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Sucht den Exit: Christian Lindner will über eine Lockerung des Kontaktverbots reden.

© REUTERS/Annegret Hilse

FDP-Chef Lindner pocht auf Exit-Strategie: „Wir wollen keine 100 Tage Kontaktsperre erleben“

FDP-Chef Christian Lindner im Interview über Kontaktverbot, die Angst vor der Pleite und die Rückkehr zur Normalität.

Herr Lindner, seit zehn Tagen gilt in Deutschland ein allgemeines Kontaktverbot. Wie lange hält das Land den Stillstand aus?
Der Stillstand ist kein Selbstzweck, sondern dient dem Gesundheitsschutz. Das Land muss ihn so lange aushalten, wie es keine verantwortbare Alternative gibt.

Obwohl es bislang keine verlässlichen Prognosen über den weiteren Verlauf der Pandemie gibt, fordern Sie jetzt schon eine Debatte über das Ende des Ausnahmezustands. Ist das nicht unseriös?
Im Gegenteil ist es notwendig, über die Maßnahmen zu sprechen, die wir für eine schrittweise Öffnung brauchen. Bis zur Verfügbarkeit eines Impfstoffs werden wir nicht warten können. Mich muss niemand von der Notwendigkeit der Kontaktsperren überzeugen. Ich habe bereits vor den ersten Schulschließungen im Bundestag gefordert, das öffentliche Leben im Land kontrolliert herunterzufahren.

Aber genauso ist die Aufgabe einer liberalen Oppositionspartei, die Regierung zu hinterfragen: Wird wirklich alles unternommen, um das Leben so schnell wie möglich zu normalisieren? Sind alternative Strategien verfügbar? Der aktuelle Zustand darf keine Minute länger dauern als nötig. Und das ist nicht einmal eine Frage der Wirtschaft, sondern der bürgerlichen Freiheitsrechte des Grundgesetzes.

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Wann sollte die Regierung damit beginnen, die Maßnahmen zu lockern?
Darauf mit einem Datum zu antworten, das wäre in der Tat unseriös. Wir müssen an den Voraussetzungen arbeiten. Flächendeckende, schnelle und massenhafte Tests auf Virus und Antikörper, eine vertrauenswürdige Smartphone-App zur Identifikation von Infektionsketten, ausreichend Desinfektionsmittel und Atemschutzmasken sowie ausreichend intensivmedizinische Versorgung und Personal in den Gesundheitsbehörden. Danach wird man die Einschränkungen regional oder für einzelne Gruppen lockern können.

Wie soll das konkret ablaufen?
Auf Events mit großem Publikum werden wir noch länger warten müssen, prognostiziere ich. Aber Schulen, Handel und produzierendes Gewerbe werden irgendwann wieder hochgefahren werden müssen. Danach die Gastronomie, vielleicht mit größeren Abständen zwischen den Tischen und Servicekräften, die Schutzmaske tragen. Pflegeeinrichtungen werden wir länger schützen müssen. Wie man die Lockerungen genau ausgestaltet, das werden Experten und Fachbehörden erarbeiten müssen. Wir sollten uns die Ergebnisse in Staaten wie Südkorea oder Schweden genau anschauen und uns fragen: Was können wir lernen, welche Fehler müssen wir vermeiden? Die Kommunikation der Bundesregierung in dieser Frage bedaure ich.

Inwiefern?
Niemand weiß genau, was die Bundesregierung vorhat. Der Kanzleramtsminister sagt nebenbei auf einer Online-Plattform, jüngere Menschen könnten eher eine Normalisierung erwarten. Die Bundeskanzlerin sammelt diese Bemerkung dann wieder ein. Ich sehe es so: Wenn wir die Akzeptanz der Bevölkerung für die vielen Einschränkungen aufrechterhalten wollen, müssen wir Perspektiven eröffnen. Die Menschen wären sicher auch bereit, die Maßnahmen länger zu erdulden, wenn sie wissen, dass die Regierung alles tut, um möglichst bald wieder zur Normalität zurückzukehren.

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Haben Sie Angst, dass die Stimmung kippt und die Bürger bald nichts mehr von Kontaktsperren oder Reiseeinschränkungen wissen wollen?
Ja, das habe ich. Wir sind am Tag zehn der Kontaktsperre. Wir wollen keine 100 Tage Kontaktsperre erleben, weil Alleinsein gegen die Natur des Menschen ist. Ich erhalte zurzeit viele Zuschriften von Menschen, die um ihre wirtschaftliche Existenz fürchten. Viele haben genauso viel Angst vor der Pleite wie vor dem Virus. Der Schutz von Menschenleben hat Priorität, aber es gibt einen Punkt, ab dem wirtschaftliche Existenzangst oder Arbeitslosigkeit sich auch auf die Gesundheit auswirken.

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Tut die Bundesregierung genug, um die Menschen in Deutschland vor einem Verlust ihrer wirtschaftlichen Existenz zu bewahren?
Auf Dauer kann der Staat ausbleibende Wertschöpfung nicht kompensieren. Es sind Sicherheitsnetze für den Moment, die aber noch wirksamer werden können. Die Soforthilfe für Betriebe mit bis zu zehn Beschäftigte ist zu eng kalkuliert. Wir brauchen für Betriebe mit bis zu 50 Angestellten Soforthilfen in Höhe von 25.000 Euro. Außerdem helfen die KfW-Kredite nicht in der Breite, weil sie nicht alle erreichen und die Administration überlastet wird. Wir wollen deshalb die Finanzämter bitten, mit einzugreifen – mit einer sofortigen Steuererstattung für alle, deren Umsatz einbricht. Wir fordern eine Art negative Gewinnsteuer: dass man drohende Verluste vorausschauend mit den Finanzamt abrechnen kann, um Selbständige jetzt vor der Zahlungsunfähigkeit zu bewahren.

Sie haben einmal gesagt, die Politik sollte komplexe wissenschaftliche Fragen „den Profis“ überlassen. Derzeit haben Experten wie Virologen und andere Mediziner einen beispiellosen Einfluss auf die Entscheidungen der Politik. Ist das jetzt gut oder schlecht?
Tatsächlich ging es mir damals darum, dass die Politik wie beim Klimaschutz Ziele vorgeben sollte, wir bei der Umsetzung aber auf den Erfindergeist und den Ideenwettbewerb vieler Ingenieure und Techniker vertrauen sollten. Es war ein Plädoyer gegen Planwirtschaft und die Anmaßung von Wissen. Momentan haben wir eine andere Lage. Wir müssen auf die Einschätzungen von wenigen vertrauen. Allerdings widersprechen sich die Virologen bisweilen und wir haben auch schon manchen U-Turn in ihren Einschätzungen gesehen. Das sollte uns die Demut lehren, dass es letzte Wahrheiten nicht gibt. Wenn sich die Experten selbst korrigieren, dann muss man auch politisch dazu bereit sein.

Christian Lindner (41) ist seit Ende 2013 Bundesvorsitzende der FDP. 2017 wurde er zum zweiten Mal in den Deutschen Bundestag gewählt, wo er seither der FDP-Fraktion vorsteht.

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