, nicht von ihnen trennen. Diese Abschreckungsstrategie sei inhuman. Er werde Minderjährige auch nicht nach Mexiko zurückschieben.

[Jeden Donnerstag die wichtigsten Entwicklungen aus Amerika direkt ins Postfach – mit dem Newsletter „Washington Weekly“ unserer USA-Korrespondentin Juliane Schäuble. Hier geht es zur kostenlosen Anmeldung]

Doch mit dem Politikwechsel ist der Notstand gewachsen. Nun ist es Bidens Notstand. Die Familien in Lateinamerika, die eine bessere Zukunft für ihre Kinder wollen, fragen nicht, was Bidens Intention war und was er genau gesagt hat. Sie haben gehört, dass er aufnimmt und nicht zurückschickt – dieses kommunikative Missverständnis wirkt ähnlich wie 2015 Merkels Selfie mit einem jungen Syrer.

Biden appelliert: Kommt nicht! Geholfen hat es nicht

Biden hat versucht, die Dynamik mit einem eindringlichen Fernsehauftritt zu wenden: „Bleibt zuhause! Kommt nicht!“ Geholfen hat es nicht.

19.000 Kinder pro Monat: Die Zahl klingt beherrschbar im Vergleich mit den Hunderttausenden Flüchtlingen, die 2015 nach Deutschland drängten, zumal für ein reiches Land wie die USA. Doch die Zahlen steigen rasant, Monat für Monat. Und die Infrastruktur für die Aufnahme so vieler Kinder fehlt. Es wird dauern, sie aufzubauen.

Biden ist jetzt ein doppelt Getriebener. Getrieben von den anklagenden Bildern in den progressiven Medien. Und getrieben von Republikanern, die ihn scheinheilig, aber lustvoll der Doppelmoral anklagen.

Zur Startseite