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Als es noch ging: Katholiken in Syrien feiern das Osterfest.

© dpa

Flüchtlinge und Religion: Wie der Glaube in der Fremde stärkt

Für viele Asylbewerber ist ihre Religion ein wichtiger Identifikationsanker. Auch muslimische Gemeinden leisten derzeit Enormes. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Es geht um Taschengeld und sichere Herkunftsstaaten, Schlepperbanden und Bearbeitungsfristen, Zeltlager und Containerdörfer, kommunale Überforderungen und humanitäre Pflichten. Die Flüchtlingspolitik hat viele Facetten. Eine Dimension aber ist bisher unterbelichtet worden: der Glaube, die Religion. Die Menschen, die nach Deutschland kommen, sind Entwurzelte. Viele sind traumatisiert, haben auf der Flucht Familienangehörige verloren, sie vermissen die Klänge, Gerüche und Gewohnheiten ihrer Heimat. Das neue Land ist ihnen fremd. Sie stehen vor der existenziellen Urfrage: Wer bin ich hier?

In dieser Situation greifen viele auf den einzigen mobilen Identifikationsanker zurück, den es neben der Sprache und der Erinnerung gibt – den religiösen Glauben. Ihre Religion ist die Brücke, die die alte mit der neuen Welt verbindet. Gebete, Riten und Rituale, die in der Gemeinschaft mit Gleichgesinnten praktiziert werden, geben der wankenden Seele Halt. Soziale Netze werden in den Gemeinden geknüpft, Hilfen geleistet. Der Wert des gelebten Glaubens – über dessen intrinsische Qualitäten hinaus – für einen gelingenden Neuanfang in der Fremde lässt sich kaum überbewerten.

Paradoxerweise folge auf die Migration oft eine Hinwendung zur Religion, diagnostizierte vor zehn Jahren bereits der Netzwerkforscher und Soziologe an der Humboldt-Universität, Jan Fuhse („Religion in der Migration – Ein Blick auf das Einwanderungsland Deutschland“). Nachgewiesen worden sei das bei buddhistischen Vietnamesen und hinduistischen Tamilen ebenso wie bei türkischstämmigen Jugendlichen. Migranten müssten sich „ein neues Selbstverständnis entwickeln, sich ihre Identität im Spannungsfeld zwischen der eigenen Herkunft und dem Aufnahmekontext neu definieren“, schreibt Fuhse. Sie hätten „einen besonderen Bedarf an symbolischer Orientierung“. Der Bezug auf Religion erlaube „eine Aufwertung der eigenen Identität“.

Jesiden, Mandäer und Christen werden als Gruppenverfolgte eingestuft

Viele Menschen, die in Deutschland Asyl bekommen, wurden in ihrer Heimat wegen ihrer Religionszugehörigkeit verfolgt. Das gilt für Jesiden und Mandäer aus dem Irak ebenso wie für Christen aus Syrien, dem Irak und Eritrea. Für Flüchtlinge aus diesen drei Ländern gibt es ein beschleunigtes Asylverfahren. Dabei werden Jesiden, Mandäer und Christen als Gruppenverfolgte eingestuft.

Dramatisch ist die Lage für Christen vor allem auch in Eritrea. Nicht nur das christliche Hilfswerk „Open Doors“, Papst Franziskus und die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) prangern regelmäßig die Verfolgung von Christen dort an, sondern auch Amnesty International kommt zu dem Ergebnis, dass die Beschränkung der Religionsfreiheit auf dem afrikanischen Kontinent besonders in Eritrea hervorsticht. Den Anhängern staatlich nicht anerkannter Religionsgemeinschaften – das sind überwiegend evangelikale und charismatische Kirchen sowie Zeugen Jehovas – droht Haft und Folter.

Allen Menschen, besonders allen religiös verfolgten, muss es in Deutschland ermöglicht werden, ihren Glauben frei und ungehindert praktizieren zu können. Das ist ein konstitutiver Teil von pragmatischer Flüchtlings- und Integrationspolitik. Angst vor Abschottung, religiöse Indifferenz oder säkulares Desinteresse dürfen die Förderung gemeindlicher Neuorganisationen nicht behindern.

Gewarnt sei vor der Spirale aus Diskriminierung und religiöser Radikalisierung

Auch muslimische Gemeinden leisten in seelsorgerlicher und integrativer Hinsicht derzeit enorm viel. Das sollte ihre rechtliche Anerkennung beschleunigen. Rund zwei Drittel der Asyl-Erstantragsteller aus dem vergangenen Jahr waren Muslime. Wer die von Christian Wulff angestoßene Diskussion darüber, ob auch der Islam zu Deutschland gehört, nicht immer als gestrig empfand, wird bald selbst von vorgestern sein.

Wer religiös unmusikalisch ist, nimmt leicht an, praktizierter Glaube und Teilnahme am demokratischen Rechtsstaat vertrügen sich nicht. Das ist ein Irrtum. Gewarnt sei allerdings vor der Spirale aus Diskriminierung und religiöser Radikalisierung. Wobei auch hier nie klar ist, was zuerst da war, die Henne oder das Ei.

„Die Religion wird von Migranten als wichtiger Bezugspunkt für ihre Identität benutzt“, schreibt Fuhse. „Wenn dieser Religion staatlich und gesellschaftlich die Anerkennung verweigert wird, verstärkt sich damit auch die soziokulturelle Grenze zwischen einer Migrantengruppe und ihrer Umwelt – es kommt nicht zu weniger Abschottung, sondern zu mehr.“ Man kann es auch anders formulieren: Wer mit Pegida mitläuft, produziert jenen Salafismus, den zu bekämpfen sein Ziel war.

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