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Große Beteiligung bei der Beerdigung der getöteten Demonstrantin Kyal Sin.

© REUTERS /Stringer

Findet gerade ein „ostasiatischer Frühling“ statt?: Myanmar lernt von der Demokratiebewegung in Hongkong

Nach dem Putsch in Myanmar verschaffen sich die Menschen auf kreativem Weg Gehör. Doch die Junta antwortet mit Brutalität – auf der Straße wie im Internet.

Wenige Augenblicke vor ihrem Tod kauert die 19-jährige Kyal Sin auf dem Boden. „Wir werden nicht wegrennen“, ruft sie in einem Video, das in den sozialen Medien kursiert. „Das Blut unserer Leute soll den Boden nicht erreichen.“

Nur wenige Momente später ist es ausgerechnet ihr Blut, das auf die Straßen von Mandalay tropft. Eine Kugel des Militärs trifft Kyal Sin am 3. März in den Kopf. Auf ihrem T-Shirt steht „Everything will be OK“ - „Alles wird gut“.

Eineinhalb Monate nach dem Putsch, bei dem das Militär mitten in der Nacht ausrückte und amtierende Politiker festnahm, Regierungschefin Aung San Suu Kyi entmachtete und somit de facto die Macht ergriff, ist wenig „gut“: Seitdem befindet sich das Land im Ausnahmezustand.

Pro-demokratische Proteste und Streiks halten seit dem 1. Februar an, ebenso die Gewalt, mit der das Militär auf sie reagiert. Der Hilfsorganisation für politische Gefangene zufolge sind bisher 126 Menschen ums Leben gekommen, mindestens 1800 sind inhaftiert.

Das Militär riegelt Nachbarschaften ab und schießt mit scharfer Munition. In mehreren Teilen des Landes verhängt die Junta wenige Tag nach ihrer Übernahme das Kriegsrecht. Am Sonntagabend weitet sie es auf zwei Stadtteile der größten Stadt Yangon aus.

Bunter Protest: Straßenblockaden aus Frauenkleidung

Auf die Brutalität der Militärjunta antworten die Menschen mit entschiedenem Protest und mitunter kreativen Strategien. Die ermordete Frau mit dem „Everything will be OK“-Shirt ist mittlerweile zur Symbolfigur geworden: Zeichnungen, Fotos und Videos kursieren von ihr in den sozialen Medien, Tausende Aktivisten kamen zu ihrer Beerdigung. 

Kyal Sin ist zu Boden gestürzt. Noch am selben Tag wurde sie vom Militär in Myanmar erschossen.
Kyal Sin ist zu Boden gestürzt. Noch am selben Tag wurde sie vom Militär in Myanmar erschossen.

© REUTERS/Stringer

Auf den Straßen ist der Protest – mag er noch so brutal erwidert werden – einfallsreich und bunt. Um zu verhindern, dass die Polizei Straßensperren der Demonstranten durchquert, hängen sie traditionelle Frauenkleidung auf einer Wäscheleine über die blockierten Straßen. Ein Aberglaube im Land besagt, dass der sein Glück verliert, wer darunter entlangläuft. 

Jason Franz arbeitet am Heidelberger Institut für Internationale Konfliktforschung und beobachtet die Proteste. Er sieht eine „breite Protestbewegung, die unterschiedlichste Klassen und Berufsgruppen einschließt“.

Lehrer, Krankenhauspersonal und große Teile der Beamtenschaft hätten sich den Streiks bereits angeschlossen, solidarische Nachbarschaften und Gemeinden hätten den Wegfall staatlicher Strukturen bislang aufgefangen und den von der Junta installierten Regionalräten teilweise eigene Ersatz-Institutionen gegründet.

Berichten zufolge laufen kommunale Verwaltungsbeamte und Polizisten zu den Demonstranten über und stellen sich der Junta entgegen. Die Demonstranten hätten großen Rückhalt in der Bevölkerung, sagt Franz. Ihre größte Hoffnung angesichts der Übermacht des Staates: „Die Sicherheitskräfte zum Überlaufen bringen.“ Bislang sei das aber nur für Teile der Polizei berichtet worden.

Parallelen zu Hong Kong und Thailand

Vieles von dem, was sichtbar ist, erinnert an die Proteste in Hongkong und die junge Demokratiebewegung in Thailand, die gegen die Gängelung der Opposition auf die Straße geht: Protestformen wie Flashmobs, spontane und dezentral organisierte Versammlungen, aber auch Symbole wie Regenschirme sind in allen drei Ländern zu beobachten. Gelbe Bauhelme und Skibrillen gegen Tränengas gehören ebenso zum Protest-Repertoire der Aktivisten aus der Sonderverwaltungszone Hongkong.

Eine Frau zeigt während der Beerdigung der Demonstrantin Kyal Sin weinend den Drei-Finger-Gruß, ein Symbol des Widerstands.
Eine Frau zeigt während der Beerdigung der Demonstrantin Kyal Sin weinend den Drei-Finger-Gruß, ein Symbol des Widerstands.

© Str/AP/dpa

Sie protestierten seit Sommer 2019 gegen einen Gesetzesentwurf, der unter anderem die Auslieferung von Gefangenen an die Volksrepublik China ermöglicht hätte. Die Aktivist:innen befürchteten, dass Peking so immer stärker Einfluss auf Hongkongs liberales und unabhängiges Rechtssystem hätte nehmen können – und übten durch ihre Proteste so großen Druck aus, dass das Vorhaben im Oktober 2019 zurückgezogen wurde.

Die Proteste flammten im Sommer 2020 wieder auf, als China das sogenannte Sicherheitsgesetz verabschiedete, das die Festnahme Dutzender Politiker:innen und Demokratieaktivist:innen zur Folge hatte.

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Die Parallelen zwischen Hongkongs pro-demokratischer Bewegung und den Protesten in Myanmar sind kein Zufall. „Protesthandbücher aus Hongkong zirkulieren auf burmesisch“, sagt Konfliktforscher Franz. Und aus Thailand haben die Demonstranten längst den sogenannten Dreifingergruß übernommen – eine Geste, bei der drei Finger in die Luft gestreckt werden und die thailändischen Demonstranten bei pro-demokratischen Protesten beliebt gemacht haben.

Aktivist:innen bilden eine Straßenbarrikade in Causeway Bay, Hongkong am 11. November 2019.
Aktivist:innen bilden eine Straßenbarrikade in Causeway Bay, Hongkong am 11. November 2019.

© REUTERS/Thomas Peter

Ursprünglich stammt sie aus dem Film „Die Tribute von Panem“. Ende Februar erreichte der Dreifingergruß sogar die UN-Generalversammlung: Der Repräsentant aus Myanmar beendete seine Rede mit drei in die Höhe gestreckten Fingern.

Findet gerade ein „ostasiatischer Frühling“ statt?

Hongkong, Thailand und jetzt Myanmar: In Ostasien häufen sich die Proteste, manche sprechen sogar von einem „ostasiatischen Frühling“, zumindest kursiert der Hashtag #EastAsianSpring in den sozialen Medien. Er mag zum jetzigen Zeitpunkt eher Ausdruck einer Hoffnung sein.

Dennoch sei die zeitliche Nähe der Proteste in Hongkong, Thailand, Indonesien, auf den Philippinen und jetzt in Myanmar kein Zufall. „Diese Protestwelle lässt sich auch als Reaktion auf die vorangegangene Autokratisierungswelle in der Region verstehen“, sagt Franz.

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Die Regime würden dabei „in vielen Fällen nach demselben autokratischen Handbuch“ agieren, erklärt der Experte weiter. Auf der Seite der Machthaber sei in den vergangenen Jahren „Korruption auf höchster Ebene mit zunehmender Unverfrorenheit und Gleichgültigkeit“ in Erscheinung getreten, zugleich verschärfen sich sozioökonomische Konflikte in den Ländern.

Diese hätten auch eine transnationale Dimension. So protestierten jüngst etwa myanmarische Migrantenarbeiterinnen gemeinsam mit thailändischen Protestierenden vor der Botschaft Myanmars in Bangkok.

„Die Demonstranten in Myanmar müssen vorsichtiger sein.“

Trotz aller Anleihen, Überschneidungen und Solidaritätsbekundungen gibt aber auch es Unterschiede. Einerseits, erklärt Franz, sei die Bewegung in Myanmar breiter als etwa in Hongkong, wo sie vor allem von Studierenden vorangetrieben werde.

Andererseits „konnten sich die Protestler in Hongkong generell darauf verlassen, dass ihre Gegner nicht scharf schießen“. Das sei in Myanmar nicht der Fall, schließlich geht die Junta seit Anfang März mit tödlicher Gewalt gegen die Aktivisten vor. „Die Demonstranten dort müssen vorsichtiger sein.“

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Die Demokratiebewegung Myanmars nutzt deshalb soziale Medien wie Facebook und seit Kurzem auch Twitter, sowie Messengerdienste wie Whatsapp und Signal, um international auf sich aufmerksam zu machen. Demonstranten laden Szenen von Polizeigewalt und brutalen Festnahmen auf den Plattformen hoch:

Auf einem Video kniet eine Nonne vor bewaffneten Polizisten nieder, bittet sie, Aktivisten zu verschonen, denen sie Schutz geboten hat, bietet an, die Polizisten sollen auf sie schießen statt auf die Jugendlichen. Zwei der Polizisten gehen daraufhin vor ihr in die Knie. „Ich war verzweifelt“, sagte einer später dem britischen Nachrichtensender BBC.

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Kurze Zeit später eröffnen die Beamten trotzdem das Feuer, ein junger Demonstrant kam ums Leben. Solche Videos, oder Szenen von Klatschprotesten, wie etwa in einer Nähfabrik in der Stadt Yangon, verbreiten sich schnell via Twitter. 

Die Strategie zeigt bereits Wirkung: Kurz nach Beginn der Proteste Anfang Februar solidarisierten sich Netzaktivist:innen aus Hongkong unter dem Hashtag „#MilkTeaAlliance“ mit der Bewegung in Myanmar. Der war eigentlich im Frühjahr 2020 entstanden, als Antwort auf die rasant wachsende Zahl chinesischer Internet-Trolls, hatte sich zu einer pan-asiatischen Online-Protestbewegung über die Grenzen Hongkongs, Thailands und Taiwans hinweg entwickelt.

Was alle drei Länder gemeinsam haben, ist die Leidenschaft für Grüntee mit Milch – in Deutschland auch als Bubble Tea bekannt. Jetzt wurde auch Myanmars Online-Protestgemeinde in die Allianz aufgenommen. 

Zensur und Repression: Wie die Militärjunta das Internet drosselt

Doch so symbolisch bedeutend dieser Akt der überregionalen Solidarität auch sei – man sollte ihn nicht überbewerten, sagt Konfliktforscher Franz. Die Milk Tea Alliance sei „primär ein Online-Zusammenschluss“. Viel entscheidender als die Proteste seien Franz zufolge in Myanmar die umfassenden und ausdauernden Streiks, auch wenn diese als „Nichthandeln“ weniger mediale Aufmerksamkeit auf sich zögen.

Das Internet könne in Myanmar nicht so sehr Grundlage der Protestorganisation sein wie in Hongkong, wo die Abschaltung des Internets nie eine Option wäre. In Myanmar hingegen kann das Regime es hingegen einfach abstellen.

So geschah es bereits in der Nacht des Putsches. Seit Mitte Februar unterbricht die Junta seit 28 Nächten in Folge die Internetverbindung im Land. Das zeigen Daten der beiden Internet-Watchdogs „Netblocks“ und „Open Observatory of Network Interference“ (OONI) übereinstimmend.

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In Hongkong wäre das wohl nicht ohne weiteres möglich: Würde die dortige Regierung das Internet breitflächig zensieren, stünde seine Rolle als internationales Finanzzentrum und Tech-Standort auf dem Spiel. 

Myanmars Militärjunta hingegen schuf schnell nach dem Putsch die technischen und rechtlichen Grundlagen für die Internetzensur: Sie forderte Internetprovider in Myanmar auf, Facebook, Twitter und Instagram zu blocken. Und die kamen dem nach – was seitdem eine Migration der Aktivist:innen von Plattform zu Plattform bewirkt.

Doch die Seiten sind offenbar nicht durchgängig geblockt, wie OONI-Daten zeigen. An einigen Tagen –wie am 24. und 25. Februar – waren die Dienste Whatsapp und Facebook teilweise erreichbar. Auch die Enzyklopädie Wikipedia und zahlreiche Nachrichtenseiten sind von Blockierung betroffen.

Gesetz stellt „Falschinformationen“ unter Strafe

Außerdem erweiterte die Führung zwei Wochen nach ihrer Machtübernahme das myanmarische „Electronic Transactions Law“ und stellte die Verbreitung von „Falschinformationen“ im Internet unter Strafe. Bis zu drei Jahre Gefängnis können die Folge sein.

Protest und unliebsame Meinungen auf diese Art zu unterdrücken, ist nicht neu: Seit der Massenproteste in Russland im Jahr 2012 schränkte Präsident Wladimir Putin die Meinungsfreiheit im Internet mit einer Reihe von Gesetzen zunehmend ein. Ägyptens Präsident Abd al-Fattah al-Sissi hatte ein ähnliches Gesetz wie in Myanmar 2018 genehmigt. Die Türkei verschärfte erst im Sommer 2020 die Kontrolle sozialer Medien.

„Wir steuern in ein dunkles Zeitalter zurück“, sagte Zayar Hlaing, der Chefredakteur des ersten unabhängigen Investigativmagazins in Myanmar, „Mawkun“, zu der Gesetzeserweiterung. Denn, was Falschinformationen sind und was die Wahrheit, sei ab jetzt Auslegung des Regimes.

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Umso wichtiger ist für den Erfolg der Demokratiebewegung, dass der Widerstand analog in den einzelnen Nachbarschaften vernetzt ist. „Die Bevölkerung steht füreinander ein, Nachbarn verhindern Verhaftungen, organisieren sich - das ist beeindruckend“, sagt Konfliktforscher Franz.

„Der breite zivile Ungehorsam der Bevölkerung nach dem Putsch ist Anlass zu neuer Hoffnung für die Demokratisierung Myanmars - trotz der gewaltigen Probleme, die noch überwunden werden müssen. Gerade auch mit Blick auf die Minderheitenkonflikte des Landes.“ Die Demokratisierung erfolge „von unten und nicht mehr unter der Vormundschaft des Militärs von oben.“

Doch die Erfahrung zeigt: Wie bei vielen anderen Demokratie-Protesten auf der Welt könnte die Bewegung bis zur Bedeutungslosigkeit unterdrückt werden. Ob „alles gut“ wird, wird sich also erst noch zeigen müssen.

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