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Unterstützung für die Gesundheitsverwaltungen kam zwischenzeitlich von der Bundeswehr.

© dpa

Falscher Wettkampf der Systeme: In der Pandemie steht Deutschland schlecht da

Verwaltung, Datenschutz, Innovation: Der Westen muss dazulernen - auch von staatskapitalistischen Systemen. Ein Gastbeitrag.

Ein Gastbeitrag von Jörg Rocholl

Ist der chinesische Staatskapitalismus dem freiheitlichen westlichen Ansatz vielleicht doch überlegen? Diese Frage tritt wegen der Pandemie wieder in den Vordergrund. Denn China bekämpft nicht nur das Coronavirus sehr erfolgreich, auch seine Wirtschaft hat rasch auf einen Wachstumspfad zurückgefunden, von dem die USA und Europa zurzeit nur träumen können.

Die Frage des Systemwettbewerbs – vielen Beobachtern schien sie  nach dem Fall des Eisernen Vorhangs schon endgültig zu Gunsten des Westens beantwortet – steht also wieder auf der internationalen Agenda.

Was kann der Westen tun, um seine Position im Wettstreit  zwischen Staatskapitalismus und Marktwirtschaft zu verbessern? Und wo wäre trotz aller ideologischer Unterschiede Kooperation sinnvoller als  Konfrontation?

Zunächst lohnt ein kurzer Rückblick auf die globale Finanzkrise 2008/09. Damals war viel von Banken die Rede, deren globale Systemrelevanz unterschätzt wurde. Tatsächlich schafften es spekulative Geschäfte mit Hypothekenkrediten zur Finanzierung von Eigenheimen in den USA, das weltweit vernetzte Finanzsystem ins Wanken zu bringen.

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Die nachfolgende Krise traf selbst Länder in Europa empfindlich, die wie Deutschland weit von einem überhitzten Immobilienmarkt entfernt waren. Auf die globale Finanzkrise reagierte die Politik mit deutlich verschärften regulatorischen Anforderungen an Finanzmärkte und -institutionen.

Die Finanzkrise weist Parallelen zur gegenwärtigen  Pandemie-Krise auf. Diesmal reichte ein Krankheitsausbruch auf einem chinesischen Tiermarkt, um die Weltbevölkerung zu gefährden.  

Bei Corona wurde in einer globalisierten Welt die Systemrelevanz von Gesundheit und Gesundheitssystemen unterschätzt. Jenseits aller Sofortmaßnahmen und dem Schutz gerade der älteren und pflegebedürftigen Bevölkerung stellt sich deshalb wie vor zwölf Jahren die Frage, welche Lehren die Politik aus der Krise ziehen sollte.

Deutschland muss digital aufrüsten, denn es werden weitere Pandemien folgen

Am Anfang muss die Erkenntnis stehen: Diese Pandemie ist wie die letzte Finanzkrise keine Ausnahme, sondern dürfte in ähnlicher Form wieder auftauchen und um sich greifen. Zoonosen, also Infektionskrankheiten, die von Tieren auf Menschen übertragen werden, haben nach Einschätzung von Experten Konjunktur.

Aus dieser Erkenntnis ergeben sich wichtige Schlussfolgerungen. Beispiel Deutschland: Hier muss die öffentliche Verwaltung dringend auf ein internationales Spitzenniveau gebracht und insbesondere die Qualität der Gesundheitsämter verbessert werden. In digitalen Zeiten ist es für ein Hochtechnologieland anachronistisch, dass dort mit handgeschriebenen Listen und ausgedruckten Excel-Tabellen gearbeitet wird.

Digitales Arbeiten in Gesundheitsämtern - hier Berlin-Mitte - ist noch sehr unterentwickelt.
Digitales Arbeiten in Gesundheitsämtern - hier Berlin-Mitte - ist noch sehr unterentwickelt.

© picture alliance/dpa

Vielen jüngeren Menschen dürfte wohl erst in den vergangenen Monaten klargeworden sein, dass es noch Telefax gibt. Der Digitalisierungsschub in diesem und anderen Bereichen der öffentlichen Verwaltung muss dringend verstärkt werden. Während viele private Arbeitgeber schnell auf die Möglichkeit des Home Office umgestiegen sind, hinkt die öffentliche Verwaltung hinterher.

Auch die Qualität des Home Schooling hängt nach wie vor viel zu stark von der individuellen Bereitschaft und dem persönlichen Engagement von Lehrerinnen und Lehrern ab – eine umfassende digitale Strategie der Schulen ist eher die Ausnahme als die Regel. Deutschland muss aufholen.

Das Verhältnis Infektionsschutz versus Datenschutz muss neu gedacht werden

Darüber hinaus sollte in der westlichen Welt eine grundlegende Diskussion über das Verhältnis zwischen Infektionsschutz und Datenschutz geführt werden – gerade in Zeiten der Pandemie können sich Fragen der Abwägung zwischen beiden Gütern neu stellen.

Die Debatte hat zum Beispiel unmittelbare Bedeutung für die Funktionsfähigkeit und Effizienz der WarnApp oder die Vergabe von Impfterminen. Der internationale Vergleich zeigt auch hier: Deutschland und Europa könnten besser dastehen. In jedem Fall müssten zentrale Fragen beantwortet werden, bevor die nächste Pandemie zuschlägt  – um  dann nicht überstürzt das Verhältnis zwischen Infektionsschutz und Datenschutz neu zu bestimmen.

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Schließlich sollte gerade in Deutschland intensiv überlegt werden, wie Innovationen im Medizin- und Pharmasektor systematischer unterstützt und gefördert werden können. Es ist dem besonderen Unternehmergeist zu verdanken, dass Impfstoffe viel schneller entwickelt werden konnten, als die meisten Experten das zu Beginn der Krise erwartet hatten. Privates Kapital hat hier eine besonders positive Rolle gespielt, ebenso die schnelle Umsetzung universitärer Erkenntnisse in neue Produkte.

Europa sieht sich aber auch mit der Tatsache konfrontiert, dass die staatlichen Vakzin-Beschaffungsaufträge nicht optimal funktionieren. Ein engeres und besser abgestimmtes Zusammenwirken privater und öffentlicher Akteure sowie eine angemessene Risikoteilung  sind mit Blick auf die nächste Pandemie von zentraler Bedeutung.

International abgestimmte Impfpläne sind nötig

Da Corona keine Landesgrenzen kennt, sind transkontinentale Strategien zur Bekämpfung des Virus erforderlich – hier muss der Systemwettbewerb zugunsten der Kooperation  in den Hintergrund treten. Wir brauchen Impfpläne, die auf internationaler Ebene besser abgestimmt werden. Die jetzige Krise zeigt, wie Mutationen in Großbritannien, Brasilien oder Südafrika schnell vermeintliche Erfolge bei der Bekämpfung der Pandemie in einzelnen Staaten zunichtemachen.

Die Abgabe von Impfstoffen an andere Staaten wird in Zeiten des Mangels keine Jubelstürme hervorrufen und birgt die Gefahr, populistisch ausgeschlachtet zu werden. Derzeit aber haben sich 16 Prozent der Weltbevölkerung rund 60 Prozent der verfügbaren Impfstoffe gesichert. Die reichen Länder müssen erkennen, dass eine faire Verteilung der Vakzine letztlich auch in ihrem Interesse ist. Denn niemand ist sicher, solange nicht alle sicher sind. Staaten, die glaubten, die Corona-Krise vorrangig mit nationalen Maßnahmen  überwinden zu können, leiden oft besonders stark unter der Pandemie.

Deutschland und Europa müssen, um bei der nächsten globalen Krise  im Systemwettkampf bestehen zu können, besser gewappnet sein als diesmal. Deshalb lohnt es sich etwa, erfolgreiche Corona-Bekämpfungsstrategien in Asien zu studieren. Der  Systemwettbewerb zwischen Staatskapitalismus und Marktwirtschaft sollte dort an seine Grenzen kommen, wo globale Herausforderungen zu bestehen sind.

Unter dem Eindruck der Weltfinanzkrise hatten sich die Staats- und Regierungschefs der 20 führenden Industrie- und Schwellenländer auf Grundzüge zur Reform des Finanzsystems geeinigt und sich verpflichtet, alle Finanzmärkte, Produkte und Akteure zu regulieren oder zu überwachen. Jetzt wäre die Staatengemeinschaft gut beraten, erneut das G20-Format zu nutzen, um gemeinsame Antworten auf die Herausforderung der Pandemie zu finden.

Global Challenges ist eine Marke der DvH Medien. Das neue Institut möchte die Diskussion geopolitischer Themen durch Veröffentlichungen anerkannter Experten vorantreiben. Heute ein Beitrag von Prof. Jörg Rocholl PhD, Präsident der Wirtschaftshochschule ESMT in Berlin. Weitere Autoren und Autorinnen sind Prof. Dr. Ann-Kristin Achleitner, Sigmar Gabriel, Günther H. Oettinger, Präsident von United Europe e.V., Prof. Dr. Volker Perthes, Prof. Dr. Bert Rürup, Prof. Dr. Renate Schubert.

Jörg Rocholl

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