zum Hauptinhalt
Eine Frau und ihr Kind müssen in Kiew vor dem russischen Beschuss fliehen.

© Reuters/State Emergency Service of Ukraine

Experte über das Leid der Kinder in der Ukraine: „Sie zittern und sie weinen“

Welche Folgen hat der Krieg für ukrainische Kinder? Pete Walsh von „Save the Children“ über Notsituationen, traumatische Erlebnisse und getrennte Familien.

Pete Walsh arbeitet für Save the Children und kümmert sich als Landesdirektor um die Hilfe in der Ukraine. Er ist zudem bei der Organisation zuständiger Direktor für globale Sicherheit.

Herr Walsh, der Krieg in der Ukraine dauert schon mehr als vier Wochen. Welche Folgen hat das für jene Kinder, die noch im Land sind und nicht fliehen konnten?
Für viele Kinder in der Ukraine hat der Krieg nicht am 24. Februar begonnen, sondern schon 2014 mit dem Überfall auf die Ostukraine. Das gilt vor allem für die Regionen um Donezk und Luhansk. Die Eskalation, die vor gut vier Wochen begann, ist daher eine nochmalige Verschärfung der ohnehin äußerst schwierigen humanitären Lage im Osten des Landes.

Was heißt das konkret?
Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Vor Kurzem traf ich Sofia, ein 16-jähriges Mädchen aus Luhansk im Donbass. Sie lebte in den vergangenen acht Jahren dort mit ihrer Familie in permanenter Angst vor Bombardements und Gefechten. Schließlich entschieden sie, nach Charkiw im Nordosten der Ukraine zu fliehen. Sie wollten einfach dem Krieg entkommen. Doch der Krieg ließ sie nicht entkommen: Am 24. Februar wurde ihr Haus durch einen russischen Angriff teilweise zerstört. Also packten sie wieder ihre Habseligkeiten zusammen und machten sich auf den Weg in den Westen der Ukraine. Dort sind sie im Moment zum Glück in Sicherheit.

[Aktuelle Entwicklungen im Ukraine-Krieg können Sie hier in unserem Newsblog verfolgen.]

Schätzungen zufolge leben noch sechs Millionen Kinder in der Ukraine, viele von ihnen unter permanenter Lebensgefahr. Wie kann ihnen geholfen werden?
Viele leben nach wie vor in jenen Regionen, in denen besonders heftig gekämpft wird. Dazu gehören die Hauptstadt Kiew, Charkiw und Mariupol. Dort müssen sich die Menschen in Bunkern und Kellern verstecken – wenn es sie gibt. Sie leben also mit der ständigen Angst, verletzt zu werden oder sogar ums Leben zu kommen. Versuchen Sie sich das einmal vorzustellen! Tag ein, Tag aus müssen die Familien mit diesem Ausnahmestress zurechtkommen. Das hat gerade für Kinder immense psychische Folgen.

Kinder suchen Schutz in einem Keller in der ukrainischen Ortschaft Drohobych.
Kinder suchen Schutz in einem Keller in der ukrainischen Ortschaft Drohobych.

© Viacheslav Ratynskyi/Reuters

Wie äußert sich das?
Sie schreien und zittern nach derartigen Attacken, sind depressiv, manchmal auch aggressiv und isolieren sich von anderen Kindern. Jüngere können nicht reden oder sich auf andere Art und Weise ausdrücken, leiden unter Panikattacken und können oft weder schlafen noch essen. Bei Älteren hat das Erlebte schwere Alkohol- und Drogenprobleme zur Folge.

Die russischen Bombardements werden immer intensiver und flächendeckender. Können Eltern mit ihren Kindern überhaupt noch Schutz finden?
Das wird immer schwieriger. Denn inzwischen werden ja auch zivile Ziele verstärkt attackiert. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation WHO sind bislang 67 Angriffe auf Kliniken und andere Gesundheitseinrichtungen gezählt worden. Das ukrainische Bildungsministerium berichtet von 450 Attacken auf Schulen, 80 sollen völlig zerstört worden sein. Dabei sollten Schulen ein Ort des Schutzes sein und nicht der Angst!

Ratlos nach der Flucht sind viele Mütter mit ihren Kindern, wie hier an der polnisch-ukrainischen Grenze.
Ratlos nach der Flucht sind viele Mütter mit ihren Kindern, wie hier an der polnisch-ukrainischen Grenze.

© Angelos Tzortzinis/AFP

Aber Schulen und Krankenhäuser gehören zu Einrichtungen, die das humanitäre Völkerrecht unter besonderen Schutz stellt. Das scheint im Ukrainekrieg nicht gewährleistet, oder?
Alle Kriegsparteien sind dazu verpflichtet, die Regeln des humanitären Völkerrechts und der Genfer Konvention einzuhalten. Deshalb fordern wir auch immer, massive Bombardements städtisch geprägter Regionen zu unterlassen. Denn gerade dort suchen ja Frauen, Männer und Kinder Zuflucht.

[Alle aktuellen Nachrichten zum russischen Angriff auf die Ukraine bekommen Sie mit der Tagesspiegel-App live auf ihr Handy. Hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen]

Bislang sind nach offiziellen Zahlen weit mehr als 100 Mädchen und Jungen den Angriffen zum Opfer gefallen, viele Hundert wurden verletzt. Wie kann ihnen unter Kriegsbedingungen geholfen werden?
Jedes Kind, das stirbt, ist eines zu viel! Die WHO zählt bis heute 70 getötete Kinder. Aber es werden sicherlich viel mehr sein. Trotz der Angriffe versuchen alle Hilfsorganisationen vor Ort, die Mädchen und Jungen so gut wie möglich zu unterstützen mit allem, was sie benötigen. Dazu gehören Lebensmittel ebenso wie psychologische Unterstützung und medizinische Behandlung. Wir verteilen deshalb zum Beispiel Einkaufsgutscheine oder Geld. Die Geflüchteten mussten ja häufig alles zurücklassen.

Pete Walsh arbeitet für die Hilfsorganisation Save the Children und ist als Landesdirektor zuständig für die Ukraine.
Pete Walsh arbeitet für die Hilfsorganisation Save the Children und ist als Landesdirektor zuständig für die Ukraine.

© Save the Children

Die Kämpfe haben etwa jedes fünfte Kind in der Ukraine – mehr als 1,5 Millionen – zur Flucht gezwungen. Oft sind sie allein unterwegs. Was wird aus ihnen?
Von den weit mehr als drei Millionen Geflüchteten, die die Ukraine bisher schon verlassen mussten, sind 90 Prozent Mütter mit ihren Töchtern und Söhnen. Eine unserer zentralen Aufgabe ist es, erst einmal herauszufinden, welche Kinder von ihren Familien getrennt wurden und nun allein unterwegs sind. Wir als Save the Children setzen alles daran, diese Familien wieder zusammenzubringen. Dass die Kinder von anderen, fremden Menschen in einem fremden Land aufgenommen werden, halten wir für keine so gute Idee. Denn das würde für die aus einer Kriegszone kommenden, traumatisierten Kinder nur eine weitere extreme Stresssituation bedeuten.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false