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Eine historische Landkarte des berlinnahen Raumes vor etwa 200 Jahren.

© ZB

Europas Geschichte: Eine Autokarte der DDR, Maßstab 1:600.000

Alte Landkarten wecken Erinnerungen an vergangene Zeit. An die DDR, die Sowjetunion, die Hauptstadt Bonn. Doch warum ist es so schwer, eine Karte von Europa zu finden? Eine Glosse.

Eine Glosse von Pascale Hugues

Diese Woche habe ich einen großen, zwischen Büromöbeln eingeklemmten Karton gefunden. Ich klappte den Deckel auf und war plötzlich einer Welt ausgesetzt, die schon lange nicht mehr existiert. Es waren nicht einmal Fotoalben oder alte Briefe, die mich in die Vergangenheit katapultierten, sondern Dutzende Land- und Autobahnkarten.

Sie standen da, aneinander angelehnt, sich stützend, als hätten sie Angst umzukippen, sobald eine neugierige Hand nach einer von ihnen greift. Seit Langem vergessen, vegetierten sie nun in diesem Karton. Es ist wahr, dass uns spätestens seit Google Earth die sanfte Stimme des Navis durch die Gegenwart führt; wir brauchen keinen dieser Papierstöße mehr, die nicht nur unmöglich zusammenzufalten, sondern auch gefährlich für Leib und Leben der Passagiere sind, wenn man sie auf dem Beifahrersitz aufklappt. Und dann, als ich begann, diese Karten zu ordnen, wurde mir klar, wie die Welt sich in zwei Jahrzehnten geändert hatte.

Vor mir lag eine „Autokarte der DDR“, Maßstab 1:600 000. Auf der Vorderseite ein tapferer Trabant, bereit für die Reise. In der Legende, unten rechts, neben der Tschechoslowakei, stehen Farben für Wälder, für Wasserläufe, Kanäle und für Großbauten des Sozialismus, „socialist large-size building“ für die Englischsprachigen, „construction importante socialiste“ für Frankophone. Das Piktogramm dafür: ein Gebäude mit drei violetten Kaminen, die ihren Rauch in den Himmel blasen.

Zwischen Rostock und Zwickau gab es unzählige Orte, an denen man seinen Trabbi am Straßenrand parken und die industriellen Bauten bewundern konnte. Ein breiter, mauve-farbener Strich markiert die Staatsgrenze, einmal durch Berlin und um das andere Deutschland – Ostdeutschland – herum. Sie zeigt sich undurchlässig, abgesehen von kleinen Unterbrechungen, etwa einem „allgemein benutzbaren Grenzübergang", „generally passable frontier crossing point“, in etwas barockem Englisch. Alle Tankstellen heißen Intertank, und die Transitstraße 283 ist markiert mit einem großen dicken, orangenen Strich.

Neben der DDR-Karte steht eine der intakten Sowjetunion. Daneben eine Karte von Königsberg in den Grenzen von 1938, noch bevor Bombardierungen von der Stadt Immanuel Kants nur Ruinen übrig ließen. Die Karte hatte ich kurz nach dem Mauerfall gekauft, als der Oblast Kaliningrad plötzlich von einem Ansturm deutscher Rentner heimgesucht wurde. Nachdem sie 1945 rausgeschmissen wurden, kamen sie nun auf der Suche nach den Spuren ihrer Kindheit zurück – und die Karte war ihr Reiseleiter.

In der blassgelben Sahara waren die verbotenen Straßen rot eingezeichnet

Ich fand auch eine Karte des Subkontinents Indien, eine andere von Westafrika, die mich besonders träumen ließ. In der blassgelben Sahara waren die verbotenen Straßen rot eingezeichnet, jene, deren Belag schon nicht mehr befahrbar war. Für die Durchquerung der Sahara gab es eine besondere Regelung. Man musste sich vor Fahrtbeginn, wie der Legende zu entnehmen ist, bei der nächsten préfecture melden.

Mindestens genauso exotisch ist die Karte von Wales mit ihren kaum zu entziffernden Beschriftungen, wie „Y Fenni a’r Mynyddoedd Duon“. Und daneben dann die Karte von Bonn, Hauptstadt der Bundesrepublik. Eines aber fand ich nicht: eine Karte Europas.

Den ganzen Sommer hatte ich danach gesucht. Meine Buchhandlung hatte keine, die Tankstelle nebenan auch nicht. Und in dem Ferienhaus, wo ich meinen Urlaub verbrachte, fand ich zwar Karten von exquisiter Präzision: Wanderwege, Abkürzungen, bis hin zum kleinsten Gässchen. Aber keine Spur von Europa. War das eine Allegorie auf den Zustand Europas, nach dem Brexit? Ist Europa verschwunden? Wie DDR, Sowjetunion, Königsberg?

Aberglaube

Wir sind jetzt auf dem Weg durch Deutschland, die Schweiz, ein kleines Eck Österreich und ein bisschen Italien, geführt von der Stimme des Navigationsgeräts mit seinem kautschukhaften „American English“: die Namen der Städte und Routen verzogen und verbogen. Auf dem Radar kann man unser Vorankommen beobachten. Locarno rechts, Mailand links.

Und dann, auf dem Rückweg, an der letzten Tankstelle vor dem Sankt-Bernhard-Tunnel, finde ich, zwischen Schweizer Schokoladentafeln und Zeitungen, das intakte Europa, auf einer brandneuen Karte. Ihre Staaten sind sorgsam aneinandergebunden, und Großbritannien wurde noch nicht gestrichen. Ich entschloss mich, die Karte nicht in den Karton zu den anderen zu legen. Ich bin ein wenig abergläubisch.

- Aus dem Französischen übersetzt von Fabian Federl.

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