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Will die Freizügigkeit in der EU ändern: David Cameron, Premierminister von Großbritannien.

© AFP

Europa in der Krise: Späte Rache, frühe Warnung

Während Helmut Kohl mit seinem Rachefeldzug gegen Gerhard Schröder die Schlachten von gestern schlägt, schlägt David Cameron die von heute. Die EU wird nicht umhin kommen, sich mit der Frage der Freizügigkeit zu beschäftigen. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Gerd Appenzeller

Kaum etwas ist nervtötender als eine Familie, deren Mitglieder sich streiten, wer wann und warum versagt hat und was man auf keinen Fall machen dürfe. Dann wird Familie zur Bande und Familienbande zur Fessel.

So geht es im Moment den Europäern, die eben längst mehr Familie sind, als sie wahrhaben wollen. 500 Millionen Menschen leben in der Union, noch vor wenigen Jahren fühlte sich dieser Staatenbund mächtig genug, ökonomisch und kulturell global mithalten zu können. Nun jammern die 28 Mitgliedstaaten in der Krise des Euro und unter dem anhaltenden Druck von Zuwanderung, Wachstumsschwäche und Konkurrenz der Schwellenländer und Rohstofflieferanten.

Großbritanniens Premier David Cameron wird von Ausstiegsszenarien seiner innenpolitischen Gegner geplagt und versucht, die durch immer neue Europa-kritische Aktionen zu konterkarieren. Der französische Staatspräsident François Hollande wagt nötige Reformen nicht, weil deren Folgen den rechtsextremen Front National stärken könnten. In Deutschland ist Altkanzler Helmut Kohl zu einem Rachefeldzug gegen Amtsnachfolger Gerhard Schröder von der SPD aufgebrochen.

Dabei atmen die Passagen aus Kohls gerade vorgestelltem Buch „Aus Sorge um Europa – ein Appell“ jenen Geist der Rechthaberei, der zeitkritische Einlassungen der politischen Altvorderen oft auszeichnet. Bis 1998 ging es aus Kohls Sicht mit Europa gut voran, danach sei „der europäische Einigungsprozess nur noch halbherzig“ weitergegangen. Nun war 1998 das Jahr, in dem Kohl abgewählt wurde, für ihn die Zeitenwende zwischen Gut und Böse gewissermaßen. Natürlich muss man seiner Kritik folgen, dass die Entscheidung zur Aufnahme Griechenlands in die Euro-Zone damals falsch, weil voreilig war.

Gefährliche politische Bewegungen

Ob gerade Kohl, der Historiker, ihr aber nicht auch zugestimmt hätte, wo doch alle Fachleute meinten, die gerade einmal 2,5 Prozent griechischen Anteils am europäischen Bruttosozialprodukt könnten leicht egalisiert werden, steht dahin. Uneingeschränkt recht geben muss man ihm in seiner harschen Kritik am einvernehmlich deutsch-französischen Bruch der Maastrichtkriterien 2004/2005. Dass diese schrödersch-chiracsche Gemeinschaftssünde am Anfang vieler weiterer Finanzschludereien der EU steht, ist unbestritten. Vor der Einsicht, dass Kohl zuvor einen Euro ohne die nötige Steuer- und Finanzharmonisierung durchsetzte, drückt sich der Altkanzler jedoch.

Während das die Schlachten von gestern sind, schlägt David Cameron die von heute. In Europa nur bleiben, wenn die EU immer machtloser wird, ist seine Devise. Bisher ertrug die deutsche Bundeskanzlerin die britische Exzentrik, weil sie klar erkannt hat, dass eine EU ohne die letzte europäische Weltmacht ein zahnarmer Tiger sein würde. Mit der Drohung, die innereuropäische Freizügigkeit einzuschränken, ist Cameron aber an jenem Punkt angelangt, der für Merkel „nicht verhandelbar“ ist, wie sie ihren Regierungssprecher jetzt erklären ließ.

Dennoch wird die EU nicht umhinkommen, sich mit der Frage zu beschäftigen. Vor allem die Erweiterung der Union auf Bulgarien und Rumänien 2007 hat in der Hoffnung auf mehr individuellen Wohlstand zu einer Wanderungsbewegung in Richtung Westen geführt, die oft für beide Seiten in Enttäuschung und Frustration endete. Gefährliche extreme politische Bewegungen ziehen daraus Wählerpotenzial. Die frühe Warnung zu erkennen, ist wichtiger, als sich mit der späten Rache à la Kohl auseinanderzusetzen.

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