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Israelis genießen ihre neuen Freiheiten wie hier am Strand.

© Amir Cohen/REUTERS

Fast 60 Prozent der Bevölkerung zweimal geimpft: Israel nähert sich der ersehnten Herdenimmunität

Kein Lockdown, keine Maske – dafür volle Bars und entspannte Atmosphäre: Israels rasante Impfkampagne ist von Erfolg gekrönt.

Wer derzeit an einem beliebigen Abend durch die Straßen Tel Avivs streicht, kann leicht vergessen, dass die Partymetropole noch vor wenigen Monaten einer Geisterstadt glich.

Die Bars auf der Dizengoffstraße, einer Shopping- und Ausgehmeile nahe dem Strand, sind zum Bersten gefüllt. Dicht an dicht sitzen die meist jungen und luftig bekleideten Menschen – tagsüber klettern die Temperaturen schon über 30 Grad. Selbst unter der Woche bleibt selten ein Stuhl leer.

Die noch vor Kurzem so allgegenwärtigen Masken sind so gut wie verschwunden. Seit einigen Tagen dürfen Israelis im Freien auf den Mundschutz verzichten. Doch auch in geschlossenen Räumen, wo er weiter vorgeschrieben ist, lassen immer mehr Menschen ihn locker unterm Kinn baumeln oder gleich in der Hosentasche stecken.

Die Atmosphäre ist gelöst, euphorisch gar: Das Virus scheint besiegt. Am Donnerstag wurden in Israel keine neuen Todesfälle im Zusammenhang mit Covid-19 gemeldet, teilte das Gesundheitsministerium laut einem Bericht der „Times of Israel“ mit.

Das Leben kehrt zurück

Dass Israelis ins Leben zurückkehren, während Millionen Europäer seit Monaten im Lockdown verharren, verdanken sie einer beeindruckend effektiven Impfkampagne. Fast 60 Prozent der Bevölkerung haben bereits zwei Dosen des Pfizer/Biontech-Impfstoffs erhalten, den das Land überwiegend einsetzt. Infolgedessen sind die Zahlen der täglich Neuinfizierten sowie der Schwerkranken drastisch gesunken, obwohl fast alle Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen aufgehoben sind.

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Anfang Februar endete der dritte und vorerst letzte Lockdown in dem Land. Im März durften Cafés, Bars, Kultur- und Sportstätten wieder öffnen. Geimpfte sowie jene, die eine Covid-19-Erkrankung hinter sich haben und damit als immun gelten, erhalten vom Gesundheitsministerium den sogenannten Grünen Pass, ein digitales Dokument, das seinen Trägern Zugang zu etlichen Einrichtungen und Veranstaltungen gewährt, darunter Kinos und Konzerte, Fitnessstudios und Schwimmbäder.

Regelbetrieb in Schulen

Auch die Schulen sind zum Regelbetrieb zurückgekehrt. Und zum israelischen Unabhängigkeitstag Mitte April drängten sich Tausende Menschen auf den Straßen Tel Avivs, um sich das traditionelle Feuerwerk anzuschauen. Nichts davon scheint sich auf die Entwicklung der Infektionszahlen auszuwirken: Sie fallen weiter, von ihrem Rekordhoch von mehr als 10000 neuen Fällen täglich im Januar bis auf zuletzt zwischen 100 und 300.

„Israels 73. Unabhängigkeitstag markiert auch seinen Exit von Covid-19“, schrieb kürzlich Eran Segal auf Twitter, ein Experte für Genetik und maschinelles Lernen am renommierten Weizmann-Institut, der sich seit Ausbruch der Pandemie mit seinen Analysen von Covid-Daten einen Namen gemacht hat. Dazu veröffentlichte er eine Grafik, die zeigt: Seit Januar fiel die Zahl der schweren Covid-19-bedingten Krankheitsverläufe in Israel um 93 Prozent.

Virus auf dem Rückzug

Einige Experten, darunter auch Segal, rechnen damit, dass Israel sich der ersehnten Herdenimmunität nähert, jenem Zustand, bei dem so viele Menschen gegen das Virus immunisiert sind, dass es nicht mehr genügend Wirte findet, um sich auszubreiten. „Meiner Meinung nach nähern wir uns dem Status der Herdenimmunität“, sagte kürzlich der Mediziner Cyrille Cohen, Leiter des Labors für Immuntherapie an der Bar-Ilan-Universität bei Tel Aviv, der Zeitung „Jerusalem Post“.

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Schließlich liege der sogenannte R-Wert, der angibt, wie viele Menschen ein an Covid-19-Erkrankter durchschnittlich ansteckt, zwischen 0,7 und 0,8, das Virus sei also im Rückzug begriffen – trotz der weitreichenden Öffnungen und der Menschenansammlungen der vergangenen Monate.

Impfkampagne für Kinder

Im Mai könnte Israel seine Impfkampagne zudem auf Kinder zwischen zwölf und 16 Jahren ausweiten. Man warte nur noch auf die Zulassung der US-Behörden, sagte Hezi Levi, der Direktor des Gesundheitsministeriums. Vor wenigen Tagen verkündete Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu zudem eine neue Abmachung mit Pfizer über die Lieferung von „Millionen“ zusätzlicher Impfdosen.

„Das heißt, wir werden bald mehr als genug Vakzine für Erwachsene und Kinder haben“, sagte er. „Israel wird erneut die Welt im Kampf gegen das Coronavirus anführen.“

Die Beziehungen zwischen dem Pharmahersteller und Israels Regierung laufen allerdings nicht immer reibungslos. Kurz zuvor hatte Pfizer die Zusendung von 700.000 Impfdosen kurzzeitig gestoppt – weil Israel die Lieferung zuvor nicht zum vereinbarten Zeitpunkt bezahlt hatte. Offenbar war die Verzögerung wegen politischer Streitigkeiten um Budgetfragen zustande gekommen. Bei Pfizer könne man nicht verstehen, berichtete die „Jerusalem Post“, wie „eine solche Situation in einem organisierten Land auftreten kann“.

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