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Tiemo Wölken berichtet regelmäßig über seinen Alltag in Straßburg und Brüssel.

© Tagesspiegel

Video statt Pressemitteilung: Wieso Zehntausende einem Europapolitiker auf Youtube folgen

Der SPD-Abgeordnete Tiemo Wölken will im Netz mehr Öffentlichkeit für die Arbeit des EU-Parlaments schaffen – demnächst sogar als Gamer.

Tiemo Wölken hält einen Stapel Münzen in der Hand. „Wir wollen heute der Frage nachgehen, was eigentlich ein Europaabgeordneter verdient – und ob das zu viel Geld ist“, sagt er. Der 33-Jährige steht in einem grauen Jacket vor der Kamera, im Hintergrund eine Zimmerpflanze und ein Europafähnchen. Er erklärt, wie viel Europaparlamentarier von ihren monatlichen 8757,70 Euro Gehalt übrig behalten, vergleicht mit anderen Berufsgruppen und fragt die Zuschauer nach ihrer Meinung. „Wenn es euch gefallen hat, lasst ein ,Gefällt mir‘ da oder abonniert diesen wunderschönen Kanal“, sagt Wölken zum Schluss, er hebt die Hand. „Macht’s gut, haut rein, Ciao.“

Das Video hat mehr als 12000 Aufrufe auf Youtube, Wölkens Kanal gut 43000 Abonnenten. Aber Wölken ist kein Youtube-Star – jedenfalls nicht im klassischen Sinn. Er ist selbst Europaabgeordneter, sitzt für die SPD in Brüssel und Straßburg. „Wenn andere Leute mit ihrem Team zehn Stunden Pressemitteilungen abstimmen, machen wir ein Video oder erstellen Inhalte für Instagram“, sagt er.

Die richtigen Kanäle

Wie Entscheidungen in Brüssel und in Straßburg zustande kommen, gilt oft als intransparent. Bei der Nominierung Ursula von der Leyens als Kommissionspräsidentin war von einem Deal im „Hinterzimmer“ die Rede. Über Richtlinien aus Brüssel wird oft erst berichtet, wenn sie in nationales Recht umgesetzt werden sollen. Junge Europaabgeordnete wie Wölken wollen selbst Öffentlichkeit für Gesetzesvorhaben und Entscheidungswege in Brüssel und Straßburg schaffen – und zwar auf den Kanälen, die ihre Zielgruppe nutzt.

Auch wenn Wölken der Abgeordnete mit der größten Reichweite auf Youtube ist, war er nicht der Erste, der aus Brüssel Videos fürs Netz drehte. 2014 legten die jungen Grünen Ska Keller, Jan-Philipp Albrecht und Terry Reintke los. Erst etwas überdreht, dann ernster. Die Piraten-Politikerin Julia Reda berichtete auf Youtube über ihren Kampf gegen die Urheberrechtsreform. Und Nico Semsrott, der gerade für die Satirepartei „Die Partei“ ins Parlament eingezogen ist, hat begonnen, für seine 143000 Abonnenten Videos aus dem Europaparlament hochzuladen. Viele andere Abgeordnete berichten etwa auf Instagram oder Twitter.

Seit dem ersten Tag ist die Kamera dabei

Der SPD-Abgeordnete Tiemo Wölken sagt: „Ich mache das alles nicht, um Propaganda für mich und meine Position zu machen, sondern um Verfahrensweisen zu zeigen.“ Wölken sitzt seit 2016 im Europaparlament. Schon an seinem ersten Tag in Brüssel ist die Kamera dabei, begleitet wird er da von seinem guten Freund, dem Youtuber Peter Smits. Die Kamera läuft auf der Autofahrt, sie läuft, als er in Brüssel seine Wohnung bezieht und das erste Mal in einem Ausschuss Platz nimmt.

Am Anfang wird Wölken im Europaparlament schräg angeschaut, wenn er sich für diese Videotagebücher selbst filmt. „Das hat ja auch narzisstische Züge“, sagt Wölken und zuckt mit den Achseln. „Aber ich will eben Transparenz für meine Arbeit schaffen, und der Zweck heiligt die Mittel.“

Wölken denkt sich für seinen Youtube-Kanal neue Videoformate aus. Am „Mythen-Mittwoch“ räumt er mit Vorurteilen gegen Parlamentarier auf oder macht den Faktencheck zur Gefährlichkeit von Stickoxiden. In „Wer im Glashaus sitzt“ lässt er sich von Youtubern Fragen stellen, die die bei ihren Zuschauern gesammelt haben. Aufmerksamkeit bekommt er während der Debatte um die EU-Urheberrechtsreform und die damit verbundenen Uploadfilter. Wölken muss erklären, warum die europäischen SPD-Abgeordneten dagegen stimmen, während die SPD-Politikerin Katarina Barley, damals Justizministerin, im Ministerrat dafür votiert.

Live Pizza backen und Computerspiele spielen

Als der Youtuber Rezo sein mittlerweile 15 Millionen Mal geklicktes Video „Die Zerstörung der CDU“ veröffentlicht, ist Wölken der erste Politiker, der ein Antwortvideo veröffentlicht. Denn Rezo kritisiert auch die SPD, unter anderem für ihre Klimapolitik in der Bundesregierung. Wölken sieht das Video, als es gerade mal 13000 Aufrufe hat, und ihm ist sofort klar, dass es durch die Decke gehen wird. In seiner Replik sagt Wölken: „Wir müssen dafür sorgen, dass auf europäischer Ebene Klimaschutzziele gesetzt werden, sodass eine CDU/CSU sie auf der Bundesebene nicht ignorieren kann.“ Leicht zu vermitteln ist es aber nicht, dass die SPD auf Europaebene eine andere Klimapolitik macht als in der Bundesregierung.

Wölken hat jetzt neben Youtube noch eine weitere Plattform für sich entdeckt: Twitch. Dort können Gamer live streamen, während sie Computerspiele spielen. Die Plattform lässt sich aber auch anders nutzen. „Kürzlich habe ich live Pizza gebacken und die Leute in meine unordentliche Küche gucken lassen“, erzählt Wölken. Er will sich jetzt einen leistungsfähigen PC ins Büro stellen. „Ich könnte den Landschaftssimulator spielen und dabei über die Diskussion im Agrarausschuss zur Verteilung von Geldmitteln sprechen. Oder über die Mautdiskussion, während ich einen Lkw-Simulator spiele“, sagt Wölken. Er klingt begeistert. „ Ich sehe da riesiges Potenzial – wenn ich mich nicht völlig bekloppt anstelle beim Spielen.“

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