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Ein Junge trägt einen Mundschutz und hält eine Plastiktüte als er zwischen Trümmern in einem beschädigten Bereich im Flüchtlingslager Moria geht

© Eurokinissi/Eurokinissi via ZUMA Wire/dpa

Feuer im Flüchtlingslager Moria: Nehmt sie auf – die Kapazitäten sind vorhanden!

Nach dem Feuer in Moria ist Helfen das Gebot der Stunde. Angst vor einer Wiederbelebung fremdenfeindlicher Kräfte wie 2015 muss keiner haben. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Schreie der Ohnmacht sollen zu hören gewesen sein, als Tausende vor den Flammen flohen, die das überfüllte Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos verwüsteten. Solche Schreie gehen unter die Haut, dringen ins Mark. Jetzt sind die Menschen obdachlos, ohne Hab und Gut, geblieben ist ihnen buchstäblich ihre nackte Existenz.

Jeder Appell an Europas Verantwortliche, das Drama schnell und pragmatisch zu beenden, sollte an sich unnötig sein. Doch weil bei ihnen offenbar der moralische Kompass klemmt, muss das Selbstverständliche betont werden: Nehmt sie auf, verteilt sie, versorgt sie medizinisch, gebt ihnen faire Asylverfahren!

Die Kapazitäten sind vorhanden. Die Bundesregierung hat in ihrem Koalitionsvertrag eine jährliche Obergrenze von 180.000 bis 220.000 Flüchtlingen vereinbart. Doch wegen der Corona-Pandemie sind die Zahlen in diesem Jahr stark zurückgegangen. Zwischen Januar und August wurden rund 75.000 Asylanträge gestellt.

Der Vergleich mit der Lage im Herbst 2015 verfehlt also die Realität. Angst vor einer Wiederbelebung fremdenfeindlicher Kräfte muss keiner haben. „Ich muss ganz ehrlich sagen“, hatte Angela Merkel damals gesagt, „wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land.“ Sie muss zu diesem Wort stehen, auch heute.

Das Feuer hat nicht viel übrig gelassen von dem Flüchtlingslager, das ein einziger Skandal war. Was jetzt aus den Bewohnern werden soll, ist unklar.
Das Feuer hat nicht viel übrig gelassen von dem Flüchtlingslager, das ein einziger Skandal war. Was jetzt aus den Bewohnern werden soll, ist unklar.

© Petros Giannakouris/AP/dpa

Doch zu den Schreien der Ohnmacht gesellen sich Schreie über die Ohnmacht. Jeder wusste, dass Moria irgendwann explodieren würde. Zeitungen hatten über die elendigen Bedingungen dort berichtet, Fernsehanstalten Beiträge gesendet, Politiker das Camp besucht. Nichts geschah. Dann kam Covid-19 hinzu, gefolgt von einer Quarantäne. So schlitterten sehenden Auges alle in diese Katastrophe. Aber wer sind „alle“? Wer genau ist verantwortlich? Syrien, Griechenland, Deutschland, die Türkei, die Europäische Union? Oder Bundesinnenminister Horst Seehofer, der den Ländern humanitäre Hilfe untersagt hatte?

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Es kennzeichnet die Krisen unserer Zeit, dass das Scheinwerferlicht, das die Schuldigen ausleuchten soll, oft in einer Nebelwand diffundiert. Das Jahrhundert begann mit den Terroranschlägen vom 11. September 2001, setzte sich fort mit der Klimakrise, der weltweiten Finanzkrise, den Flüchtlingsbewegungen, der Coronakrise. Der Schrecken verbreitete sich jeweils schneller als der Wille, ihn mit vereinten Kräften zu bekämpfen. Unbeholfen hinkt die Menschheit den Folgen der Globalisierung hinterher.

Das aber darf keine Ausrede für fortgesetztes Nichtstun sein. Ob die Europäische Union in ihrem Kern eine Wertegemeinschaft ist, erweist sich auch und besonders an ihrer Asyl-, Flüchtlings- und Migrationspolitik. Die wiederum darf sich weder in technischen Details erschöpfen – Sprachkurse, Jobs, Wohnungen – noch in durchaus berechtigten Klagen über Solidaritätsverweigerer wie Ungarn, Polen und die Tschechische Republik.

Bundeskanzlerin Angela Merkel – Deutschland hat derzeit die EU-Ratspräsidentschaft inne – und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen müssen rasch eine Koalition der Willigen schmieden, die bereit ist, die Menschen aus den griechischen Lagern zu holen. Gewiss: Damit ist noch keine langfristige Strategie verbunden, es ist ein Gebot der Humanität. Wer es aber verletzt, hat Schreie der Ohnmacht nie gehört.

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