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Wo ist Heimat, wenn man sich auf der Flucht befindet? Ein afghanisches Mädchen, das aufgrund von von Kämpfen zwischen den Taliban und afghanischen Sicherheitskräften den Norden ihres Landes verlassen hat.

© picture alliance/dpa/AP

Faeser facht innenpolitische Debatte an: Heimat ist, was man draus macht

Innenministerin Nancy Faeser gibt dem zyklisch wiederkehrenden Diskurs um den Begriff Heimat neuen Schwung. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Stephan-Andreas Casdorff

Darf man’s wagen, in diesen Zeiten einen Russen zu zitieren? Also, den doch wohl – Dostojewski: „Ohne Heimat sein heißt leiden.“ Und der muss es wissen als einer, der der Psychologie nachgespürt, ihr Worte verliehen hat, oder?

Mindestens wir Deutsche leiden von Zeit zu Zeit schon an dem Begriff Heimat, wie raunend und tümelnd das in manchen Ohren klingt. Wenn es von denen ausgesprochen wird, die den Begriff entwenden, um ihn nach rechts zu wenden. Ganz rechts.

Das aber darf keiner, keine zulassen, der und die Verantwortung fürs Gemeinwesen trägt. Zumal kein Politiker. Jetzt auch Bundesinnenministerin Nancy Faeser. Sie schreibt auf Twitter: „Wir müssen den Begriff #Heimat positiv umdeuten und so definieren, dass er offen und vielfältig ist…“

Faeser war dazu in der „Zeit“ befragt worden. Sie hatte außerdem noch erklärt, „dass er ausdrückt, dass Menschen selbst entscheiden können, wie sie leben, glauben und lieben wollen. Das wäre ein Gewinn für den gesellschaftlichen Zusammenhalt.“

Aus der Mitte der Gesellschaft

Und schon sind wir mittendrin in einer Debatte, die immer mal wieder, wie zyklisch, aufkommt. Nicht ganz aufs Neue, aber mit neuen Beteiligten. Faesers Vorgänger Horst Seehofer von der CSU hatte das Bundesinnenministerium 2018 um die „Heimat“ erweitert. Ein Grund war auch, der AfD das Thema streitig zu machen und das Feld aus der Mitte der Gesellschaft heraus zu besetzen.

Es ist, als müsste sich die Politik der Sache immer dann wieder vergewissern, wenn sie sich herausgefordert sieht durch verstärkt Zuflucht Suchende und zunehmende Migration. Die Welt in Unruhe – und die Heimat als, ja, was?

„Das ist ja nicht nur der Raum, in dem man aufgewachsen ist oder geboren ist, sondern das ist auch ein geistiger Raum, ein kultureller Raum“, sagte vor Jahren der Literaturkritiker und frühere „Zeit“-Feuilletonchef Ulrich Greiner. Den geistigen Raum zu füllen, kulturvoll, ist darum eine fortwährende Herausforderung. Und logischerweise verbunden mit dem Kampf, das Vielfältige gegen Einschränkungen zu behaupten.

Darauf hat Robert Habeck, der authentischste Politikerklärer dieser Jahre, auch schon vor Jahren hingewiesen: dass die Fortschrittlichen da keine Rückschritte zulassen dürfen. „Weil ich glaube, dass man um den Begriff Heimat kämpfen muss. Wenn man ihn den Rechtsextremisten überlässt, wird er verhunzt.“

Geborgenheit und Sicherheit

Verhunzt, ein passendes Wort für das Leiden daran, wenn Heimat als Wort, als Begriff nur für wenige steht, nur für eine bestimmte Lebensweise oder nur eine bestimmte Gruppe. „Dabei ist Heimat“, sagt Habeck, „ein Versprechen, dass alle Menschen Geborgenheit und Sicherheit erfahren können, egal wo sie herkommen und wie sie leben wollen. Das, was uns verbindet, sind die Werte unserer liberalen Verfassung.“

Hier treffen sich Habeck und Faeser, noch dazu in einer Koalition, die das schaffen will. Und schaffen kann.

Liberalität leben bedeutet, Heimat zu öffnen: als Ort, wo man versteht „und zugleich verstanden wird“. Sagte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zum Tag der Deutschen Einheit 2017. Er setzte damit einen Rahmen, der bis heute hält, bis hinein in die Neuauflage der Selbstvergewisserung.

Dementsprechend gilt: Traditionspflege und Vertrautheit dürfen nicht zur Abgrenzung missbraucht werden. Vielmehr geht es für alle, die hier gut und gerne leben wollen, um die Sicherheit einer gelebten Liberalität.

Ihre Heimat, unsere Heimat: Fremdheit weicht, wenn man sich vertraut macht, über Gebräuche hinaus miteinander. Mit den Geschichten der Menschen, die nach Deutschland gekommen sind, auch in Zukunft kommen, die „viel stärker Teil unseres gemeinsamen Wir werden“ müssen, wie Präsident Steinmeier sagte.

Zusammenhalt stiften

Ein halbes Jahrzehnt ist diese Erkenntnis alt, die dazu angetan ist, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stiften, wie er Ministerin Faeser offenkundig antreibt, zu einer Twitter-Botschaft destilliert.

Oder von einem aus ihrer hessischen Heimat so gefasst: „Alle diese vortrefflichen Menschen, zu denen Sie nun ein angenehmes Verhältnis haben, das ist es, was ich eine Heimat nenne.“ Schrieb Goethe. Ein Heimatdichter. Sozusagen.

Wo Heimat doch auch ein sehr deutsches Wort ist; viele Sprachen kennen es so gar nicht. Ein vormals diskreditierter Begriff, bei dem es – wenn er heute sinnbringend, gewinnbringend gefüllt werden soll – darum geht, zurückzulassen, was dem Zusammenkommen als Gemeinwesen entgegensteht.

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Steinmeier hatte voranschreitend, darüber hinausgehend, quasi eine Gedankenstütze für wiederkehrende Diskussionen zusammengestellt: Heimat, ein Zustand im Kopf (Fatih Akin), ein Schauplatz der Gefühle (Edgar Reitz), ein weites Feld (Theodor Fontane).

„Früher war doch Heimat ein ganz klarer Fall von Heimatfilm und Musikantenstadl.“ Ulrich Greiner sagte bereits zum Zeitpunkt der Steinmeier-Rede vor fünf Jahren, es sei gut, dass jetzt über Heimat gesprochen werde. Nun, noch besser ist, wenn immer wieder darüber gesprochen wird.

Denn nur so wird die anzusprechende Integration Bestandteil heimatliche Realität in einem Land, das sich unter vielen Einflüssen doch fast täglich ändert. So verstanden ist Heimat ein Synonym für Zukunft, ein Ort, den die Gesellschaft sich aufs Neue schafft.

Deshalb ist es allemal besser, die Diskussion zu gestalten, als sie zu erleiden. Heimat ist dann das, was daraus wird.

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