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Ein neues Gesetz soll besser vor Kindesmissbrauch schützen.

© dpa

Experte kritisiert neues Sexualstrafgesetz: „Eine erhebliche zusätzliche Belastung für Missbrauchs-Opfer“

Das neue Sexualstrafgesetz soll den Kampf gegen Missbrauch verbessern. Der Regierungsbeauftragte Rörig sagt: Genau das Gegenteil wird passieren.

Johannes-Wilhelm Rörig (60) ist seit 2011 der Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs. Er war zuvor unter anderem Richter an einem Arbeitsgericht.

Anfang Dezember debattiert der Rechtsausschuss des Bundestags über das geplante neue Sexualstrafrechts-Gesetz, das unter anderem härtere Strafen für Missbrauch vorsieht. Alle Parteien haben diese Gesetzreform begeistert begrüßt. Sind Sie auch so euphorisch?
Die Reform hat viele gute Punkte, legt Ermittlern, Richtern und Staatsanwälten aber auch einige veritable Probleme auf den Tisch. Insgesamt ist es aber gut, dass mehr Missbrauchshandlungen als bisher als Verbrechen eingestuft werden.

Nach dem neuen Gesetz werden Taten, die bisher als Vergehen gelten und eine Mindeststrafe von unter einem Jahr haben, als Verbrechen definiert.
Im Moment gelten sehr viele Taten als Vergehen. Wenn jemand zum Beispiel ein Geschlechtsteil eines Kindes manipuliert, aber nicht in seinen Körper eindringt, so ist das nach aktueller Gesetzeslage ein Vergehen. In einem solchen Fall ist die Heraufstufung zum Verbrechen meiner Meinung nach genau richtig.

Aber es gibt auch andere, weniger dramatische Fälle, etwa, wenn eine 13-Jährige sich in einen 21-Jährigen verliebt und Beide sich wenige Tage vor ihrem 14. Geburtstag einen Zungenkuss geben. Auch das ist aktuell – zu Recht – strafbar. In Zukunft wäre dieser einmalige Kuss jedoch ein Verbrechen mit einer Mindestfreiheitsstrafe von einem Jahr, selbst dann, wenn Beide noch Jahre später eine, inzwischen legale, Beziehung führten.

Wir kennen auch den Fall eines Großvaters, der seiner Enkelin mit sexueller Absicht an die bekleidete Brust gegriffen hat. Danach schämte er sich so, dass er sich selber bei der Polizei anzeigte und auch seiner Familie alles beichtete. Auch dieser Fall wäre in Zukunft ein Verbrechen.  Diese pauschale Heraufstufung, welche die Reform vorsieht, bringt aus meiner Sicht verschiedene Probleme mit sich und ist daher für mich nicht uneingeschränkt gut..

Weil jetzt minderschwere Taten gleich als Verbrechen behandelt werden?
Ja, man ist hier vielleicht zu schnell populistischen Forderungen gefolgt. Das Strafrecht als schärfstes Schwert des Staats wird dann bei bestimmten Taten unverhältnismäßig eingesetzt. Es ist völlig richtig, dass Taten wie das Berühren der primären Geschlechtsorgane in Zukunft als Verbrechen eingestuft werden.

Aber wenn der Zungenkuss mit einer fast 14-Jährigen künftig als Verbrechen gilt, kommen wir in Bereiche, die ich schwierig finde. Strafbar ist eine solche Handlung richtigerweise schon jetzt; aber man muss einem Gericht auch noch die Möglichkeit geben, den Unrechtsgehalt des konkreten Falles differenziert zu bewerten und die Strafe entsprechend zu verhängen.

Johannes-Wilhelm Rörig (61) ist Unabhängiger Missbrauchs-Beauftragter.
Johannes-Wilhelm Rörig (61) ist Unabhängiger Missbrauchs-Beauftragter.

© to: Doris Spiekermann-Klaas

Justizministerin Christine Lambrecht hatte sich tagelang geweigert, diesen Gesetzentwurf zu unterstützen, sie ist dann aber auf Druck der Öffentlichkeit und der Parteien eingeknickt. Haben Sie ihr Zögern verstanden?
Frau Lambrecht hat eine Kehrtwendung vollzogen, die ich grundsätzlich fachlich nachvollziehen kann. Leider wurde in der politischen Debatte dann aber zu wenig bedacht, dass es eine Vielzahl von unterschiedlichen Tathandlungen sexuellen Missbrauchs gibt. Nach meinem Eindruck ging es dabei Vielen um die Botschaft: Höchststrafe für Missbrauchstäter.

Die Politiker hatten die fürchterlichen Fälle von Lügde, Bergisch Gladbach und Münster vor Augen...
Ja, genau, und da kommen wir zu der paradoxen Entstehungsgeschichte zu diesem neuen Gesetz: Diese monströsen Taten sind bereits nach aktueller Rechtslage Verbrechen, und in diesem Bereich soll durch die Reform nichts verändert werden.

Die Täter dieser Fälle sind teilweise schon zu Höchststrafen verurteilt worden, zum Teil mit anschließender Sicherungsverwahrung. Hier hat der Rechtsstaat überwiegend bereits die härtesten Maßnahmen verhängt, die es gibt, er hat so reagiert, wie Politiker das fordern.

Es mag aus dem Mund eines Missbrauchsbeauftragten seltsam klingen: Aber die Breite der strafrechtlich relevanten Übergriffe ist enorm, und es gibt auch weniger schwerwiegende Fälle des Missbrauchs, die wir auch im Blick haben müssen. Kritik an dem Gesetzentwurf kommt ja nicht nur von mir. Auch renommierte Strafrechtswissenschaftler, hochrangige Richter, Staatsanwälte sowie Experten aus der Kinderschutzszene haben große Bedenken.

Welche?
Ich beginne mal mit dem Wegfall des Strafbefehl-Verfahrens. Statt Anklage zu erheben, kann die Staatsanwaltschaft nach Abschluss ihrer Ermittlungen bei Gericht den Erlass eines Strafbefehls beantragen. Auf diese Weise können ohne mündliche Hauptverhandlung eine Geldstrafe oder eine Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr verhängt werden, aber natürlich nur, wenn der oder die Angeklagte keinen Einspruch einlegt.

In Verfahren wegen sexuellen Missbrauchs kommt ein solcher Strafbefehl etwa dann in Betracht, wenn die Beweislage unsicher ist, was leider häufig der Fall ist. Denn oft gibt es ja nur die Opferaussage als Beweismittel. Trotz unsicherer Beweislage nehmen viele Angeklagte einen solchen Strafbefehl an, um auf diese Weise der Aufmerksamkeit einer öffentlichen Verhandlung zu entgehen. Den Betroffenen erspart man gleichzeitig einen mitunter viele Monate dauernden Prozess mit unsicherem Ausgang.

Wenn sie ihn annehmen, sind sie ja schuldig. Weshalb dann keine Verhandlung?
Weil die Beweislage oft nicht eindeutig ist. In der Praxis wird dann häufig das Gespräch mit der Verteidigung gesucht und die Möglichkeit eines Strafbefehls besprochen. Wenn klar ist, dass es diese Möglichkeit gibt, folgt oft ein Geständnis.

Dann hat man zudem eine Verurteilung, die im erweiterten Führungszeugnis eingetragen wird. Damit kann so jemand nicht mehr oder fast nicht mehr mit Kindern und Jugendlichen arbeiten. Da Strafbefehle jedoch nur bei Vergehen möglich sind, entfällt diese Möglichkeit bei einer Heraufstufung zum Verbrechen. Aber es gibt noch weitere Kritikpunkte.

Ja, welche?
Das sagen mir Staatsanwälte aus der Praxis: Aktuell zeigen sich Angeklagte, zumindest in Fällen mit einem geringeren Unrechtsgehalt, recht häufig geständig. Steht jedoch ein Verbrechensvorwurf, mit einer entsprechend hohen Strafandrohung, im Raum, ist es damit schnell vorbei.

Einerseits haben wir bei Verbrechen stets einen Verteidigerzwang, wodurch den Beschuldigten bereits im Ermittlungsverfahren grundsätzlich geraten wird, zu schweigen. Dies wird auch zu einem erhöhten Einsatz von aussagepsychologischen Begutachtungen der geschädigten Zeuginnen und Zeugen führen.

Andererseits wird es in der späteren Hauptverhandlung viele konfrontative Verteidigungen geben, weil die Anwälte befürchten müssen, dass es zu einer hohen Verurteilung kommen wird. Sie werden die Verfahren torpedieren und in die Länge ziehen.

Auch ist zu befürchten, dass die betroffenen Kinder häufiger als jetzt und selbst im Fall einer nach allen Regeln stattgefundenen Videovernehmung in der Hauptverhandlung nachvernommen werden müssen, weil Verteidiger darauf bestehen. All dies bedeutet eine erhebliche zusätzliche Belastung für Betroffene, die in  den Blick zu nehmen sind.

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Die Zahl der Verurteilungen wird demnach also sinken?
Ja, und noch etwas: Diverse Anklagen werden erst gar nicht erhoben, weil die Staatsanwaltschaft abschätzen muss, wie groß die Chancen auf eine Verurteilung sind. Gut möglich, dass ein Verfahren im Zweifel dann eher eingestellt wird.

Gibt es denn im Gesetzentwurf überhaupt noch Taten, die als Vergehen definiert werden?
Ja, die gibt es weiterhin in den neuen Paragraphen 176a und 176b StGB. Es handelt sich hierbei um alle Tathandlungen ohne Körperkontakt. Außerdem soll es die Möglichkeit geben, von Strafe abzusehen, wenn Kind und Täter in Alter und Entwicklungsstand ähnlich sind und die sexuelle Handlung einvernehmlich geschieht. Diese Regelung, die etwa den Zungenkuss eines 13-Jährigen mit einer 14-Jährigen im Blick hat, begrüße ich sehr.

Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD).
Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD).

© Britta Pedersen/dpa

Wenn es jetzt nur noch Hauptverhandlungen geben wird, benötigt man ja auch mehr Personal. Gerichte und Staatsanwaltschaften sind aber chronisch unterbesetzt? Wie viele neue Stellen müssen geschafft werden?
Die Schöffengerichte und die Landgerichte, die auch in Zukunft zuständig sein werden, sind jetzt schon überlastet. Wenn jetzt auch noch das neue Gesetz kommt und die Gerichte noch mehr Verfahren auf den Tisch bekommen, dann wird es zu einer veritablen Mehrbelastung der Strafjustiz kommen. Der Deutsche Richterbund hat da schon sehr deutliche Worte gefunden. Aber auch die Staatsanwaltschaften werden viel mehr Arbeit bekommen.

Ich vertrete die Belange von Betroffenen, ich muss darauf achten, dass die Verfahren beschleunigt ablaufen. Wenn sich aber Verfahren verzögern, weil nicht genug Personal im System ist und kurzfristig auch nicht einfach herbeigezaubert werden kann, kann das bei Kindern und Jugendlichen zu zusätzlichen Retraumatisierungen führen.

Das bedeutet, die Länder müssen ihr Personal in der Justiz dringend erhöhen.
Unbedingt, ganz dringend. Die Länder können jetzt schon mit dem Ausschreibungsverfahren für neue Richterinnen und Richter, aber auch für Staatsanwaltschaften beginnen.

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Sollte es diesen Personalausbau nicht geben, werden die Verfahrensdauern dann weiter ansteigen?
Die Gefahr besteht durchaus. Staatsanwälte müssen ja jetzt schon stark priorisieren und stehen unter einem hohen Erledigungsdruck. Bisher bestehen vielfältige Möglichkeiten, leichtere Vergehen vergleichsweise schnell zu erledigen, etwa durch Strafbefehl oder notfalls eine Einstellung gegen Auflagen. Ein solches Vorgehen ist oftmals leider notwendig, um sich für die schweren Fälle Kapazitäten zu schaffen.

Aber wenn jetzt auf einmal alle Taten Verbrechen sind, fallen diese Möglichkeiten weg, und eine Priorisierung wird deutlich erschwert. Hier besteht ein hohes Risiko, dass gerade die schwereren, häufig komplizierten und zeitaufwendigen Fälle nur noch verzögert bearbeitet werden, weil schlicht keine Kapazitäten bestehen.

Und dieses Problem wird sich auch durch das anschließende gerichtliche Verfahren ziehen. Können bisher die leichteren Fälle vor dem Einzelrichter am Amtsgericht verhandelt werden, sind zukünftig allein Schöffen- und besonders Landgerichte zuständig.

Neben einer höheren personellen Besetzung – an den Landgerichten wird mindestens mit zwei Berufsrichtern und zwei Schöffen verhandelt – werden auch weitere Säle benötigt, in denen die Verhandlungen stattfinden können. All dies muss im Blick behalten werden, damit das ebenfalls im Gesetzentwurf enthaltene und wichtige und richtige Beschleunigungsgebot nicht leerläuft.

In welcher Weise konnten Sie bisher Ihren Sachverstand einbringen?
Ich bin im Sommer von der Bundesjustizministerin Christine Lambrecht zum Dialogverfahren eingeladen worden, da habe ich meine Kritikpunkte vorgebracht. Und natürlich im Rahmen der Ressortabstimmung, in die ich als Beauftragter der Bundesregierung einbezogen war.

Das parlamentarische Verfahren läuft noch. Welche Änderungen fordern Sie?
Mir wäre es sehr recht, wenn die Parlamentarier sich noch einmal vor Augen führten, dass es nicht den einen Fall des sexuellen Missbrauchs beziehungsweise der sexualisierten Gewalt gegen Kinder, gibt. Jedes Gesetz muss so ausgestaltet sein, dass es sowohl den schwersten vorstellbaren Fall erfasst – so wie die monströsen Taten von Münster – aber auch den allerleichtesten Fall, wie eben, überspitzt formuliert, den Kuss am Abend vor dem 14. Geburtstag. Jedes Gesetz muss so ausgestaltet sein, dass die Gerichte in der Lage sind, jeden Täter und jede Täterin entsprechend seiner oder ihrer konkreten Tat und Schuld angemessen verurteilen zu können – dies ist die Aufgabe des Gesetzgebers.

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