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Ein Plattenbau in Dresden, wie auch für Igor Marfut und seine Familie ein Zuhause war.

© imago/Westend61

Ex-Sowjetsoldat zum Mauerfall: „Unsere Bosse erwogen, schärfste Maßnahmen zu ergreifen“

Igor Marfut erlebte die Wende als sowjetischer Offizier in Dresden: Alle warteten auf Befehle aus Moskau. Heute hat er in Deutschland sein Glück gefunden.

Von Matthias Meisner

Am 9. November 1989 sei er „ganz nah dran“ gewesen, sagt Igor Marfut. Der aus Dnjepropetrowsk in der Ukraine stammende Offizier der Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte, damals 23 Jahre alt, war in Dresden stationiert. Und hatte am Abend nicht zu Unrecht das Gefühl, dass er „Zeuge einer Revolution“ wird. Entschieden war nichts: „Unsere Bosse erwogen, schärfste Maßnahmen zu ergreifen“, sagt Marfut über die Geschehnisse vor 30 Jahren in der Kaserne.

Als sogenannter „Verbindungsoffizier“ und Dolmetscher hatte Marfut die Aufgabe, öffentlich zugängliche Quellen auszuwerten – und mit Kameraden zu verfolgen, was beispielsweise im Radio berichtet wurde über die Geschehnisse in der DDR. Die Sowjetarmee unterhielt eigene Kontakte zur Volkspolizei, zur SED – und auch zu gesellschaftlichen Organisationen wie dem Gewerkschaftsbund FDGB. Wladimir Putin, der zu jener Zeit für den sowjetischen Geheimdienst KGB in Dresden war, kannte er nicht, wie er erzählt.

Marfuts Familie hatte eine Dreiraumwohnung in einem Plattenbau nahe der Kaserne. Am 9. November wurden er und die anderen Verbindungsoffiziere ins Hauptquartier einbestellt. Nur ganz kurz durften alle schlafen, die Fernseher liefen ununterbrochen, wie er sich erinnert. „Alle warteten auf Befehle aus Moskau: eingreifen oder nicht?“ Hin- und hergerissen war Marfut selbst – aufs Äußerste gespannt, was passieren würde. „Auf der einen Seite war das ermunternd. Auf der anderen Seite sehr bedrohlich“, sagt er. Erinnerungen wurden wach an den Volksaufstand in Ungarn 1956 und die Niederschlagung des „Prager Frühlings“ 1968.

Heute, im Rückblick, erzählt sich alles einfacher: „Das war ein Super-Tag für Deutschland“, sagt Marfut. „Wie gut, dass sich Kohl und Gorbatschow geeinigt haben, dass unsere Truppen nicht eingeschritten sind. Große Politik war das damals. Und wir waren dabei.“ Aber ihm ist auch klar, dass die Möglichkeit real war, die Sowjetarmee könne die Proteste in der DDR niederschlagen. „Und wir hätten unsere Pflicht getan“, gibt er zu.

Igor Marfut war zu jenem Zeitpunkt erst gut ein Jahr in Dresden stationiert. In Moskau an der Militärakademie hatte er Englisch studiert. Deutsch lernte er erst in Dresden: an der Volkshochschule sowie per Fernkurs, per Kurier hin und her nach Moskau und zurück gingen die Hausaufgaben. Seine Frau Lena und sein Sohn Nikita, geboren im Dezember 1988, waren erst im Juni 1989 nach Dresden gekommen.

Nach der Wende:

Nach dem Mauerfall änderte sich für Igor Marfut und seine Familie alles. Seine Bezüge wurden nach 1990 in konvertibler Währung bezahlt, aus 730 Ost-Mark wurden 730 D-Mark, umgerechnet wurden damit aus 250 Rubel nun 2500 Rubel. Der Verbindungsoffizier bekam neue Aufgaben und musste beispielsweise Journalisten durch die Kaserne führen, die sich ein Bild vom Leben dort machen wollten. Selbst in den USA erschien ein Porträt über Marfut und seine Familie.

Die Nachrichtenagentur dpa veröffentlichte 1991 einen Korrespondentenbericht über den Kasernenalltag: „20 Päckchen Zigaretten pro Monat gibt’s umsonst. Nichtraucher bekommen eine Extraportion Zucker“, hieß es darin. Die Verbindungsoffiziere erzählten Journalisten aber auch, dass die deutsche Polizei nur zuschaue, wenn rechtsextreme Skinheads vor der Kaserne „Russen-Schweine raus“ grölten. „Das hat uns schon verblüfft.“

Als Privatmann in Deutschland glücklich geworden: Igor Marfut.
Als Privatmann in Deutschland glücklich geworden: Igor Marfut.

© Angelika Stehle

[Igor Marfut, 53, stammt aus Dnepropetrovsk in der Ukraine, war Soldat und blieb nach dem Abzug der Sowjetarmee in Deutschland. Inzwischen leitet er seine eigene Firma und lebt mit seiner Familie in Essen.]

1992, mit dem Zerfall der Sowjetarmee, stand Marfut vor der Frage, ob er sich als Ukrainer der russischen Armee anschließen sollte. „Du bist verrückt, das nicht zu tun“, sagten ihm Freunde mit Blick auf den inzwischen hohen Sold. Aber er entschied sich anders, wurde auf eigenen Wunsch aus der Armee entlassen und nahm eine Ausbildung mit bezahltem Praktikum an der Berufsakademie im nordbadischen Mosbach auf. Abends und an Wochenenden arbeitete er als Dolmetscher und Übersetzer. Ende 1995 stieg er bei einer kleinen Import-Export-Firma in Mülheim an der Ruhr ein.

Ein kleiner Beitrag zur deutsch-ukrainisch-russischen Annäherung

2001 gründete er sein eigenes Unternehmen, die Eurolinex GmbH in Essen. Die drei mittleren Buchstaben im Firmennamen stehen für Lena, Igor und Nikita. Und Euro für „europäisch orientiert“, wie Marfut betont. Medizintechnik in die Ukraine, Holz aus der abtrünnigen georgischen Teilrepublik Abchasien, Wodka aus der Ukraine: Es gab die verschiedensten Geschäftsideen, mit mehr oder weniger Erfolg.

Inzwischen hat sich die Firma auf den Handel mit Rohstoffen und Stahlerzeugnissen spezialisiert, die meisten Geschäfte laufen zwischen Deutschland auf der einen sowie Russland, der Ukraine und Kasachstan auf der anderen Seite. 15 Mitarbeiter hat die Firma, der Jahresumsatz liegt bei 30 Millionen Euro. Igor Marfut hat inzwischen einen deutschen Pass. „Ich freue mich, einen kleinen Beitrag zur deutsch-ukrainisch-russischen Annäherung geleistet zu haben“, sagt er.

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