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Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron braucht Unterstützung aus Berlin.

© Frank Rumpenhorst/dpa

Europäische Union: Merkel zwingt Macron zum Alleingang

Der deutsch-französische Motor steht still. Berlin sollte mit Paris gemeinsam Initiativen für eine Sicherheits- und Industriepolitik starten. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Sigmar Gabriel

Der Elysee-Palast scheint zu ahnen, dass es mit der Kenntnis des Französischen nicht weit her ist in Deutschland. Im sprachlichen wie im übertragenen Sinn. Jedenfalls präsentiert er den flammenden Aufruf von Staatspräsident Emmanuel Macron für ein geeintes und starkes Europa auf seiner Website vorsichtshalber auch in deutscher Sprache. Schon zum dritten Mal innerhalb eines Jahres präzisiert der französische Staatspräsident seine Ideen für die Zukunft Europas.
Wie kein anderer führender Politiker unserer Zeit macht Macron Europa zu seiner Sache und zu der seines Landes. Nicht, um Europa „französischer“ werden zu lassen. Sondern weil selbst die stolzen Franzosen allein auf sich gestellt in der Welt von Heute und noch mehr in der von Morgen kein Gewicht mehr haben – keine Stimme, nichts mehr zu sagen. Frankreichs Souveränität hängt von der Souveränität Europas ab. Und nicht umgekehrt. Darum ist Europas Einigung die Sache Frankreichs. Punkt.

Wie kein anderer, macht Macron Europa zu seiner Sache

Noch nie hat ein französischer Präsident so realistisch und klar die Selbstbehauptung seines Landes mit der des europäischen Projektes verbunden. Nicht mehr nur die traditionelle Erzählung von den Verwüstungen durch europäische Kriege begründet seine Haltung zur europäischen Einigung, sondern mindestens ebenso sehr die dramatischen Verschiebungen der wirtschaftlichen, politischen und militärischen Machtachsen in der Welt. Sie drohen, Europa zu einer Randerscheinung der Weltpolitik zu machen. Macron spürt den epochalen Wandel in der Welt und wendet die europäische Erzählung aus der Geschichte in die Zukunft.
Dabei geht er weiter als jemals zuvor: Sein Entwurf für die Selbstbehauptung Europas reicht von der sozialen Bändigung des ungezügelten Finanzkapitalismus über soziale Grundrechte aller Europäer bis zur Stärkung des Euro als einer internationalen Alternativwährung zum Dollar. Um die Glaubwürdigkeit der Europäischen Union wiederherzustellen, räumt er auch mit den Lebenslügen der Grenzsicherung im Schengenraum auf und fordert einen gemeinsamen Grenzschutz und ein gemeinsames Asylrecht.

Besonders bemerkenswert ist dabei, dass Macron diese gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik gerade nicht auf das Thema „Rüstungsexporte“ verengt, wie es in den letzten Monaten in der politischen Debatte zwischen Deutschland und Frankreich immer wieder geschehen war. Sein Bogen ist viel weiter: In der Außen- und Sicherheitspolitik wirft er sogar die traditionelle Abgrenzung von Großbritannien über Bord und will einen gemeinsamen europäischen Sicherheitsrat. Man mag einwenden, dass vieles davon nur durch EU-Vertragsänderungen erreichbar wäre. Die Antwort darauf müsste lauten: Na und? Nur für solche Aufgaben braucht es doch die Politik. Um die Zustände nur zu verwalten, bräuchte es lediglich Beamte.

Was ist nun die Antwort Deutschlands? Zunächst mal ist es bemerkenswert, dass diese Initiative Macrons nur wenige Wochen nach der großen Inszenierung des Aachener Vertrages erfolgt, der ja die Fortschreibung des historischen Elyseevertrags sein sollte. Dieser Aachener Vertrag sollte den Weg ebnen für neue gemeinsame europäische Initiativen Deutschlands und Frankreichs.

Diplomatisch verpackte Ignoranz aus Berlin

Stattdessen nun ein Alleingang des französischen Staatspräsidenten. Zum dritten Mal dröhnendes Schweigen aus Berlin oder diplomatisch verpackte Ignoranz. Der deutsch-französische Motor stottert nicht einmal mehr, sondern er steht schlicht still.

Der Grund dafür dürfte nicht in der Eitelkeit Macrons zu suchen sein, sondern in der erneuten Unwilligkeit – oder Unfähigkeit – der deutschen Politik. Weder Unterstützung noch eigene Initiativen Deutschlands sind zu erkennen. Dabei gäbe es auch aus deutscher Sicht vieles einzubringen: etwa einen gemeinsamen Vorschlag für eine europäische Industriepolitik und ein gemeinsames Auftreten gegenüber China. Oder eine gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungsinitiative für Osteuropa, um diese Aufgabe nicht länger von der Willigkeit oder Unwilligkeit der USA abhängen zu lassen und zudem die Polen und die Balten von der Bereitschaft zu überzeugen, gerade als Deutsche und Franzosen für ihre Freiheit einzustehen.

Nötig wäre ein neuer Anlauf für eine Konferenz über Entspannung, Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, um der weitgehenden Auflösung der europäischen Sicherheitsarchitektur auch mit Blick auf Russland zu begegnen.

Frankreich ist im Inneren unruhig und unsicher. Daher sucht die politische Führung nach festem Grund und findet ihn in der Idee eines gestärkten Europas. In Deutschland ist es umgekehrt: zumindest an der politischen und wirtschaftlichen Oberfläche des Landes ist es windstill, auch wenn darunter vieles in Bewegung ist. Wir aber scheinen die Abwesenheit von Stürmen für eine ruhige See zu halten, in der wir uns bewegen. In Wahrheit ist es die Windstille im Auge des Orkans. Es wäre gut, Deutschland würde seine Komfortzone rechtzeitig verlassen, bevor die Stürme uns ungeschützt erfassen. Gemeinsam mit Frankreich könnten wir Europa wetterfest machen.

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