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Wie hier in Charkiw müssen die Menschen wegen der Angriffe Schutz in Kellern suchen.

© Andrew Marienko/AP/dpa

Experte über die Not in der Ukraine: „Die Menschen frieren, hungern und sind traumatisiert“

Martin Schüepp organisiert für das Internationale Komitee vom Roten Kreuz die Ukraine-Hilfe. Ein Gespräch über Not, Leid und die Pflicht der Kriegsparteien.

Martin Schüepp koordiniert für das Internationale Komitee vom Roten Kreuz die Ukraine-Hilfe. Er ist als Regionaldirektor für Europa und Zentralasien zuständig.
Herr Schüepp, die Ukraine ist in weiten Teilen Kriegsgebiet. Es gibt Raketenbeschuss, Artilleriegefechte und Hunderttausende Schutzsuchende. Wie kann das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) unter derartigen Umständen helfen?
Wir sind schon seit mehr als acht Jahren in der Ukraine tätig. Es ist ja unser Mandat, in Konfliktgebieten den Menschen zu helfen und sie möglichst zu schützen. Aber es stimmt: Die Sicherheitslage ist wirklich äußerst prekär.

Welche Folgen hat das für die Arbeit Ihrer Organisation?
Hunderttausende, wenn nicht Millionen fliehen vor den Kämpfen, versuchen über die Grenzen zu entkommen, um Schutz zu finden. Doch Millionen Menschen bleiben in den Städten zurück. Und deren Versorgung wird von Tag zu Tag schwieriger. Denn die Gefechte konzentrieren sich auf städtisch geprägte Gebiete. Das Kriegsgeschehen erfordert deshalb von unseren fast 700 Helfern extreme Flexibilität.

[Aktuelle Entwicklungen im Ukraine-Krieg können Sie hier in unserem Newsblog verfolgen.]

Was heißt das konkret?
Zum Beispiel, dass wir auf einem Bahnsteig in Dnipro gemeinsam mit dem ukrainischen Roten Kreuz Essensrationen an Hungernde verteilen. Das kann ebenfalls heißen, einen Hilfskonvoi in eine Stadt zu bekommen. Oder wir versuchen, Medikamente und medizinische Ausrüstung aufzutreiben.

In vielen Krankenhäusern wie hier in Mariupol fehlt es am Notwendigsten.
In vielen Krankenhäusern wie hier in Mariupol fehlt es am Notwendigsten.

© Evgeniy Maloletka/AP/dpa

Kommen denn die Hilfsgüter bei den Bedürftigen an?
In den größeren Städten gibt es immer noch die Möglichkeit, Notwendiges zu kaufen und dann zu verteilen. Wir besorgen uns aber zudem Hilfsgüter im Ausland, um sie dann in die Ukraine zu bringen. Erst vor zwei Tagen sind 200 Tonnen dort eingetroffen. Da ist vieles dabei: Trinkwasser, Lebensmittel, Matratzen und Decken. Lastwagen bringen das dann dorthin, wo die Hilfe besonders dringend gebraucht wird.

Bedeutet das, das IKRK hat Zugang zu den Menschen, die versorgt werden müssen?
Wir haben Zugang zu einigen Gebieten. Aber in anderen Regionen ist die Sicherheitslage so schlecht, dass wir erst einmal mit den Kriegsparteien verhandeln müssen, damit den Notleidenden geholfen werden kann.

Aber die Kontrahenten sind doch völkerrechtlich verpflichtet, die Sicherheit der Hilfstransporte zu gewährleisten und Zivilisten zu schützen, oder?
Es stimmt: Jede Kriegspartei ist dafür verantwortlich, diese Regeln einzuhalten. Dennoch braucht es gerade für umkämpfte Städte immer ganz handfeste Abkommen, um die Sicherheit der Hilfstransporte zu gewährleisten und die Flucht der Einwohner zu ermöglichen. Ohne solche Übereinkünfte geht es nicht. Für einige Orte funktioniert das – für andere nicht. Oft sind die Abkommen einfach nicht präzise genug. Dadurch kommt es schnell zu gegenseitigen Schuldzuweisungen, warum bestimmte Vereinbarungen nicht eingehalten werden.

Martin Schüepp koordiniert für das Internationale Komitee vom Roten Kreuz die Ukraine-Hilfe.
Martin Schüepp koordiniert für das Internationale Komitee vom Roten Kreuz die Ukraine-Hilfe.

© IKRK

Was brauchen die Menschen in der Ukraine am Dringendsten?
Sicherheit! Und eine Waffenruhe! Hunderttausende müssen derzeit Zuflucht in Kellern, U-Bahnhöfen oder Bunkern suchen, weil die Kampfhandlungen so heftig sind, dass ein halbwegs normales Leben unmöglich ist. Die Menschen sind traumatisiert und verängstigt, sie frieren und hungern. Deshalb appellieren wir auch immer an die Konfliktparteien, auf die Zivilbevölkerung und Einrichtungen wie Kliniken und Schulen Rücksicht zu nehmen. Aber von der Sicherheit einmal abgesehen: Die Ukrainer brauchen alles. Wasser ist knapp, die Lebensmittel reichen nicht aus, Medikamente fehlen.

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In den umkämpften Zonen gibt es viele Krankenhäuser, Gesundheitszentren und Arztpraxen. Können dort Kriegsopfer und Kranke trotz der anhaltenden Gewalt versorgt werden?
In vielen Kliniken fehlen medizinische Geräte und Arzneien, um die Verwundeten zu versorgen. Wir bringen deshalb außer Material auch Chirurgen ins Land, die fachlich in der Lage sind, Verletzte zu behandeln.

Besonders verheerend soll die Lage in Mariupol sein. Was geschieht dort?
Die Hafenstadt ist seit Tagen von der Außenwelt abgeschnitten. Es war deshalb nicht möglich, Hilfsgüter nach Mariupol zu bringen. Die schätzungsweise 200.000 Menschen, die noch dort ausharren müssen, verstecken sich in Kellern. Die Leute riskieren unter Lebensgefahr, an Wasser zu kommen oder Essbares aufzutreiben. Die Lage ist verheerend und verschlechtert sich stündlich. Aus diesen Gründen dringen wir als Internationales Komitee vom Roten Kreuz darauf, die Menschen aus der Stadt entkommen zu lassen.

Wenn der Krieg noch länger dauert,…
Dann könnte der Einsatz in der Ukraine einer der größten in der Geschichte des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz werden.

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