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Europa geradeaus: Martin Schulz wird neuer EU-Parlamentschef

Bisher war Martin Schulz Fraktionschef der Sozialdemokraten im Europaparlament. Am Dienstag wurde er mit großer Mehrheit zum neuen Präsidenten gewählt. Er ist ein Politiker, der sagt, was er denkt.

Die kleine Begebenheit sagt einiges über Martin Schulz aus. Vom Rathaus in Würselen bei Aachen, wo er aufgewachsen und elf Jahre Bürgermeister gewesen ist, bis zur Buchhandlung an der Hauptstraße, die er davor betrieben hat, sind es fünf Minuten Fußweg. Jetzt hätte seine Pressesprecherin gern, dass er mit vier Kamerateams im Geleitzug durch seine Heimatstadt schreitet. „Das mache ich nicht“, sagt Schulz entschieden, „die Leute denken doch, ich bin ein Schaumichel geworden.“

An diesem Dienstag ist Schulz, der bislang Fraktionschef der Sozialdemokraten im Europaparlament war und als SPD-Präsidiumsmitglied in der Bundespartei für bestens vernetzt gehalten wird, in Straßburg zum Parlamentspräsidenten gewählt worden. Seine Wahl galt als sicher. Er wird den großen neuen Bürotrakt im zwölften Stock des Europaparlaments in Brüssel beziehen, direkt unter der Glaskuppel. Dort oben wird seine Aufgabe unter anderem darin bestehen, nicht die Bodenhaftung zu verlieren. Denn in seiner Volksnähe liegt das größte Kapital des Martin Schulz – er gilt als einer der wenigen im EU-Betrieb mit einer Sprache, die die Menschen auch verstehen können.

Wenn Schulz im Europaparlament das Wort ergreift, im Gegensatz zu anderen stets in freier Rede, spitzen sie im Plenum und auf der Zuschauertribüne die Ohren. Dann wird es auch mal laut und ungewohnt undiplomatisch – zumindest für die Verhältnisse im Europaparlament, wo es keine Regierungs- und Oppositionsfraktionen gibt, sondern nur ein informelles Bündnis zwischen den großen Fraktionen, also in erster Linie zwischen den Konservativen, die über die meisten Mandate verfügen, und der zweitgrößten Fraktion der Sozialdemokraten.

Wenn Schulz redet, dann ist aber von diesem Konsens oft nicht viel zu spüren. Dann bekommen die politischen Gegner ihr Fett weg – zuletzt sind das oft Kanzlerin Angela Merkel und Präsident Nicolas Sarkozy gewesen. Ihnen wirft Schulz vor, während der Euro-Krise alle Macht an sich gezogen und die parlamentarische Ebene neutralisiert zu haben.

Dass nicht seine eigenen Worte ihn richtig bekannt gemacht haben, sondern die eines anderen, ist da schon fast ein kleiner Treppenwitz der Geschichte. Die Episode mit Silvio Berlusconi aus dem Jahr 2003 verfolgt ihn bis heute, noch immer wird er regelmäßig darauf angesprochen: Italiens damaliger Ministerpräsident bot Schulz, der ihn wegen seiner Haltung zum europäischen Haftbefehl heftig kritisiert hatte, die Rolle eines KZ-Aufsehers in einem italienischen Spielfilm über die Nazi-Zeit an. Der Aufschrei war groß. Über Nacht kannte jeder politisch Interessierte diesen Martin Schulz aus Deutschland.

Mit Leidenschaft für soziale Gerechtigkeit und ein einiges Europa – so könnte man Schulz’ politische Botschaft zusammenfassen. Als Laienpsychologe muss man in seiner nordrhein-westfälischen Heimat nicht tief graben, um die Fundamente seiner Weltanschauung freizulegen. Der kleine Martin lernte hier noch den Stolz und das Klassenbewusstsein der Kohlekumpel kennen, die in Würselen bis 1969 in die Schächte fuhren. Der Vater, ein Polizist, entstammte einer Bergbaufamilie im Saarland und war Sozialdemokrat. Was denn sonst?

Die zwei Gesichter des Martin Schulz: Nachdenklicher Mensch und polternder Raufbold.

Hier in Würselen, im Dreiländereck zwischen Deutschland, Belgien und den Niederlanden, findet sich auch die Erklärung, warum es Schulz 1994 ins Europaparlament zog. Europa müssen sie in der Gegend als etwas Zwangsläufiges empfinden. Brüssel liegt nur eine gute Autostunde entfernt, Schulz pendelt. „Es ist doch ganz klar, dass man hier mit dem Europavirus infiziert wird“, erzählt Schulz, verheiratet und Vater zweier Kinder.

Während seiner Zeit im Rathaus arbeitete er eng mit den „ausländischen“ Nachbargemeinden zusammen und pflegte eine intensive Partnerschaft mit dem Städtchen Morlaix in der Bretagne. Sein gutes Französisch, das deutlich gelassener klingt als sein Deutsch, hat er sich unter anderem bei den vielen Besuchen dort angeeignet. Als in den frühen 90er Jahren das Zollhaus zwischen den Nachbargemeinden Herzogenrath und Kerkrade abgerissen wurde, ließ Schulz einen der Steine in der Manteltasche verschwinden.

Einer, der Schulz schon jahrzehntelang kennt, ist Hubert Pütz. Der 76-Jährige ist seit elf Jahren Rentner, und mit Schulz verbindet ihn nicht nur die SPD-Mitgliedschaft, sondern auch eine Freundschaft, die über die gemeinsamen Jahre im Rathaus in Würselen gewachsen ist. Bevor Pütz 2000 in Pension ging, war er dort 30 Jahre lang Büroleiter gewesen, für mehrere Bürgermeister. Auch Martin Schulz hat er in dieser Funktion gedient. An die ersten politischen Gehversuche seines langjährigen Weggefährten erinnert er sich so: Schulz, damals noch Schüler am Heilig-Geist-Gymnasium in Broichweiden, kam Anfang der 70er Jahre in sein Büro im ersten Stock und fragte ihn über seine Arbeit aus. „Da spürte ich: Der hat Interesse, in den Stadtrat zu kommen, der junge Martin Schulz“, erzählt Pütz.

Mit 19 trat Schulz bei der SPD ein. Bis er in den Stadtrat gewählt wurde, vergingen dann aber noch einmal zehn Jahre. Denn erst einmal machte er eine Ausbildung zum Buchhändler und gründete seine Buchhandlung. Die konnte er nach seiner Lehre und verschiedenen Stationen in der Verlagsbranche nur eröffnen, weil das Gebäude einem SPD-Mitglied gehörte, der ihm den Laden im Erdgeschoss günstig vermietete. Gelernt hat Schulz dort vor allem zu überzeugen. „Ich kannte oft nur die Klappentexte, musste aber so tun, als hätte ich schon das ganze Buch verschlungen.“

Hubert Pütz weiß allerdings auch, dass in dieser Selbstbeschreibung ziemlich viel Understatement liegt. Schulz sei „literarisch unwahrscheinlich auf Draht“ gewesen, sagt Pütz, vor allem geschichtliche Stoffe hätten ihn interessiert. Die Leidenschaft fürs Lesen hat ihn nie verlassen, auch später nicht. Es sei schon mal vorgekommen, dass Schulz sich um Mitternacht von seinen Mitarbeitern mit den Worten verabschiedete: „Ich les’ jetzt noch zwei Stunden.“

Tatsächlich hat Martin Schulz zwei Seiten. Da ist zum einen der nachdenkliche Mensch mit seiner Ader für Europa. Und dann gibt es noch den polternden, provozierenden Raufbold.

Als Fußballspieler wurde er in der B-Jugend mit dem Traditionsverein Rhenania Würselen Vizemeister der alten Bundesrepublik. Und in dieser Zeit dürfte er auch die Lektion gelernt haben, dass man gelegentlich austeilen muss, wenn man nicht immer nur einstecken will. Jedenfalls fällt Hubert Pütz dazu eine Anekdote ein, die ganz gut Schulz’ hemdsärmelige Art beschreibt. Man muss dazu wissen, dass Schulz bis heute Fan des 1. FC Köln ist. Und da hat Pütz ihn einmal, als es für die Kölner mal wieder nicht ganz so gut lief in der Bundesliga, mit der Bemerkung ärgern wollen: „Mensch, die Bayern sind ja gut.“ Obwohl er selbst weiß Gott kein Fan des FC Bayern ist. Und Schulz hat zurückgegeben: „Halt die Schnauze.“

Auch am vergangenen Wochenende hat Schulz wieder kräftig ausgeteilt, gegen die Ratingagentur Standard & Poor’s, die Frankreich am Freitag die Spitzenbonität entzogen hat. Schulz sprach von einem „gezielten Angriff auf die Stabilität des europäischen Rettungsschirms“. Das war wieder einer dieser typischen Schulz-Sätze, denen der 56-Jährige seine Beliebtheit zu verdanken hat.

Allerdings hat das Europa-Geschäft den früheren Kommunalpolitiker Schulz auch härter gemacht. Das spüren die, die ihn noch aus der Zeit in Würselen kennen. Manchmal, wenn er Schulz im Fernsehen sieht und ihn dann seine kurzen, knappen Stakkato-Sätze formulieren hört, in denen stets Furor mitschwingt, dann denkt sich Pütz: „Das ist doch nicht unser fröhlicher Martin.“

Der Sozialdemokrat arbeitet gut mit den Konservativen zusammen.

Bewahrt hat sich Schulz aus seiner Zeit in Würselen hingegen eine andere Eigenschaft: den Willen zum Schulterschluss mit dem politischen Gegner, vor allem mit der CDU. So wie Schulz heute einen regelmäßigen Austausch mit der Bundeskanzlerin pflegt, so war es ihm auch schon in seiner Zeit als SPD-Bürgermeister stets wichtig, die Christdemokraten im Stadtrat mit im Boot zu haben. „Er hatte ein unwahrscheinliches Gespür, mit den Leuten der CDU zusammenzuarbeiten“, sagt Pütz.

Wenn Schulz an diesem Dienstag zum Parlamentspräsidenten gewählt wird, dann liegt das nicht nur an seinem Talent zur Zusammenarbeit mit den Konservativen. Vielmehr gehört es zu den Eigenheiten des Straßburger Parlaments, dass sich Vertreter der linken und der rechten Hälfte des Hauses während der Legislaturperiode im Amt des Parlamentspräsidenten abwechseln. Also folgt auf den Konservativen Jerzy Buzek, der in den vergangenen zweieinhalb Jahren an der Spitze des Parlaments stand, jetzt der Sozialdemokrat Schulz.

Allerdings warnt der Vizechef der konservativen EVP-Fraktion, Manfred Weber, den neuen Amtsinhaber gleich davor, seinen Posten für parteipolitische Zwecke zu missbrauchen. „Er darf den Parlamentspräsidenten nicht zum linksgerichteten Präsidenten entwickeln“, sagt der CSU-Mann Weber. Schulz müsse einen „Rollenwechsel“ schaffen. Zwar genieße Schulz einen „Vertrauensvorschuss“ bei der EVP-Fraktion, sagt Weber. „Ich stehe an seiner Seite, wenn es darum geht, für ein einflussreiches Parlament in einem starken Europa zu kämpfen. Aber ihm muss auch klar sein, dass die Mehrheit im Europaparlament eine bürgerliche Mehrheit ist“, fügt er hinzu.

Am Montag ist Schulz in Straßburg noch einmal durch die Fraktionen im Europaparlament getingelt, auch bei den Euro-Skeptikern ist er gewesen. Nur die Fraktionslosen am rechten Rand, wo unter anderem die französische Präsidentschaftskandidatin Marine Le Pen ihr politisches Zuhause hat, hat er nicht besucht.

Ob Schulz der Aufforderung Webers nachkommt, in seinem neuen Amt doch besser die Samthandschuhe anzuziehen, wird man noch sehen. Schulz kennt die Vorbehalte gegen ihn: „Ich muss ja damit leben, dass alle möglichen Leute, die mich bisher als einen zuspitzenden Sozialisten kennengelernt haben, natürlich zweifeln.“ Den Mund verbieten lassen will er sich künftig dennoch nicht. Schließlich sieht er seine Kompetenz darin, dass es ihm bis jetzt gelungen ist, seiner eigenen Fraktion „Stimme und Gesicht zu geben“.

Schulz hat also den Abgeordneten am Montag in Straßburg noch einmal klarzumachen versucht, dass er diese Fähigkeit zur Profilierung auch auf sein neues Amt übertragen will. „Europa hat nicht zu viel, sondern zu wenig Parlamentarismus“, lautet sein Credo.

Bei der Arbeit an den Euro-Rettungsschirmen und den Verhandlungen über den geplanten Fiskalpakt führt das Europaparlament ein Schattendasein, und das trifft Schulz schwer. „Es ist meine Hauptaufgabe, die demokratische Legitimität europäischer Entscheidungen zu stärken“, sagt er. Er wolle in seinem neuen Amt „einerseits zuspitzen, aber andererseits nicht parteipolitisch oder verletzend auftreten“, kündigt Schulz an. „Die Arbeit, die vor mir liegt, besteht darin, klar und verstehbar für die Menschen zu reden und zugleich die Würde der Institution zu bewahren.“

Wie gut ihm dieser Spagat gelingt, kann Schulz gleich am Mittwoch zeigen, wenn im Europaparlament die Debatte über Ungarn ansteht, wo der Regierungschef Viktor Orban mit seiner Fidesz-Partei in den vergangenen zwei Jahren eine Alleinherrschaft mit autokratischen Zügen installiert und eine umstrittene Verfassungsreform durchgepeitscht hat. „Meine Position zu Ungarn ist bekannt“, sagt Schulz. Alles, was Orban tue, sei „legitimiert durch seine Zweidrittelmehrheit im Parlament“, meint der künftige Parlamentschef. „Aber er hat keine Zweidrittelmehrheit im Volk.“ Und dann fügt er hinzu: „Verfassungen reformiert man im Konsens und nicht im Konflikt.“ Um markige Worte wird Schulz wohl auch künftig nicht verlegen sein.

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