zum Hauptinhalt
Ein Camp für Flüchtlinge im türkischen Gaziantep (Archivbild)

© Reuters/Umit Bektas

Flüchtlinge aus Syrien: Deutschland sorgt sich um den EU-Türkei-Deal – wieder einmal

Erdogan droht, Deutschland soll wieder um das Flüchtlingsabkommen fürchten. Doch die neuen Flüchtlinge sind ohnehin nicht die aus Syrien, für die es gilt.

Bundeskanzlerin Angela Merkel wird laut einer Meldung der „Süddeutschen Zeitung“ im kommenden Monat nach Ankara  reisen, um das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei zu retten. Hintergrund sind offenbar eine wachsende Zahl von Flüchtlingen an der türkischen Südgrenze und auf den griechischen Inseln. Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan hatte zudem Europa vor einer neuen Migrationswelle nach Europa gewarnt.

Den Zuzug on etwa 80.000 Menschen, die durch die Bombardements aus der syrischen Provinz Idlib vertrieben worden und auf dem Weg zur türkischen Grenze seien, werde die Türkei „nicht alleine schultern können“, und „alle europäischen Länder, insbesondere Griechenland, werden die negativen Folgen zu spüren bekommen“, so Erdogan. Es werde „unvermeidlich“ zu einer Situation wie vor dem 2016 geschlossenen Pakt mit der EU kommen. Erdogans Regierung führt selbst Krieg in Nordsyrien. Nach UN-Angaben von diesem Freitag sind wegen der Kämpfe in Nordsyrien derzeit 235.000 Menschen auf der Flucht.

Türkei will nicht zum Transitland werden

Der so genannte EU-Türkei-Deal trat im März 2016 in Kraft; ein Enddatum hat sie nicht. Die Türkei verpflichtete sich darin, nicht asylberechtigte Flüchtlinge zurückzunehmen, die über ihr Gebiet nach Griechenland übergesetzt hatten, zudem ihre Grenzkontrollen zu verschärfen und gegen Schlepper vorzugehen. Im Gegenzug versprach Europa Milliardenhilfen, um in der Türkei lebende Geflüchtete besser versorgen zu können. Gegen jeden von der Türkei zurückgenommenen irregulären Geflüchteten sollte zudem eine oder einer nach Europa kommen dürfen.

Aus Sicht der EU war das Abkommen ein Erfolg - die Ankunftszahlen fielen in den ersten Jahren auf ein Zehntel der Jahre um 2015. Erst im vergangenen Jahr wurde die östliche Mittelmeerroute wieder zum wichtigsten Weg Richtung Europa, bis November kamen so etwa 60.0000 Menschen nach Griechenland und Bulgarien. In Deutschland sind zugleich die Erstanträge auf Asyl auch in diesem Jahr wieder gesunken - um etwa 13 Prozent.

Das Abkommen wurde von Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty und Pro Asyl immer wieder kritisiert, weil die Türkei kein sicheres Aufnahmeland sei und die Geflüchteten dort unter prekären Verhältnissen lebten. Es stand aber auch von Anfang an unter der Drohung der Regierung in Ankara, es platzen zu lassen.

Erdogans jüngste Ankündigung einer Fluchtwelle, ausgesprochen zwei Tage vor Heiligabend in Istanbul, ist nur die jüngste von vielen zuvor. Tatsächlich gab es auch Abschiebungen syrischer Flüchtlinge, allerdings bisher Richtung Syrien. Die Regierung Erdogan verfolgte mit ihren Angriffen seit Herbst dort auch das Ziel, eine Pufferzone zur großangelegten Ansiedlung von Geflüchteten im syrischen Nordosten einzurichten.

Vor Wochen - seinerzeit warnte Bundesinnenminister Horst Seehofer vor einer Flüchtlingswelle wie 2014/15 - machte sein türkischer Kollege Süleyman Soylu zudem klar, dass seine Regierung kein Interesse daran habe, die Grenzen für Geflüchtete Richtung Europa zu öffnen: Die Türkei wolle nicht zum Transitland für Wanderungsbewegungen aus Zentralasien, dem Nahen Osten und Afrika werden.

Eine improvisierte Siedlung außerhalb des überfüllten Lagers auf der griechischen Insel Samos
Eine improvisierte Siedlung außerhalb des überfüllten Lagers auf der griechischen Insel Samos

© Lexie Harrington-Cripps/imago

Erdogans „Wasserhahn“ gibt es nicht

Die „Wasserhahn-Theorie“, derzufolge Erdogan den Zustrom von Flüchtlingen nach Belieben drosseln oder freigeben kann - Grund für viel Kritik der europäischen Gegnerinnen und Gegner des Türkei-EU-Deals - widerlegen aber auch die Ergebnisse der Fluchtforschung. Dass Migrantinnen insgesamt und Flüchtlinge im besonderen sich politischen Vorgaben zwar anpassen (müssen), aber dies durchaus ihren Interessen und Möglichkeiten nach, Grenzschutz insofern Grenzen hat, ist eine alte Erkenntnis.

Für die syrischen Flüchtlinge in der Türkei hat sie kürzlich ein Team um Franck Düvell erforscht, den Leiter der Migrationsabteilung am Berliner Deutschen Institut für Integrations- und Migrationsforschung (DeZim). Die Gruppe interviewte Syrerinnen und Syrer, die der Krieg in ihrer Heimat in die Türkei verschlagen hatte, zu ihren Gründen, dort zu bleiben oder zu gehen. Wichtigstes Ergebnis: Nur eine Minderheit will nach Europa. Nur ein Drittel der Interviewten glaubte, dass ihre Lebenslage sich dort verbessern würde, etwa zwei Drittel fühlten sich in der Türkei nicht diskriminiert und deutlich mehr als 90 Prozent hatten den Versuch der Weiterwanderung auch noch nie unternommen.

Und selbst den 15 Prozent, die gern nach Europa kämen, fehlte nach eigenen Aussagen das Geld für die teure Flucht. Auch wenn der Druck steige, die Türkei zu verlassen, weil die jahrelang offene Aufnahmepolitik des Landes inzwischen durch Razzien und Abschiebungen in Frage gestellt sei - fast allen fehlten die Voraussetzungen dafür: „Nach Jahren als Flüchtlinge sind alle Ersparnisse verbraucht“, sagte Düvell dem Tagesspiegel.

Griechenland weist Zehntausende ab

Für die neuen Flüchtlinge des jetzt zu Ende gehenden Jahres gilt der Türkei-Deal, den die Kanzlerin in Ankara angeblich wieder einmal verteidigen muss, ohnehin nicht. 40 Prozent derer, die 2019 auf der Balkanroute kamen und in Griechenland und Bulgarien landeten, stammten aus Afghanistan. Für sie gibt es typischerweise keinen Flüchtlingsschutz in der Türkei und auch keine andere Aufenthaltserlaubnis. Und Europa entledigt sich ihrer ebenfalls rasch - gegen die eigenen und internationale Regeln.

„Illegale Zurückweisungen“, die verbotenen Push-backs an der griechischen und bulgarischen Grenze seien „an der Tagesordnung“, sagte kürzlich die Göttinger Migrationsforscherin Valeria Hänsel dem „Mediendienst Integration“. „Spiegel online“ zitierte türkische Dokumente, denen zufolge allein Griechenland in einem Jahr, zwischen November 2018 und November 2019, fast 60.000 Menschen an seinen Grenzen zurückwies: Die meisten waren Pakistaner (16.435), gefolgt von Menschen aus Afghanistan, Somalia, Bangladesch und Algerien. Nur ein vergleichsweise geringer Teil, 4.500 Menschen, waren syrische Staatsangehörige.

Weil die EU-Länder sich nicht über die Verteilung Geflüchteter einigen, sitzen auf den griechischen Inseln derzeit schätzungsweise mehr als 40.000 Geflüchtete fest, teils seit Jahren. Die meisten, sehr viele von ihnen Kinder, leben in überfüllten Lagern, unter katastrophalen hygienischen Bedingungen und ohne ausreichenden Wetterschutz

Zur Startseite