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Die Gastrobranche trifft der Fachkräftemangel besonders hart.

©  dpa/Lea Büttner

Fachkräftemangel in Deutschland: „Ich werde irgendwann einfach dichtmachen“

Der Fachkräftemangel durchzieht viele Branchen. Die Hoffnung ruht jetzt auf Arbeitskräften aus dem Ausland.

Wer dieser Tage in einer Bar etwas trinken wollte, dürfte vermutlich schon mal vor verschlossenen Türen gestanden haben. Und wer kurzfristig eine Reparatur zuhause benötigt, muss sich auch gedulden. Durchschnittlich liegt die Wartezeit, bis ein Auftrag begonnen werden kann, bei knapp neun Wochen. Beide Branchen stehen vor großen Problemen.

In der deutschen Hotellerie und Gastronomie gibt es derzeit 46.000 offene Stellen, tatsächlich unbesetzt sind vermutlich bis zu 100.000 Stellen. In den Handwerksbetrieben sind bei den Arbeitsagenturen derzeit zirka 150.000 offene Stellen gemeldet, auch hier dürfte die Dunkelziffer höher liegen.

Rückmeldungen aus den Handwerkskammern, Innungen und Verbänden zeigen, dass rund 250.000 Handwerkerinnen und Handwerker mehr beschäftigt werden könnten. Allein 18.000 Ausbildungsplätze bleiben jährlich unbesetzt.

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Torsten Schulz ist Elektromeister mit einem eigenen Betrieb in Elze, einer Kleinstadt im Süden Niedersachsens. „Wir haben wesentlich mehr Aufträge, als wir abarbeiten können“, sagt er im Gespräch mit dem Tagesspiegel. Die Wartezeiten seien enorm. Aufträge nehme er nur von Bestandskunden entgegen. „Für alles andere haben wir keine Kapazitäten.“

Ausbildungen im Handwerk seien nicht mehr angesagt, meint er. „Den guten Hauptschüler, der eine Lehre als Elektriker machen will, den gibt es nicht mehr. Fast alle machen Abitur und streben dann entweder ein Studium oder zumindest eine kaufmännische Ausbildung an, irgendwas im Büro.“

Schulz hat inzwischen nur noch einen Angestellten, mindestens zwei weitere bräuchte er, um das Pensum einigermaßen zu schaffen. „Ich bin jetzt 58 und merke, dass der Job mich immer mehr anstrengt. Ich würde sehr gerne weniger arbeiten, aber momentan geht es nicht.“

Er hatte gehofft, eine seiner Töchter würde den Betrieb übernehmen. Momentan studiert sie BWL, die Firma des Vaters reizt sie nicht. „Ich mache mir keine Illusionen mehr, ich werde einfach dicht machen irgendwann. Das ist sehr schade, ich habe die Firma 1992 gegründet und sie läuft gut.“

Für die Situation macht Schulz auch gestiegene Anforderungen verantwortlich: „Die sind inzwischen enorm. Wir machen hauptsächlich Brand-, Sicherheits- und Videotechnik. Das ist nicht mehr das klassische Leitung legen, es geht um Rechnen und Programmieren, Smarthome, intelligente Gebäudesteuerung.“ Der Elektriker von heute müsse ein kleiner Netzwerktechniker sein. Drei Auszubildende habe er innerhalb der vergangenen Jahre entlassen müssen. „Sie haben die Schule nicht gepackt.“

Gesellen sind für den Chef eines Handwerksunternehmens "heiße Ware"

Von ähnlichen Erfahrungen berichtet auch Philip Krone, Chef eines Handwerksunternehmens in Berlin mit Fokus auf Gebäudetechnik. Die Technik sei komplizierter geworden, vieles verschmelze miteinander. „Ein guter Anlagenmechaniker muss eigentlich Dreisatz beherrschen und gute Noten in Mathe und Physik haben. Aber wir können es uns nicht mehr aussuchen.“

170 Mitarbeiter:innen hat Krone, zehn bis fünfzehn mehr könnte er locker gebrauchen, sagt er dem Tagesspiegel. „Die Auftragsbücher sind voll, trotzdem macht es keinen Spaß momentan: Der Fachkräftemangel, Lohndruck wegen der Inflation, krisenbedingte Lieferkettenengpässe, wir haben einige Baustellen.“

Nachwuchs zu finden klappe noch einigermaßen. „Da haben wir es sicherlich leichter als ganz kleine Betriebe ohne Onlinepräsenz, wir sind sehr aktiv auf Social Media und stecken viele Ressourcen in das Recruiting. Gesellen bezeichnet Krone als „heiße Ware“, die schwer zu finden seien. „Umso wichtiger sind Mitarbeiterbindungsmaßnahmen, damit wir unsere guten Leute nicht wegen ein paar Euro an andere Firmen verlieren.“

Krone wirbt Anlagemechaniker für Sanitär-, Heizung-, und Klimatechnik und Elektriker für Gebäudetechnik aus, wirbt mit Inbrunst für sein Handwerk: „Jeder von uns ist Klimaschützer, wir setzen die Klimawende um: CO2 optimieren, Gasanlagen gegen Wärmepumpen tauschen, eigene Energie erzeugen, ohne uns geht da nichts. Schade, dass das in der Öffentlichkeit so wenig thematisiert wird.“ Außerdem sei die Branche absolut zukunftssicher. „Bei uns muss sich keiner um seinen Job sorgen.“

In der Baubranche ist der Bedarf an Fachkräften sehr stark gestiegen.
In der Baubranche ist der Bedarf an Fachkräften sehr stark gestiegen.

© Bernd Weißbrod/dpa

Die Branche unternehme viel, um junge Menschen für das Handwerk zu gewinnen, sagt  Andreas Koch-Martin, Geschäftsführer der Innung Sanitär-, Heizung- und Klimatechnik Berlin: Berufsorientierung an Schulen, Werkstatttage an Schulen, Teilnahme an Berufemessen, Unterstützung bei Bewerbungen, Projekte mit Geflüchteten Nachqualifizierungsmaßnahmen, Mathenachhilfe, BerufsAbitur (Gesellenprüfung und Abitur innerhalb von 4 Jahren). Er hofft, dass ein Mix aus aktiver Imageverbesserung und der Schaffung von Anreizen wird erfolgversprechend sein wird. „Gleichzeitig müssen Jugendliche aus allen gesellschaftlichen Lebensbereichen, Schulsystemen und Lebensphasen adressiert werden.“

Schaut man sich die demographische Entwicklung an, wird klar, dass die Fachkräftelücke in den kommenden Jahren nicht kleiner werden wird. Damit es auch in Zukunft genauso viele Erwerbstätige auf dem deutschen Arbeitsmarkt gibt wie jetzt, braucht es jährlich 400.000 ausländische Arbeitskräfte, hat das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit errechnet.

Obwohl die Kunden ihr die Bude einrannten, musste sie schließen

Doch nicht nur was Fachkräfte angeht ist guter Rat teuer: Zwölf Jahre lang hat Angelika Behr erfolgreich das „Café Hüftgold“ im Hamburger Stadtteil Winterhude geführt. Anfang des Jahres machte sie dicht, obwohl die Kund:innen ihr die Bude einrannten. Der Grund: Personalmangel. 

Das vergangene Jahr im Café habe ihr die letzten Kräfte geraubt, sagt Behr. „Ich bin ja nun auch schon 60, ich konnte und wollte nicht mehr an sieben Tagen in der Woche im Laden stehen.“ Eine ihrer Vollzeit-Mitarbeiterinnen durfte sich nach einem Schlaganfall keinem Stress mehr aussetzen, eine andere musste den Job wegen Arthrose in den Händen quittieren.

„Die erste Schließzeit von Mitte März bis Mitte Mai hat uns das Genick gebrochen“, sagt Behr. „Vollzeitkräfte habe ich danach nicht mehr bekommen, Aushilfen ebenso wenig. Früher hatte ich immer viele Bewerbungen auf dem Tisch und musste mich nicht kümmern. Die Zeiten sind längst vorbei. Ich habe auf Facebook und Insta inseriert, im Netz. Aber Rücklauf gab es kaum.“ Die Bewerbungsgespräche seien oft ähnlich verlaufen.

„Da war zum Beispiel ein Koch, der sich zwei freie Wochenenden im Monat gewünscht hat und eigentlich auch noch mindestens zwei unter der Woche, jede Woche. Ich hätte also eine weitere Kraft benötigt.“ Als sich dann vor dem Laden eine langwierige Baustelle und eine Parkverbotszone ankündigten, trifft sie die Entscheidung, das Café aufzugeben. Hätte sie das Hüftgold aufgegeben, wenn es das Personalproblem nicht gegeben hätte? „Nein, nie. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, das „Hüftgold“ war mein Baby." Inzwischen hat hier ein neues Café eröffnet - Montags und Dienstags ist geschlossen. Der Grund: Personalmangel.

Wo sind die Leute alle hin? Das sei nur ein Teil der Frage, sagt Paula Risius vom Kompetenzzentrum Fachkräftesicherung (KOFA) am Institut der deutschen Wirtschaft (IW). In einigen Branchen sei etwa die Nachfrage enorm gestiegen. „Das gilt beispielsweise für die Bauberufe. Während 2013 im Hoch- und Tiefbau in Deutschland 129.000 Menschen als Helfer beschäftigt waren, sind es 2021 225.000. Auch in Hoch- und Tiefbauberufen für Qualifizierte sind in diesem Zeitraum 17.000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte dazugekommen. Genau so stellt sich also die Frage: Wo kommen die alle her?“

Anders sieht es in der Gastronomie aus: Knapp 216.000 Personen verließen das Berufsfeld Tourismus, Hotel und Gaststätten im Jahr 2020. Das geht aus dem Kurzbericht „Sorgenkind Gastro“ des DIW hervor. Sie wechselten vor allem in die Bereiche Verkauf, Verkehr und Logistik und Unternehmensführung- und Organisation.

Im Bildungs- und Technologiezentrum der Handwerkskammer Leipzig werden Anlagenmechaniker für Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik ausgebildet.
Im Bildungs- und Technologiezentrum der Handwerkskammer Leipzig werden Anlagenmechaniker für Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik ausgebildet.

© Waltraud Grubitzsch/dpa-Zentralbild/dpa

Die Lücke ließe sich mit Arbeitskräften aus dem Inland nicht mehr schließen, meint der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband. „Hilfreich wäre es, die sogenannte Westbalkanregelung für den erleichterten Zuzug von Menschen zur Arbeitsaufnahme in Deutschland über die derzeit festgelegten 25.000 Menschen aufzustocken.“ Zudem müssten alle Anstrengungen unternommen werden, damit Geflüchtete aus der Ukraine, die sich eine Beschäftigung wünschen, eine schnellstmögliche Bearbeitung bei den Ausländerbehörden erhalten.“

Ricardo Fischer betreibt eine Bio-Bäckerei in Leipzig. Er erinnert sich an Zeiten, in denen sich zehn bis fünfzehn Leute bei ihm um eine Stelle beworben haben. Heute sei es umgekehrt: „Da buhlen viele Unternehmen um einen Bewerber.“ In der Vergangenheit hatte Fischer seinen Laden vereinzelt temporär schließen müssen oder konnte nur halbtags öffnen, weil ihm das Personal fehlte. „Ich kann die Leute hier keine Doppelschicht schieben lassen.“ Um seine Mitarbeiter:innen zu halten, geht Fischer neue Wege: So wird etwa das Brot inzwischen am Tag gebacken.

Die Wechselbereitschaft sei größer geworden, meint er. „Es ist einfach, sich irgendwo online zu bewerben, teilweise sogar ohne Lebenslauf. Für mich ist Bäcker der absolute Traumberuf, aber er ist körperlich anstrengend, das wollen viele nicht mehr. Ich habe das Gefühl, Geld spielt eine größere Rolle als früher. Und Work-Life-Balance.“ Aus diesem Grund steckt Ricardo Fischer dieser Tage viel mehr Zeit und Geld in die Personalsuche. „Früher ging sehr viel Geld in Kundenaquise und Produktentwicklung. Inzwischen geht das Geld hauptsächlich in Recruiting-Agenturen. Das ist schon ein fünfstelliger Betrag pro Jahr.“

Nicht nur Bäcker:innen zu finden sei schwer, das gleiche sei es mit Verkäufer:innen. „Fachkräfte habe ich da keine, das macht sich schon bemerkbar, eine Fachverkäuferin Lebensmittelhandwerk mit Schwerpunkt Bäckerei hat natürlich mehr Ahnung. Aber schon ungelernte Kräfte zu finden, ist eine Herausforderung.“

Fratzscher: Arbeitskräftemangel ist eine der größten Bedrohungen für die deutsche Wirtschaft

Dabei sei der Beruf ein Geschenk, meint Fischer: „Wir geben den Menschen jeden Tag ein Stück Glück mit auf den Weg.“

Der Arbeitskräftemangel sei eine der größten Bedrohungen für die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft und den Wohlstand, den wir heute genießen, sagt der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung Marcel Fratzscher. Unternehmen würden im globalen Wettbewerb zurückfallen, wenn sie nicht ausreichend qualifizierte Beschäftigte für sich gewinnen können.

Deshalb müsse die Bundesregierung vor allem Reformen anstoßen und mehr Offenheit, Toleranz und Wertschätzung für Menschen anderer Herkunft und allgemein für Menschen mit anderer Hautfarbe, Religion, Identität und Kultur schaffen. Zuwanderung ermöglichen und mehr Ausbildungsmöglichkeiten für Geringqualifizierte schaffen, lautet der Appell von Paula Risius. „Denn wir werden alle brauchen.“ Auch die Energiewende könnte durch den Mangel erschwert werden, warnt sie.

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