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In Budapests Parlament wurde lange über das Notstandsgesetz debattiert.

© imago/Schöning

Familie Europa: Das große Versprechen und sein Scheitern

Unsere Autorin jubelte 2004 über den EU-Beitritt Ungarns. Der Zusammenhalt in ihrer ungarisch-deutschen Familie wuchs, der europäische ging verloren. Ein Essay.

Ein Essay von Judith Langowski

Es war die Nacht zum 1. Mai 2004. Wir standen in Budapest an der Donau. Das Parlament leuchtete vom gegenüberliegenden Ufer in unsere glücklichen Gesichter. Ungarn war endlich Mitglied der Europäischen Union, und wir waren uns sicher, dass wir ab jetzt alle gleich sein sollten in Europa: Meine ungarische Mutter, mein deutscher Vater und wir, die beiden Kinder, die in Frankreich geboren worden waren.

Das Grenzüberschreitende, das für unsere Familie im Kleinen galt, war Schlag Mitternacht politische Realität für Menschen in Tschechien, Slowenien, Malta, Lettland, Estland, Polen, Slowakei, Zypern und Litauen. 15 Jahre später ist meine verstreute Familie enger zusammengerückt, während Ungarn und seine europäische Familie entfremdeter denn je sind.

Wir Bürgerinnen und Bürger der neuen EU-Länder erinnern uns noch heute genau daran, wie wir an jenem Tag fühlten, wo wir waren, und was wir gemacht haben. Besonders für die Generation derjenigen, die um die Wende herum auf die Welt kamen, ist der 1. Mai 2004 vielleicht noch bedeutender als der 9. November 1989. Denn der Tag brachte neue Freiheiten für uns „Millennials“, die zwar den realexistierenden Sozialismus nie erlebt hatten, dafür aber die Dynamiken des Turbokapitalismus der Neunziger.

Es gab damals kritische Stimmen, die befürchteten, dass Ungarn als junge Demokratie wieder seine Unabhängigkeit verlieren könnte. Für mich aber dominierte das Glücksgefühl. Wie bei einem Volksfest verkauften Händler am Donauufer blinkende Armbänder, Haarreifen und bunte Brillen. Ich aber bekam nur einen jener Schlüsselanhänger, die gratis verteilt wurden. Rund und mit gelben Sternen auf blauem Grund umrandet. In der Mitte stand in rot-weiß-grünen ungarischen Nationalfarben das Wort „igen“, ungarisch für ja.

„Demokratie zurück“, forderten die Demonstranten im Sommer 2018 vor dem Parlament in Budapest.
„Demokratie zurück“, forderten die Demonstranten im Sommer 2018 vor dem Parlament in Budapest.

© Attila Kisbeneder/AFP

Im April 2003 hatten 83 Prozent der ungarischen Wähler für die EU-Mitgliedschaft gestimmt. Auch meine Mutter und meine Großeltern setzten ihr Kreuz erwartungsvoll beim „igen“. Was sie sich dabei versprachen? Das Zusammenleben in Europa sollte einfacher werden, die häufigen Familienbesuche, die Arbeit, das alltägliche Leben.

Der Beitritt zur Europäischen Union bedeutete für uns, dass die zwei Länder, in denen wir unser Leben lebten, deren Kultur, Politik und Gesellschaft wir so gut kannten, näher zusammenrückten.

Ungarn gingen zum Tellerwaschen in europäische Metropolen

Und dass sich Ungarn nun formell dem gleichen Wertesystem anschloss wie Deutschland. In unserem Familienalltag in Baden-Württemberg hatten wir dieses Gefühl der Gemeinsamkeit schon vor 2004 gelebt. Abends lief nach der Sesamstraße und dem Sandmännchen die Gute-Nacht-Geschichte des ungarischen Senders Duna TV via Satellit.

Nach dem Beitritt mussten die Länder im Osten beweisen, dass sie wirklich dazugehörten. In Ungarn wurden zahlreiche neue Gesetze erlassen und Ministerien geschaffen, darunter auch eines für Gleichstellung. Im Fernsehen liefen von westeuropäischen Rundfunkanstalten kopierte Talkshows und politische Satiresendungen.

Meine Großmutter hörte bei der Mittagsruhe, in der Badewanne oder beim Kochen das öffentlich-rechtliche Kossuth-Radio, die liberale Zeitung Népszabadság lag morgens auf dem Küchentisch. Und ich hörte und las mit. Für mich war das Europa: eine pluralistische Debattenkultur, vielfältige Medien und Parteien links und rechts der Mitte, zwischen denen man wählen konnte.

Deutsche, französische oder niederländische Studierende machten Erasmus in Budapest und begannen die Stadt zu lieben. Sie verstanden zwar kein Ungarisch, sehr wohl aber die Sprache der kreativen Ruinenkneipen im zusammenwachsenden Europa der Nullerjahre. Europäische Integration hieß aber auch, dass junge Ungarn, ebenso wie Slowenen oder Polen nach London oder Berlin zogen, um Teller zu waschen.

Sie brachten nach einem Monat mindestens so viel Geld nach Hause, wie sie im Heimatland als Architektin oder Lehrer verdienen konnten. Umgekehrt lernten die meisten jungen Westeuropäer aber von Ungarn und Polen nur wenig mehr, als Forint und Zloty in Euro umzurechnen.

Bringt Europa Wohlstand oder verbietet bloß das Schnapsbrennen?

Am 23. Oktober 2006 jährte sich der Ungarische Volksaufstand zum 50. Mal. Ein wichtiges Datum für Hunderttausende Flüchtlinge, die Ungarn damals Richtung Deutschland verlassen hatten. In meinem Heidelberger Gymnasium hielt ich ein Referat dazu. Es war mein Versuch, ein bisschen Relief in jenes Gebilde zu bringen, das viele Klassenkameraden noch immer „Ostblock“ oder „Sowjetunion“ nannten.

In Budapest war es hingegen der Tag, an dem die liberale Elite zum ersten Mal die volle Stärke jener Kräfte sah, die vier Jahre später an die Macht kommen sollte: Am Abend eskalierte eine Demonstration, angeheizt durch Fidesz. Die Partei wurde schon damals angeführt von Viktor Orbán.

Er und seine nationalgesinnten Mitstreiter profitierten von beiden Umwälzungen in Ungarn: sowohl der Abkehr vom Sozialismus, als auch der Hinwendung zu Europa. Viele im Parteikader zogen ihren Nutzen aus Kapitalismus und Liberalismus.

Nun fiel es ihnen in den Schoß, dass der sozialistische Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány in einer parteiinternen Versammlung zugegeben hatte, das Volk jahrelang belogen zu haben. Fernseher wurden auf das Gebäude des öffentlichen Rundfunks geworfen. Schmähbegriffe wie „Fake News“ und „Lügenpresse“, die erst ein Jahrzehnt später geboren werden sollten, fanden hier bereits kollektiven Anklang.

Zunehmend begannen die Ungarn daran zu zweifeln, dass die sozialistische Regierung unter Gyurcsány sie in eine blühende europäische Zukunft führen würde. Sie fragten sich, ob dieses Europa tatsächlich mehr Wohlstand bringt oder es den Ungarn lediglich verbietet, Mohn anzubauen und Schnaps zu brennen, wie es die Anti-EU-Kampagnen damals suggerierten.

Frommes Christentum und konstante Diskriminierung

Während manche der einstigen „igen“-Wähler ihre Zustimmung bereits wieder bereuten, fiel für unsere vierköpfige Familie im Dezember 2007 die vorerst letzte Grenze: Nach dem EU-Beitritt bekamen die zehn neuen Länder auch Zutritt zum Schengenraum. Die zehn- bis zwölfstündige Fahrstrecke, die wir mehrmals im Jahr zurücklegten, verkürzte sich um jene langen Stunden, die wir sonst gemeinsam mit vielen anderen ungarisch-deutschen, kroatisch-deutschen oder türkisch-deutschen Familien am Grenzübergang Hegyeshalom-Nickelsdorf verbracht hatten.

Meine Schwester und ich durften fortan sowohl die deutsche als auch die ungarische Staatsbürgerschaft behalten und mussten uns nicht mehr, wie so viele vor uns, nach dem 18. Geburtstag für eine von beiden entscheiden.

Mit der Finanzkrise 2008 kristallisierte sich dann zunehmend heraus, dass das, was in unserer Familie als Einheit gefeiert wurde, dort draußen in der politischen Wirklichkeit erodierte. Während Deutschland als großer Gewinner die Krise quasi unbeschadet überlebte, sackte der Währungskurs des ungarischen Forint ab. Die Arbeitslosenzahlen explodierten.

Wir gehörten zum Glück nicht zu jenen Familien, die teure Kredite in Schweizer Franken aufgenommen hatten. Diese mussten plötzlich viel höhere Raten tilgen, was jahrelange Verschuldung nach sich zog. Frustration machte sich breit.

Jobs fanden viele nur noch in Nachbarländern oder bei einer der großen ausländischen Firmen, die Ungarn als billigen Produktionsstandort nutzten. Und Viktor Orbán und Fidesz verstanden es, die frustrierten Massen zu mobilisieren: erst gegen die korrupten Sozialisten, dann gegen ausländische Kapitalisten, schließlich gegen sogenannte Migranten und die EU. „Politik der nationalen Interessen“ nannte Orbán das im Wahlkampf 2010. Sie sollte den Menschen die Arbeit, das Zuhause und die Familie zurückzugeben.

Orbán und sein Umfeld versprachen, die ungarische Wirtschaft und das „nationale Kapital“ wiederherzustellen. Das würzten sie mit demonstrativ frommem Christentum und konstanter Diskriminierung von Minderheiten – und erhielten am Ende eine Zweidrittelmehrheit im Parlament.

Plakatkampagne am Bahnsteig einer U-Bahn.
Plakatkampagne am Bahnsteig einer U-Bahn.

© Pablo Gorondi/AP/dpa

Das Ministerium für Gleichstellung gab es dann nicht mehr lange. Meine Großmutter hörte bald auf, Kossuth-Radio zu hören, wo Orbán mehr und mehr Sendezeit einnahm, und wechselte zum alternativen Sender Klubrádió. Die Führungsriege des öffentlich-rechtlichen Rundfunks wurde ersetzt, viele Redakteure gingen oder wurden entlassen. Statt neutraler Nachrichten und politisch diversen Gesprächspartnern war nach 2010 im Radio hauptsächlich Regierungspropaganda zu hören.

Mitarbeiter der Zeitung „Népszabadság“ erfuhren am Morgen des 8. Oktober 2016, dass ihre Zeitung aufgekauft und sofort geschlossen wurde. Seit 2017 ist die gesamte Regionalpresse in Orban-nahen Händen. Nur wenige unabhängige Medien haben dem Druck standgehalten. In den vergangenen acht Jahren fiel Ungarn von Platz 23 auf Platz 87 in der Rangliste der Pressefreiheit – noch hinter Sierra Leone.

Ungarn liegt auf Platz 87 in der Rangliste der Pressefreiheit

Heute herrscht in Ungarn Dauerwahlkampf. Wenn ich am U-Bahngleis in Budapest stehe oder durch kleine Dorfstraßen fahre, sehe ich Plakate, die wahlweise Fortschritte der Regierung Orbán anpreisen („Die Stromrechnung wird billiger“, „Der Mindestlohn steigt“, „Wir helfen beim Kinderwunsch“), oder die Furcht vor dem Anderen schüren („Brüssel stoppen“, „Soros stoppen“, „Ungarn wird kein Einwanderungsland“).

Ungarns Präsident Viktor Orban mit EVP-Fraktionschef Manfred Weber
Ungarns Präsident Viktor Orban mit EVP-Fraktionschef Manfred Weber

© dpa

Die niederländische grüne Europa-Abgeordnete Judith Sargentini fasste einen EU-Bericht 2018 mit den Worten zusammen, dass Ungarn rechtsstaatlich „in der Gefahrenzone“ liege. Zahlreichen Rügen und Vertragsverletzungsverfahren zum Trotz ist Ungarn nach 15 Jahren noch immer EU-Mitglied. Eine Erklärung dafür sind die starken wirtschaftlichen Abhängigkeiten in der europäischen Familie.

Orbáns Schwiegersohn soll sich mit EU-Fördergeldern bereichert haben

In Ungarn zählen die deutschen Unternehmen Audi und Mercedes zu den wichtigsten Arbeitgebern, auch BMW plant eine Fabrik für rund drei Millionen Euro im ostungarischen Debrecen. Luxusautos werden dort von billigen ungarischen Arbeitskräften zusammengeschraubt. Im Dezember protestierten Zehntausende in Budapest gegen das sogenannte „Sklavengesetz“. Es ermöglicht Firmen, von ihren Arbeitern bis zu 400 Überstunden pro Jahr zu verlangen, die erst in drei Jahren ausgezahlt werden müssen.

Ungarn ist immer noch gerne EU-Mitglied. Schließlich gibt es Geld aus Brüssel. In der Hauptstadt Budapest sind die Einnahmen aus EU-Fördergeldern von etwa 300.000 Euro im Jahr 2007 auf 2,5 Millionen Euro pro Jahr in 2015 angestiegen. Orbáns Schwiegersohn steht im Verdacht, sich 2014 über einem schummrigen Straßenlaternenhandel persönlich an Millionen von EU-Fördergeldern bereichert zu haben.

Der ehemalige Bürgermeister von Orbáns Heimatdorf Felcsút ist auch dank öffentlicher Ausschreibungen zum fünftreichsten Mann Ungarns geworden. Als Konsequenz aber zieht die EU höchstens drohend eine Linie in den nassen Sand, die von der nächsten Welle der Diplomatie fortgespült wird.

Aller Widersprüche zum Trotz lebt unsere Familie weiterhin europäisch. Wir dürfen in beiden Ländern wählen und arbeiten. Wir sind uns näher denn je. Aus zehnstündigen Autofahrten sind längst zweistündige Nonstop-Flüge geworden. Politisch aber haben sich die Länder entfernt. Vor 15 Jahren, am Abend des 30. April 2004, war ich Zeugin eines Ungarns, das sich auf Europa freute. Jetzt bin ich Zeugin eines Auseinanderdriftens, beschleunigt von verantwortungslosen Politikern, die aus Unsicherheit Kapital schlagen.

Aus zehnstündigen Autofahrten sind zweistündige Nonstop-Flüge geworden

Ich bin Ungarin, wenn ich meinen deutschen Verwandten Orbáns Autoritarismus erkläre, und Deutsche, wenn ich in Budapest versichern muss, dass Neukölln keine No-Go-Zone ist. Und bei den kommenden Wahlen zum Europäischen Parlament muss ich mich immer noch entscheiden, ob ich meine Stimme den deutschen oder ungarischen EU-Politikern gebe.

Die Europäische Union hat meine Familie enger zusammenrücken lassen. Doch auf politischer Ebene haben wir die Chance verpasst, einander zuzuhören, einander zu ermahnen und für einander einzustehen. Die europäische Familie bleibt damit vorerst eine dysfunktionale Familie.

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