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Der ehemalige Verfassungsrichter Dieter Grimm.

© Wissenschaftskolleg

Ex-Verfassungsrichter im Interview: „Würde mich über eine Bereinigung des Grundgesetzes freuen“

Der frühere Verfassungsrichter Dieter Grimm zieht nach 70 Jahren Grundgesetz Bilanz. Heute ist es doppelt so lang wie 1949. Ein Interview.

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Dieter Grimm (82) war von 1987 bis 1999 Richter am Bundesverfassungsgericht. Davor lehrte der Rechtswissenschaftler und Verfassungshistoriker an der Universität Bielefeld, danach an der Humboldt-Universität. Von 2001 bis 2007 war er Rektor des Berliner Wissenschaftskollegs, wo er bis heute tätig ist. Mit dem Tagesspiegel sprach er darüber, wieso die Deutschen ihr Grundgesetzt in Ehren halten und wie sich seine Bedeutung in Zukunft verändern könnte.

Herr Professor Grimm, wenn Menschen 70. Geburtstag feiern, schauen viele zurück. Wie ist das, wenn eine Verfassung so alt wird – soll man da zurückschauen oder eher in die Zukunft?

Beides. Man will nach 70 Jahren ja gern wissen, ob sie noch auf der Höhe der Zeit ist. Aber man will auch wissen, wie es ihr gelungen ist, 70 Jahre alt zu werden. Das ist ja nicht selbstverständlich. Keine deutsche Verfassung erreichte dieses Alter. Wenige ausländische Verfassungen sind älter als das Grundgesetz. Wie konnte es dazu kommen?

Und wie lautet Ihre Antwort?

Am einfachsten wäre es zu sagen: Es ist nun mal eine gute Verfassung. Doch auch die Weimarer Verfassung war nicht schlecht. Sie hat aber nur 14 Jahre gegolten.

Ob sich eine Verfassung bewährt, hängt offenbar nicht nur von der juristischen Qualität ihres Textes ab, sondern auch von den Umständen, unter denen sie wirkt. Und diese sind dem Grundgesetz günstig gewesen. Ohne Fundamentalgegner, bei stetig steigendem Wohlstand, stabilen Regierungen, politischen Konflikten, die, auch wenn sie heftig waren, immer auf dem Boden der Verfassung ausgetragen wurden, erwarb es sich allmählich hohe Wertschätzung und entfaltete am Ende nicht nur juristische, sondern auch symbolische Kraft.

Normalerweise sind für die Identität einer Gesellschaft Faktoren wie Nation, Geschichte, Kultur von Bedeutung. Sie alle standen in der Zeit der deutschen Teilung nicht zur Verfügung. Diese Lücke füllte das Grundgesetz. Die westdeutsche Identität war stark von ihm abgeleitet.

Sie meinen damit den „Verfassungspatriotismus“…

Ja. Der konservative Politikwissenschaftler Dolf Sternberger hat diesen Begriff geprägt, der linke Sozialphilosoph Jürgen Habermas hat ihn popularisiert. Auch nach der Wiedervereinigung steht das Grundgesetz aber weiter in hohem Ansehen. Die Deutschen halten es in Ehren – etwas weniger im Osten als im Westen, was ich aber nicht verwunderlich finde. Im Osten gilt es eben erst seit 29, nicht seit 70 Jahren.

Sollte das Grundgesetz nach dem Zweiten Weltkrieg ein Gegenentwurf sein zum Menschen- und Gesellschaftsbild der Nationalsozialisten?

So war es gedacht. Es sollte aber auch einen nochmaligen Zusammenbruch der Demokratie verhindern, wie er in Weimar eingetreten war. Das ist gelungen. Westdeutschland konnte in den Kreis der zivilisierten Völker zurückkehren und sich zu einer stabilen Demokratie entwickeln. Das wurde dem Grundgesetz gutgeschrieben.

Es braucht also auch Gründe außerhalb einer Verfassung, damit sie Erfolg hat. Oder umgekehrt: Ohne Wirtschaftswunder wäre das gleiche Grundgesetz nicht zu einer solchen Erfolgsgeschichte geworden...

Der lang anhaltende wirtschaftliche Aufschwung hat viel zur Akzeptanz der neuen, vom Grundgesetz aufgerichteten Ordnung beigetragen. Wenn man die Entwicklung der Bundesrepublik unter dem Grundgesetz als Erfolgsgeschichte beschreibt, darf man aber auch das Bundesverfassungsgericht nicht vergessen. Denn eine Verfassung ist ja zunächst nur ein Text mit Geltungsanspruch. Seine Anforderungen müssen verwirklicht werden.

Ohne eine Instanz, die das garantiert, bleiben Verfassungen häufig blass oder werden folgenlos verletzt. Deshalb kann man den Beitrag des Verfassungsgerichts gar nicht hoch genug einschätzen. Es hat den Bürgern die Bedeutung des Grundgesetzes für die politische Praxis und die gesellschaftlichen Verhältnisse sozusagen täglich vor Augen geführt. In der Weimarer Republik fehlte eine solche Instanz.

Hinter der Weimarer Verfassung vor nunmehr 100 Jahren stand ein demokratischer Überschwang. Man wollte 1919 alles demokratisieren: Direktwahl des Parlaments, Direktwahl des Präsidenten, dazu noch plebiszitäre Elemente. Das Ergebnis war ein schwaches Parlament, das nicht verhindern konnte, dass die Republik unterging. Gingen die Väter und Mütter des Grundgesetzes demokratieskeptischer ans Werk, legten sie mehr Wert auf Stabilität und Regierungsfähigkeit?

Sie waren nicht generell demokratieskeptisch, aber sie hatten aus den Weimarer Erfahrungen gelernt. Der Reichstag mit seiner großen Zahl wenig kompromissfähiger Parteien war am Ende handlungsunfähig geworden. Davon profitierte der ebenfalls vom Volk gewählte Reichspräsident. Seit 1925 war es Hindenburg, der seine Macht im Unterschied zu seinem Vorgänger Ebert nicht zur Stärkung, sondern zur Schwächung der Demokratie einsetzte. Das Ende ist bekannt. Eine Wiederholung sollte nach dem Krieg durch eine Stärkung des Parlaments und eine dezidiert repräsentative Demokratie verhindert werden.

Sie erklären den Erfolg des Grundgesetzes, loben es. Was sehen Sie daran kritisch?

In der Gesamtanlage würde ich es nicht kritisieren. Im einzelnen gibt es das eine oder andere daran auszusetzen. Vor allem beklage ich, dass viele Verfassungsänderungen das Grundgesetz aufgebläht haben. Es ist heute doppelt so lang wie 1949. Nicht jede Änderung hat es verbessert. Das zeigt sich bei einzelnen Grundrechten, vor allem aber in der Regelung des Bund-Länder-Verhältnisses, namentlich den Finanzbeziehungen. Da gibt es Artikel, die sich über mehrere Seiten erstrecken. Viele sehen darin nur einen Schönheitsfehler. Es ist aber vor allem ein Demokratieproblem. Alles, was auf der Verfassungsebene geregelt ist, wird der Politik entzogen. Wahlen bleiben insoweit folgenlos. Je mehr man in die Verfassung schreibt, desto weniger Platz lässt man dem demokratischen Prozess.

Das heißt, der Raum für Politik wird eingeschränkt. Genau dieses Argument führen auch die Kritiker aus den Parlamenten und Parteien an, die Karlsruher Entscheidungen kritisieren. Zu Recht?

Einerseits wird durch Verfassungsrechtsprechung das Netz der Grenzen politischen Handelns immer enger. Andererseits macht das Verfassungsgericht aber auch oft gegenüber Kritik klar, dass die Politik das, was sie tat, auch tun durfte. Es werden ja viel mehr politische Entscheidungen in Karlsruhe bestätigt als beanstandet. Und schließlich gibt es viele Fälle, in denen das Gericht der Politik Spielräume eröffnet hat, die sie selbst nicht wahrgenommen hat oder ausschöpfen wollte.

Was wäre dafür ein Beispiel?

Das Bundesverfassungsgericht hat häufig das Parlament gegenüber der Regierung, aber auch gegenüber der EU in Stellung gebracht, zum Beispiel als es 1994 die Entscheidungsbefugnis über Out-of-area-Einätze der Bundeswehr dem Bundestag zugesprochen hat. Ganz ähnlich hat es die Rolle des Bundestages bei der Euro-Rettung gestärkt und den Entscheidungsspielraum betont, den europäische Richtlinien dem nationalen Gesetzgeber lassen.

Immer wieder hat das Verfassungsgericht sich auch in Wahlrechtsfragen geäußert. Hat es da immer glücklich agiert?

Die Karlsruher Rechtsprechung zum Wahlrecht hat gelegentlich geschwankt. Im Großen und Ganzen würde ich dem Gericht aber bescheinigen, dass es auch beim Wahlrecht eine heilsame Wirkung entfaltet hat. Das Wahlrecht zählt zu den grundlegenden Spielregeln der Demokratie. Gleichzeitig schlagen bei seiner Regelung aber die Eigeninteressen der größeren Parteien oft durch. Deswegen ist hier Kontrolle besonders dringend. Im Wesentlichen haben die Richter der Politik gesagt, was mit dem Grundgesetz nicht vereinbar ist, die Neuregelungen ihr aber überlassen.

Eine Einigung in Wahlrechtsfragen ist jedoch überaus schwierig, weil jeder Parteipolitiker sofort berechnet, wie sich eine Änderung auf seine Chancen bei der nächsten Wahl auswirkt. Bei der letzten Änderung hat man schließlich den bequemsten Weg gewählt. Der Preis war die Vergrößerung des Bundestags auf 709 Mandate. Es gibt Berechnungen, wonach im nächsten Bundestag bis zu 850 Abgeordnete sitzen könnten. Dazu darf es nicht kommen.

Würde es helfen, das Wahlrecht breiter im Grundgesetz zu verankern, also über die Grundsätze der allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahl hinaus auch die Grundzüge des Wahlsystems?

Man sollte die Grundlagen des Wahlsystems, also Verhältniswahl oder Mehrheitswahl oder ein Mischsystem, in der Verfassung festlegen, ebenso die Sperrklausel und das Verfahren der Umrechnung von Stimmen in Mandate. Denn all das gehört zu den Grundspielregeln der Parteienkonkurrenz, die man nicht einfachen Mehrheiten überlassen sollte. Überlegen Sie, was passieren könnte, wenn auch bei uns populistische Parteien eine Mehrheit errängen wie in Ungarn oder Polen und dann ein Wahlrecht nach ihrem Geschmack beschlössen.

Was halten sie von aktuellen Vorschlägen wie das Wahlalter auf 16 herabzusetzen?

Es gibt keine aus der Sache heraus begründbare Altersgrenze. Das Kriterium ist, ab wann man Jugendlichen die Wahlentscheidung zutraut. Ich habe kein prinzipielles Argument  gegen die Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre.

Auch beim passiven Wahlrecht, also bei der Wählbarkeit für politische Ämter?

Das muss man auseinanderhalten. Die Möglichkeit, in einem Staatsorgan als Repräsentant des Volkes politische Entscheidungen von großer Tragweite zu treffen, muss mindestens an die Volljährigkeit gebunden sein.

Und wie steht es mit dem Kinderwahlrecht, ausgeübt durch die Eltern?

Ich kann gut verstehen, warum es gefordert wird. Die Gesellschaft wird älter, und dementsprechend gewinnen die Interessen der Älteren bei der Wahl ein wachsendes Gewicht. Ein Wahlrecht der Eltern für ihre minderjährigen Kinder würde als Gegengewicht fungieren. Dabei wird allerdings stillschweigend vorausgesetzt, dass die Eltern die zusätzlichen Stimmen im Zukunftsinteresse ihrer Kinder abgeben und nicht ihren eigenen Gegenwartsinteressen ein höheres Gewicht verleihen. Wie wahrscheinlich ist das? Von der Antwort auf diese Frage hängt ab, ob man dem zustimmen kann oder nicht.

Verstößt das nicht gegen den Grundsatz „one man, one vote“, dass jeder nur eine Stimme haben soll?

Nicht wenn man das minderjährige Kind als „one man“ betrachtet, dessen Stimme von den Eltern lediglich treuhänderisch ausgeübt wird.  

Wir haben jetzt die Wahl zum Europäischen Parlament. Wie sehr haben europäische Einigung und Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs die Wirkungskraft des Grundgesetzes gemindert?

Mit jeder Kompetenzübertragung an die EU schrumpft der Einfluss des Grundgesetzes. Es regelt dann zwar noch die Übertragung. Für die Ausübung der übertragenen Kompetenzen durch die EU spielt es aber keine Rolle mehr. Es gibt also zahlreiche Akte der öffentlichen Gewalt, die in Deutschland Befolgung beanspruchen, ohne den Anforderungen des Grundgesetzes genügen zu müssen. Im Grundgesetz steht deswegen heute vieles, was gar nicht mehr stimmt.

Zum Beispiel?

Dass der Bund die ausschließliche Gesetzgebung über die Zölle und das Münzwesen hat. Nein, er hat gar keine Kompetenz in diesen Angelegenheiten mehr. Oder dass ein deutsches Gesetz nur vom Bundesverfassungsgericht außer Anwendung gesetzt werden darf. Tatsächlich kann das heute jeder Richter, ja sogar jeder Beamte, wenn er glaubt, es kollidiere mit EU-Recht. Ich sage das aber nicht im Klageton, denn es gibt keine europäische Integration ohne die Abtretung von Kompetenzen.

Eine andere Frage ist freilich, wie die abgetretenen Kompetenzen dann vom Europäischen Gerichtshof interpretiert werden, und er tut es sehr weiträumig. Dadurch werden die Anwendungsbereiche des Grundgesetzes weiter geschmälert.

Auf leisen Sohlen…

Ja, so habe ich das einmal beschrieben.

Woran liegt das? Ist das Richtereitelkeit?

Das wäre zu einfach. Es liegt vor allem daran, dass Richter dasjenige Recht, welches ihnen anvertraut ist, möglichst effektiv durchsetzen wollen. Das gilt für das Bundesverfassungsgericht ebenso, aber im nationalen Rahmen haben sich viele nirgends ausdrücklich aufgeschriebene, kulturelle Grenzen ausgebildet, die den Aktionsradius der Richter eingrenzen. Außerdem sind nationale Richter in viel engerem Kontakt mit der Gesellschaft, für die sie Recht sprechen als internationale. Sie stehen unter ständiger Beobachtung durch die Öffentlichkeit, die Medien, die Wissenschaft. Auf der internationalen Ebene fehlen diese Bindungen weitgehend. Deswegen ist der Europäische Gerichtshof freier als jedes nationale Gericht.

Wenn im Grundgesetz Artikel stehen, die gar nicht mehr angewendet werden können, und andere, die ziemlich unverständlich sind, sollte man da nicht mal eine Art Bereinigungsverfahren machen?

Überall wo das Grundgesetz durch Detailregelungen aufgebläht ist, die eher an eine Verwaltungsvorschrift als an eine Verfassung erinnern, würde ich mich über eine Bereinigung sehr freuen. Denkt man dagegen an die Bestimmungen, welche wegen Europa nicht mehr anwendbar sind, würde ich zur Vorsicht raten. Auch wenn man sich nicht wünschen kann, dass die EU einmal aufgelöst oder drastisch beschnitten wird, lässt sich das doch nicht ausschließen. In diesem Fall müssten all die betroffenen Artikel im Weg der Verfassungsänderung wieder ins Grundgesetz aufgenommen werden. Da lasse ich sie doch lieber gleich, sozusagen auf Vorrat, stehen.

Wer das Grundgesetz bis zum Ende liest, stößt auf den Artikel 146, mit dem sich die Verfassung sozusagen selbst mit einem Zweifel belegt. Das Grundgesetz verliert demnach seine Gültigkeit an dem Tag, „an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist“. Müsste dieser Artikel, letztlich ein Relikt aus der Zeit der Teilung, nicht dringend gestrichen werden?

Ich kenne außer dem Grundgesetz keine Verfassung, die für ihre eigene Abschaffung Vorsorge trifft. Aber wie Sie sagen, das Grundgesetz entstand als Provisorium für die Zeit der Teilung. Da war es durchaus sinnvoll, an den Moment zu denken, in dem das ganze deutsche Volk in freier Entscheidung über seine Verfassung würde entscheiden können. Aber dieser Moment ist vorüber, ohne dass es zu einer neuen Verfassung gekommen wäre.

In der Wiedervereinigungsphase wurde darüber intensiv debattiert. Die breite Mehrheit war für einen schnellen Beitritt der DDR, und auch die erste frei gewählte Volkskammer war dafür. Den Verfassungsentwurf des Runden Tisches nahm sie dankend entgegen und legte ihn zu den Akten. Der schnelle Beitritt nach dem damaligen Artikel 23 des Grundgesetzes hätte freilich die anschließende Einberufung einer verfassunggebenden Nationalversammlung, die dann von Artikel 146 Gebrauch gemacht hätte, nicht gehindert. Aber das ist nun vorbei. Heute sehe ich weder einen Anlass noch eine gute Perspektive für eine neue Verfassung.

Der Star des Grundgesetzes ist der Artikel 1 mit dem Satz „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Ein Kollege von Ihnen, Manfred Baldus, hat ihn als antitotalitäre Grundnorm bezeichnet, die dann aber zur beliebig eingeforderten Supernorm geworden sei. Wie sehen Sie die Entwicklung?

Im öffentlichen Diskurs spielt Artikel 1 eine große Rolle, auch bei Fragen, die mit dem emphatischen Würdebegriff wenig zu tun haben. Noch häufiger, geradezu inflationär, taucht er in Verfassungsbeschwerden auf. Die Beschwerdeführer machen dann nicht nur geltend, dass ihre Versammlungsfreiheit oder ihre Berufsfreiheit verletzt wurde, sondern auch, dass damit zugleich ihre Würde angetastet worden sei. Jeder weiß, dass die Menschenwürde ein besonders starkes Grundrecht ist und versucht, unter ihr Dach zu kriechen. Das Bundesverfassungsgericht hat sich darauf aber nie eingelassen. Die Menschenwürde ist nicht für Banalitäten gedacht. Deswegen ist die Zahl der Urteile, die ausdrücklich auf Artikel 1 gestützt wurden, minimal.

Ein bekannter Fall war das Luftsicherheitsgesetz, bei dem es um den Abschuss gekaperter Flugzeuge ging. Häufig wird der Artikel 1 von den Richtern allerdings als Interpretationshilfe für andere Grundrechte genutzt, die dadurch ihren Schutzbereich erweitern oder ihre Schutzwirkung vertiefen.

Es gibt auch den Artikel 21, wonach die Parteien bei der politischen Willensbildung mitwirken. Haben die Parteien diesen Artikel, der ja nicht zuletzt auch Parteiverbote ermöglichen sollte, etwas zu extensiv zu ihren Gunsten ausgelegt, um sich eine privilegiertere Position zu sichern, als die Mütter und Väter der Verfassung vielleicht gewünscht haben?

Der Grund für den Artikel war nicht die Verbotsmöglichkeit. Verbote waren auch schon zu Weimarer Zeiten möglich, und zwar durch die Exekutive, also einfacher als heute. Der Artikel kam eher ins Grundgesetz als Reaktion auf die Aversion gegen politische Parteien in Deutschland vor 1933. Sie sollten als unerlässliche Bestandteile der repräsentativen Demokratie bestätigt werden. Aber es ist richtig, dass die Parteien mit dem verfassungsrechtlichen Pfund der Mitwirkung an der Willensbildung kräftig gewuchert haben.

Was konkret meinen Sie damit?

Sie haben sich in staatliche oder gesellschaftliche Bereiche hineingedrängt, in denen politische Kriterien gerade keine Rolle spielen sollte, sondern fachliche, juristische publizistische. Parteizugehörigkeit spielt für das Fortkommen in der öffentlichen Verwaltung eine Rolle. Bei den Leitungsfunktionen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk kommt es auf die Parteinähe an. Die Parteien haben bei den Richterwahlen die Hand im Spiel. Öffentliche Betriebe werden gern zur Versorgung von Politikern genutzt. Das trägt zum Parteienverdruss bei. Trotzdem muss eines bekräftigt werden: Es gibt keine pluralistische Demokratie ohne Parteien.

Dieter Grimm (82) war von 1987 bis 1999 Richter am Bundesverfassungsgericht. Davor lehrte der Rechtswissenschaftler und Verfassungshistoriker an der Universität Bielefeld, danach an der Humboldt-Universität. Von 2001 bis 2007 war er Rektor des Berliner Wissenschaftskollegs, wo er bis heute tätig ist.

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