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Vor der Operation. Herzschrittmacher werden vermehrt eingesetzt, weil die Zahl der herzinsuffizienten Patienten stetig wächst.

© dpa

EU-Verordnung für Medizinprodukte: Der Tüv auf dem Prüfstand

Am Freitag wollen die EU-Gesundheitsminister eine gemeinsame Linie zur Zulassung neuer Medizinprodukte wie Herzschrittmacher oder Hüftprothesen festzurren. Doch Deutschland steht auf der Bremse.

Am kommenden Freitag soll es in Brüssel zum Schwur kommen. Dann treffen sich Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) und seine europäischen Amtskollegen, um einen vorläufigen Schlussstrich unter eine seit zwei Jahren andauernde Debatte zwischen den Mitgliedstaaten zu ziehen. Es geht dabei um Sicherheitsstandards bei Medizinprodukten wie Zahnfüllungen, Stents und Hüftprothesen. Es geht aber auch um einen Interessenkonflikt – zwischen der Patientensicherheit und den Belangen der Hersteller.
Spätestens seit im Frühjahr 2012 bekannt wurde, dass der französische Brustimplantate-Hersteller PIP minderwertiges Silikon verwendet hatte, wuchs in Brüssel der Druck zur Überarbeitung der bestehenden Medizinprodukte-Verordnung. Die EU-Kommission legte deshalb Ende 2012 einen Verordnungsentwurf vor, mit dessen Hilfe die Kontrollen bei der Zulassung von Produkten wie Herzschrittmachern oder Infusionspumpen verbessert werden sollen. Das Europaparlament stimmte anschließend in einer ersten Gesetzgebungsrunde Ende 2013 über den Verordnungsentwurf ab.

Verstärktes Lobbying: Der SPD-Mann Groote kann ein Lied davon singen

Schon damals rief die Legislativarbeit in Brüssel zahlreiche Lobbyisten auf den Plan. Der Bundesverband Medizintechnologie (BVMed) kritisierte seinerzeit, dass die verschärften Prüfverfahren für einzelne Medizinprodukte, die im Zuge der Neufassung der EU-Verordnung geplant sind, ein „unkalkulierbares Mehr an Staat, Bürokratie, Regulierung und Kosten“ nach sich ziehen würden.

In letzter Zeit bekommen die Fachpolitiker im Europaparlament wieder häufiger E-Mails von Interessenvertretern, welche die gesetzgeberische Entwicklung bei der Medizinprodukte-Verordnung genau verfolgen. So wandten sich beispielsweise der Deutsche Industrieverband für optische, medizinische und mechatronische Technologien, der europäische Verband der pharmazeutischen Unternehmer (EUCOPE) und die Europavertretung der Deutschen Sozialversicherung nach Angaben aus dessen Büro an den SPD-Mann Matthias Groote, den gesundheitspolitischen Sprecher der sozialdemokratischen Fraktion. Der Grund für die verstärkte Lobbyarbeit: Weil die Beratungen über die Verordnung unter den EU-Staaten gerade auf die Zielgerade gehen, steht schon die nächste Gesetzgebungsrunde in dem Projekt an – und an der ist wieder das Europaparlament beteiligt.

Jedes Jahr kommen 500 neue Hochrisikoprodukte auf den EU-Markt

Unter EU-Diplomaten herrscht Zuversicht, dass die europäischen Gesundheitsminister am kommenden Freitag eine gemeinsame Linie festzurren. Damit wäre eine wichtige Etappe erreicht, nachdem Dutzende von Expertenrunden das Thema in den vergangenen zwei Jahren hin- und hergewälzt haben. Der SPD-Abgeordnete Groote hält eine Einigung für überfällig: „Europas Bürger haben ein Recht darauf, sich nicht nur darauf verlassen zu können, dass sie medizinisch einwandfrei behandelt werden, sondern auch darauf, dass wir in der EU die höchsten Standards bei Medizinprodukten wahren.“ Allerdings gehört Deutschland mit Polen zu den Bremsern, die noch viele Bedenken gegen die Neuregelung haben. Im Berliner Gesundheitsministerium heißt es, die Verordnung müsse nicht nur eine spürbare Verbesserung der Sicherheit bei den Medizinprodukten bringen, sondern die Patienten müssten zudem schnell einen Zugang zu „innovativen Medizinprodukten“ erhalten.

Nach Angaben von EU-Diplomaten will Deutschland vermeiden, dass es durch neue Zertifizierungsregeln zu unnötigen Verzögerungen bei der Zulassung neuer Produkte kommt. Der Markt für Herzkatheter, Hüftprothesen und Brustimplantate ist groß: Pro Jahr kommen in der EU rund 500 dieser sogenannten Hochrisikoprodukte neu auf den Markt, schätzt man beim europäischen Dachverband der Medizinprodukteindustrie (Eucomed).

2012 deckte das "British Medical Journal" einen Skandal mit künstlichen Gelenken auf

Ob ein Produkt zugelassen wird, entscheiden in der EU rund 80 privatwirtschaftliche sogenannte Benannte Stellen, etwa der Tüv oder die Dekra. Die EU-Kommission hat vorgeschlagen, die Zulassung der Benannten Stellen radikal zu reformieren und die Zertifizierungsstellen stärker zu kontrollieren. Dass das System verbesserungsbedürftig ist, zeigte sich im Jahr 2012, als Redakteure des Fachblatts „British Medical Journal“ und des „Daily Telegraph“ Zertifizierungsstellen in fünf EU-Ländern vorgaukelten, sie wollten als Hersteller künstlicher Hüftgelenke eine Zulassung erhalten. Mehrere Zertifizierungsstellen in Osteuropa erteilten die Genehmigung, obwohl die Hüftgelenke nach den Unterlagen giftige Stoffe enthielten. Im Bundesgesundheitsministerium hat man grundsätzlich nichts dagegen, dass die Benannten Stellen EU-weit strenger ausgewählt werden, damit sie dann den Herstellern genauer auf die Finger schauen können. Allerdings will Berlin im Prinzip nicht an dem deutschen Modell rütteln, dem zufolge Privatunternehmen wie der Tüv einer staatlichen Kontrolle unterliegen. Dagegen fordert Jürgen Graalmann, der Vorstandschef des AOK-Bundesverbands, eine zentrale Zulassungsbehörde. Eine derartige Zertifizierung, sagt Graalmann, „dürfte am Ende sogar das effizientere Verfahren sein“.

Dieser Text erschien in der "Agenda" vom 16. Juni 2015 - einer neuen Publikation des Tagesspiegels, die jeden Dienstag erscheint. Die aktuelle Ausgabe können Sie im E-Paper des Tagesspiegels lesen.

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