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Thomas de Maizière (CDU).

© Kay Nietfeld/dpa

Ex-Minister Thomas de Maizière im Interview: „Die Krise ist der Normalfall“

CDU-Politiker Thomas de Maizière über einen nationalen Krisenstab, die Grünen auf dem Weg zur Volkspartei und seine schrecklichste Zeit in Berlin.

Von
  • Robert Birnbaum
  • Hans Monath

Sie sind 2016 als Innenminister kritisiert und sogar verlacht worden, als Sie die Menschen aufriefen, Notvorräte anzulegen. Eine Pandemie und eine Flutkatastrophe weiter: Denken Sie manchmal, die hätten besser alle nicht gelacht?
In der Tat zeigte diese Reaktion auf unser Zivilschutzkonzept, dass die Bevölkerung, aber auch die Mehrheit der politischen Führung innerlich noch nicht auf Krisen eingestellt war. Das hat sich aber mittlerweile gründlich geändert. Und das finde ich gut.

Aber hat nicht die Hochwasser-Katastrophe wieder klare Defizite aufgezeigt, die rasch beseitigt gehören?
Ich finde, man sollte jetzt nicht vorschnell alle möglichen Dinge machen und glauben, dann wäre man beim nächsten Mal gut vorbereitet. Es braucht, aber erst nach den Wahlen, eine gründliche Aufarbeitung. Und die muss mit der Erkenntnis beginnen, dass die Krise der Normalfall ist, ein fester Teil der politischen Normalität.

Zeigt nicht die damalige Reaktion auf Ihre Vorschläge, wie schwer dieser Gedanke vermittelbar ist? Niemand will sich ständig bedroht fühlen!
Das stimmt. Aber im Grunde müssen wir doch nur unser privates Verhalten auf das öffentliche Leben übertragen. Privat versichern wir uns ja auch gegen Diebstahl oder Feuer, und trotzdem leben wir nicht in täglicher Angst vor Einbruch oder Unfällen. Uns eines Risikos bewusst zu sein und trotzdem nicht ständig davor zu zittern - das sind wir doch gewohnt.

Ihre Empfehlung gilt weiter, Trinkwasser oder Kerzen auf Vorrat zu halten?
Na klar gilt die. Allerdings geht es nicht darum, die Präventionslasten einseitig auf die Bürger zu verlagern. Deutschland muss insgesamt krisenresilienter werden.

Braucht das einen bestimmten Typus Politiker, oder kann man das lernen?
Lernen ist ein gutes Stichwort. Ausnahmesituationen muss man nämlich üben. Im Kalten Krieg zogen Bundeskanzler und Minister regelmäßig für ein paar Tage in den Regierungsbunker an der Ahr und übten einen Katastrophenfall. Heute üben im Grunde nur noch die Fachleute. Aber die Führung muss auch Krise üben.

Nun dachte man damals im Bunker an den Atomkrieg. Viele Krisen heute kommen unberechenbarer daher – Finanzkrise, Eurokrise, Coronakrise ...
Deshalb plädiere ich dafür, einen Krisenstab für überregionale Krisenlagen einzurichten.

Ladenöffnungszeiten sind keine Führungsentscheidung

Was soll der besser machen als die Ad-hoc-Krisenrunden der letzten Jahre?
Heute werden die Quadratmeterzahlen für die Ladenöffnung von der Runde der Ministerpräsidenten beschlossen. So was sollte aber nicht Teil von politischen Leitentscheidungen sein. Die Mikrosteuerung gehört in einen Krisenstab.

Wie soll der konkret aussehen?
Es gibt dafür ja Vorbilder. Im Auswärtigen Amt existiert ein ständiges Krisenreaktionszentrum. Normalerweise sind das nur ein paar Leute und eine technische Infrastruktur. Aber sobald etwas passiert, wird der Krisenstab aktiviert und personell hochgefahren. Er tagt dann schon mal unter Leitung des Ministers. Nach diesem Muster könnte ein Krisenstab für länderübergreifende Lagen durchaus auch unter Leitung des Bundeskanzlers oder der Ministerpräsidenten tagen.

Die Länderchefs mögen aber bestimmt kein neues Zentralgremium …
In dem Stab müssten natürlich nicht nur alle Ressorts vertreten sein, sondern auch alle Ebenen, also Bund, Länder und Gemeinden. Und was mir noch wichtig wäre: Wir sind in jeder Krise auf die Hilfe von Dritten angewiesen. Das reicht von Logistikern und Technikern bis hin zu Wissenschaftlern. Ich schlage deshalb vor, dass externe Fachleute einen ständigen Sitz bekommen und nicht immer erst von außen zugezogen werden müssen.

Die Krise bewältigen ist ein Sache, sie gar nicht erst entstehen zu lassen die zweite. Im Kalten Krieg gab es ein Sirenenwarnsystem, das jeder verstand. Müssen die Sirenen zurück auf die Rathäuser?
Das hielte ich schon für sinnvoll. Es wäre auch gut, wenn alle Menschen wieder verstünden, was die Warnsignale bedeuten. Aber es geht mir gar nicht um solche Einzelmaßnahmen. Mir wäre es wichtig, wenn sich nach den Wahlen alle Beteiligten zusammensetzen, die Krisen der letzten Zeit analysieren und daraus Lektionen ableiten. Das wird dann sicher auch Grundgesetzänderungen erfordern. Deshalb muss man das breit und so überparteilich wie möglich anlegen.

Diesem neuen Bundestag werden Sie nicht mehr angehören, und das war eigentlich der Grund, weshalb wir uns lange vor der Flutkatastrophe verabredet hatten. Sie haben in Ihrer Abschiedsrede eine Lanze für die Volksparteien gebrochen ...
Ich habe von einem bedrohten Schatz der Demokratie gesprochen, ja. Wenn Sie sich in Europa umschauen, dann ist die CDU/CSU mit aktuell nicht einmal 30 Prozent Zustimmung weit und breit der Spitzenreiter. Im Land Berlin streiten sich mehrere Parteien mit Werten um die 20 Prozent um den Spitzenplatz.

Politik für alle oder für die eigene Klientel?

Was ist daran so schlimm?
Das verstärkt die Tendenz, dass sich Parteien eine Klientel von um die 20 Prozent zulegen und nur noch für die gezielt Wahlkampf machen. Das Gemeinwohl gerät so immer stärker aus dem Blick. Die Regierungsbildung wird schwieriger. Sie beginnt mit immer mehr Kompromissen, die von den Anhängern umso mehr als faul wahrgenommen werden, je schärfer ihre Partei vorher die Klientelziele formuliert hat. Und das wird dann schnell der Demokratie angelastet.

Aber was können Volksparteien besser?
Sie können, aber sie müssen natürlich auch ein inhaltliches Angebot machen, von dem sie glauben, dass es für eine Mehrheit der Bevölkerung gut ist. Das kann nicht in einer Addition von Minderheitenpositionen bestehen, sondern muss den Ausgleich von Einzelinteressen zu einem gemeinsamen Ganzen leisten. Also nicht nur für die Alten oder Jungen eintreten, nicht nur für Klima oder Wirtschaft.

Wissenschaftler erklären den Niedergang der Volksparteien mit der Individualisierung und dem Zerbröckeln alter Großstrukturen, also als geradezu naturnotwendigen Prozess. Lässt sich der überhaupt aufhalten?
Zunächst teile ich diese Analyse. Aber gleichzeitig nehme ich eine neue Sehnsucht nach Gemeinsamkeit wahr und auch eine Notwendigkeit dazu. Für eine Klimapolitik aus einem Guss müssen Sie viele ansprechen. Es braucht dafür auch Mehrheiten. Ich glaube, darin liegt eine neue Chance für die Volksparteien.

Ihr Parteifreund Jürgen Rüttgers hat die Volksparteien einmal „Dinosaurier der Demokratie“ genannt.
Wenn Volksparteien sich als Dinosaurier zeigen, kann es sein, dass sie aussterben.  Deshalb müssen die Volksparteien etwas tun.

Also zum Beispiel mehr Profil entwickeln, wie es auch in der CDU selbst viele fordern, statt bloß wolkig den Ausgleich zu predigen?
Da liegt in der Tat ein Dilemma, eins zwischen Reichweite und Profil. Je breiter wir die Menschen ansprechen, umso weniger scharf ist das Profil. Aber diesem Dilemma kann ich nicht dadurch entgehen, dass ich nur noch auf ein bestimmtes Profil setze. Bei dieser Wahl gehört zum Beispiel zum ersten Mal die Mehrheit der Wahlberechtigten der älteren Generation an. Da liegt es auf den ersten Blick nahe zu sagen: Wir vertreten jetzt die Interessen der Alten. Man hätte theoretisch die Mehrheit und dazu ein scharfes Profil. Aber eine gemeinverträgliche Politik entsteht so nicht.

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Sondern wie?
Wenn eine Partei stattdessen in ihrem Programm den Alten sagt: Eure Bäume wachsen nicht in den Himmel - und den Jungen: Ihr werdet auf Dauer für die Alten mehr zahlen müssen. Dann ist das zwar keine Wohlfühlpolitik für beide Gruppen. Aber es ist gut für die Gesamtheit.

Wer ist denn im Moment nach Ihrem Verständnis Volkspartei?
Die Union, auch die SPD. Die Grünen sind auf dem Weg zur Volkspartei. Sie kommen in Umfragen auf Reichweiten, die diesen Anspruch begründen könnten. Aber sie tun sich erstaunlich schwer damit, wirklich Volkspartei zu sein in wichtigen Bereichen wie der Sicherheit oder einer interessengeleiteten Außenpolitik. Die Parteiführung hat das erkannt und bereitet sich auf die Übernahme von Ministerien auf diesen Feldern vor. Doch die Basis ist ganz, ganz weit weg davon. Also, die Grünen sind auf dem Weg zur Volkspartei. Aber sie stehen exakt an der Grenze zu entscheiden, ob sie das wirklich wollen.

Und die SPD mit ihren traurigen um die 15 Prozent?
Die SPD hat eigentlich immer noch den Anspruch, Volkspartei zu sein, aber sie hat ihn in den vergangenen Jahren selbst vernachlässigt. Sigmar Gabriel warnte immer davor, die Südkurve zu vergessen, also die angestammten Fans. Der linke Flügel der SPD hat sich darauf verlegt, eine Summe von Minderheiten zu vertreten, und dabei die Mehrheit aus dem Blick verloren. Damit verliert man den Status einer Volkspartei.

Bleibt noch die Union.
Wir sind Volkspartei. Unser Problem ist, dass wir die Lösungen für Konflikte so abstrakt verallgemeinert haben, dass sie gut klingen, aber nicht mehr inhaltlich stark sind. Im Bundestagswahlprogramm haben wir diesen Fehler nicht wiederholt. Zum ersten Mal steht die Außenpolitik mit hart formulierten Interessen am Anfang. Das Programm legt auch den Konflikt offen, dass wir Steuerentlastungen brauchen, aber die Finanzlage schwierig ist. Und als einzige Partei planen wir eine große Staatsreform. Das alles ist im Interesse aller und nicht nur von Einzelgruppen.

Trotzdem müssen Volksparteien immer wieder mit dem Vorwurf kämpfen, dass sie zu unbeweglich seien für große Herausforderungen und unfähig zu revolutionären Neuerungen.
Es ist doch eine gute Nachricht, dass Volksparteien unfähig zur Revolution sind. Das ist nicht ihre Aufgabe. Dazu kommt: Wir leben auch nicht in einer Situation, in der eine Revolution notwendig ist.

Das sieht zum Beispiel eine Bewegung wie „Fridays for Future“ mit Blick auf die Klimakrise völlig anders!
Bewegungen können ja den Volksparteien vieles vorwerfen. Volksparteien müssen in der Tat beweglicher werden, müssen ihre Reichweiten vergrößern, müssen ihre Rituale modernisieren, das ist wahr. Aber Bewegungen müssen umgekehrt akzeptieren, dass Volksparteien an der Regierung nicht Befehlsempfänger für ihre Anliegen sind, die sie von mir aus mit noch so vielen Demonstranten gerade formulieren.

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Aber gerade diese Bewegung beruft sich darauf, dass die Rettung des Weltklimas keine Kompromisse mehr erlaube.
Demokratie zeichnet sich dadurch aus, dass ich Mehrheiten brauche. Und das erfordert Kompromisse, erst recht in einem föderalen System. In meinem Meißener Wahlkreis zum Beispiel gibt es nicht einmal den Hauch einer Chance, Windräder zu bauen. Weil die Mehrheit der Bevölkerung schlicht und einfach dagegen ist. Ich kann dann die Beteiligungsrechte beschneiden. Aber das macht die Menschen nur zornig und nichts wirklich besser.

Sie sagen „mein Wahlkreis“, dabei ist er das bald gar nicht mehr. Fällt es schwer, nach so langer Zeit das aktive politische Leben zu beenden?
Wenn ich meinen Einstieg in die Politik bei den Bemühungen um die Deutsche Einheit 1990 mitzähle, sind es etwas mehr als 30 Jahre. Ich hatte das besondere Glück, diese ganze Zeit über fast immer in der Regierung zu arbeiten, als Landesminister und drei Mal als Verantwortlicher in der Bundesregierung. Ich war nur anderthalb Jahre in der Opposition, und zwar als Pressesprecher der Westberliner CDU. Das war die schrecklichste Zeit.

Warum das denn?!
Ach, wir hatten zum Beispiel zu einer Pressekonferenz geladen, weil wir ein, wie wir fanden, wegweisendes Verkehrskonzept erarbeitet hatten. Doch kaum einer hat darüber berichtet. Das Pressecho war nahezu null. Vielleicht war unser Konzept auch gar nicht so gut. Aber so etwas wollte ich nie wieder erleben. Dagegen ist operatives Arbeiten in der Regierung das, was Politik für mich ausmacht. Und ich habe das sehr gerne getan. Aber jetzt muss mal die nächste Generation ran.

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