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Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan strebt Visaerleichterungen für sein Land an.

© Burhan Ozbilici/dpa

EU-Spitzenvertreter treffen Erdogan: „Der EU-Beitritt der Türkei ist eine Illusion“

Die EU will dem türkischen Staatschef Erdogan eine verstärkte Wirtschaftszusammenarbeit in Aussicht stellen. Doch EVP-Fraktionschef Weber ist skeptisch.

Kommt es nach Jahren der Eiszeit zwischen der EU und der Türkei nun wieder zu einer Annäherung? Das ist die Frage, die sich angesichts eines Treffens der EU-Spitzenvertreter mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan stellt, das an diesem Dienstag in Ankara geplant ist. Kommissionschefin Ursula von der Leyen und EU-Ratschef Charles Michel wollen Erdogan eine Ausweitung der EU-Zollunion und Reiseerleichterungen für türkische Bürger in Aussicht stellen.

Allerdings knüpft die EU dies an klare Bedingungen: Erdogan muss seine Provokationen gegenüber  den EU-Partnern Griechenland und Zypern auf Dauer einstellen.

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Im vergangenen Jahr hatte Erdogan wiederholt das Forschungsschiff „Oruc Reis“ ins östliche Mittelmeer geschickt, um dort nach Erdgas zu suchen. Athen hatte daraufhin der Türkei vorgeworfen, die Suche innerhalb der Wirtschaftszone Griechenlands durchzuführen. Inzwischen hat die Türkei Schiffe aus dem umstrittenen Gebiet abgezogen.

Gleichzeitig ist die EU in der Flüchtlingspolitik auf die Kooperation Ankaras angewiesen. Beide Seiten hatten 2016 einen Flüchtlingspakt geschlossen, der die Türkei dazu verpflichtet, in Griechenland abgelehnte Asylbewerber wieder zurückzunehmen. Im Gegenzug sagte die EU Ankara Finanzhilfen in Höhe von sechs Milliarden Euro zu.

Erdogan pocht darauf, dass die EU weitere Verpflichtungen aus dem Flüchtlingspakt erfüllen müsse. Dazu gehören nach der Ansicht des türkischen Staatschefs eine Ausweitung der Wirtschaftsbeziehungen im Rahmen der bestehenden Zollunion mit der EU sowie eine Visa-Freiheit für türkische Bürger. Zuletzt versuchte Erdogan im Februar 2020 Druck auf die EU auszuüben, indem er zwischenzeitlich erklärte, die Grenze zu Griechenland sei offen für Flüchtlinge.

Es soll keine Verhandlungen mit Erdogan geben

In Brüssel wird allerdings betont, dass der Besuch von der Leyens und Michels nicht dazu dienen solle, mit Erdogan zu verhandeln. Vielmehr wollen die Kommissionschefin und der Ratspräsident dem türkischen Staatschef den Fahrplan für eine mögliche Verbesserung der Beziehungen erläutern, der beim letzten EU-Videogipfel Ende März beschlossen worden war.

Laut der Gipfelerklärung hatte sich die EU bereit erklärt, die Kooperation mit Ankara in einem abgestuften Verfahren zu vertiefen. Endgültige Beschlüsse werden aber erst für den kommenden Juni angepeilt. Auch Kanzlerin Angela Merkel (CDU) hatte nach dem Videogipfel erklärt, dass man zunächst abwarten müsse, „wie sich die Entspannung im östlichen Mittelmeer weiter entwickelt“.

Die Staats- und Regierungschefs der EU hatten die Kommission bei dem Gipfel zudem aufgefordert, neue Vorschläge für weitere Finanzhilfen an Ankara vorzulegen. Die Mittel sollen dafür genutzt werden, die Unterbringung der knapp vier Millionen Syrien-Flüchtlinge in der Türkei sicherzustellen.

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Allerdings sind nicht alle EU-Mitgliedstaaten überzeugt von einem Entspannungskurs zwischen der Gemeinschaft und Ankara. Anders als die Bundesregierung pochen Griechenland, Zypern und Frankreich auf eine möglichst harte Linie gegenüber Ankara. 2019 hatte die EU wegen der umstrittenen Erdgas-Bohrungen vor Zypern Sanktionen gegen die Türkei beschlossen. Zu den Strafmaßnahmen zählten seinerzeit die Kürzung von EU-Geldern und die vorläufige Beendigung von Spitzengesprächen über Handelsthemen.

EVP-Fraktionschef Weber: Für Visaerleichterungen ist es zu früh

Der Vorsitzende der EVP-Fraktion im Europaparlament, Manfred Weber (CSU), warnte davor, Ankara vorschnell bei einer Ausweitung der Zollunion und Reiseerleichterungen für türkische Bürger entgegenzukommen. „Es ist derzeit noch zu früh, über Visaerleichterungen und eine Ausweitung der Zollunion zu reden“, sagte Weber dem Tagesspiegel. Es sei zwar gut, dass EU-Kommissionschefin von der Leyen und EU-Ratschef Charles Michel das Gespräch mit Erdogan suchten. „Aber die türkische Führung muss zunächst einmal liefern“, sagte er.

Weber erinnerte daran, dass mögliche Visaerleichterungen an klare Bedingungen der EU geknüpft seien. Dazu zähle die Medienfreiheit und der Schutz der Grundrechte, der im Zuge der Terrorbekämpfung in der Türkei unter die Räder gerate. „Wir erwarten, dass die Anti-Terror-Gesetzgebung in der Türkei Standards erfüllen, die Menschenrechte und Medienfreiheit schützen“, sagte der EVP-Fraktionschef.

EVP-Fraktionschef Manfred Weber.
EVP-Fraktionschef Manfred Weber.

© Odd Andersen/AFP

Nach den Gasbohrungen der Türkei im östlichen Mittelmeer brauche man jetzt zunächst wieder eine längere Phase, um zwischen Ankara und der EU wieder Vertrauen aufzubauen, so Weber.

Nach der Auffassung des EVP-Fraktionschefs sei jetzt für die EU der richtige Zeitpunkt gekommen, um im Verhältnis zur Türkei „reinen Tisch“ zu machen und den EU-Beitrittsprozess komplett zu stoppen. „Der EU-Beitritt der Türkei ist eine Illusion. Es wird einen EU-Beitritt der Türkei nicht geben“, sagte er. Nur wenn sich die EU und die Türkei ehrlich machten, könnten sie gute Beziehungen aufbauen, fügte Weber hinzu.

Menschenrechtler Gergerlioglu verhaftet

Unmittelbar vor dem Besuch der EU-Spitze bei Erdogan erreichte die Unterdrückung regierungskritischer Stimmen in der Türkei einen neuen Höhepunkt. Der Menschenrechtspolitiker Ömer Faruk Gergerlioglu wurde nach Aberkennung seines Abgeordnetenmandats am Wochenende verhaftet, von Polizisten krankenhausreif geschlagen und schließlich aus der Intensivstation geholt und in ein Hochsicherheitsgefängnis gebracht. Am Montag wurden bei Morgengrauen zehn pensionierte Admirale verhaftet, weil sie sich in einem offenen Brief besorgt über die Regierungspolitik geäußert hatten.

Gergerlioglu wurde am Freitagabend von einem Polizeiaufgebot aus seiner Wohnung geholt und vor laufenden Kameras ins Gesicht geschlagen. Wegen verschiedener Verletzungen, Brustschmerzen und hohen Blutdrucks musste der 55-jährige ins Krankenhaus gebracht und über Nacht auf der Intensivstation behandelt werden; am Samstag wurde er vom Krankenhaus direkt ins Gefängnis gebracht.

Der Menschenrechtspolitiker Ömer Faruk Gergerlioglu wurde verhaftet.
Der Menschenrechtspolitiker Ömer Faruk Gergerlioglu wurde verhaftet.

© Adem Altan/AFP

Gergerlioglu saß für die Kurdenpartei HDP im türkischen Parlament, bis er vor zwei Wochen auf Druck der Regierung aus der Volksvertretung geworfen wurde. Er soll nun zweieinhalb Jahre wegen eines Tweets von 2016 absitzen, in dem er Friedensverhandlungen mit der PKK befürwortete – das wurde ihm als Terrorpropaganda ausgelegt.

Gergerlioglu nutzte sein Mandat, um Menschenrechtsverletzungen ans Tageslicht zu bringen und den Opfern eine Stimme zu geben. Die Regierung brachte er insbesondere mit seinen Enthüllungen von Polizeigewalt gegen sich auf. An seiner Festnahme nahm ein Beamter teil, den Gergerlioglu vor zwei Jahren wegen Folterpraktiken angeprangert hatte – er war es, der ihn bei der Verhaftung ins Gesicht schlug.

Säuberungswelle gegen pensionierte Admirale

Eine neue Säuberungswelle eröffnete die Regierung am Montag mit der Verhaftung von zehn Unterzeichnern eines offenen Briefes, mit dem sich 104 pensionierte Admirale an die Regierung gewandt hatten. Die Verfasser äußerten sich darin besorgt über mögliche Pläne der Regierung, das Montreux-Abkommen aufzukündigen, das internationale Schifffahrtsrechte im Bosporus regelt. Ein Regierungspolitiker hatte solche Spekulationen geweckt, als er kürzlich sagte, Erdogan habe die Macht, aus dem Abkommen auszusteigen.

Diese Debatte über einen Austritt aus dem Montreux-Abkommen erfülle sie mit Sorge, hieß es in dem offenen Brief der Ex-Admirale. Regierungspolitiker warfen ihnen unbotmäßige Einmischung und versuchten Umsturz vor und riefen nach der Staatsanwaltschaft, die umgehend ein Ermittlungsverfahren einleitete.

Das Informationsamt der Regierung wies darauf hin, dass der Brief genau 103 Tage vor dem Jahrestag des Putschversuchs vom Sommer 2016 veröffentlicht worden sei und 103 Unterzeichner habe. Daraus leitete das Informationsamt einen Verdacht auf finstere Absichten ab, der offenbar auch von dem 104. Unterzeichner nicht zerstreut werden konnte. „Nicht nur die Unterzeichner, sondern alle, die sie ermutigt haben könnten, werden von der Justiz zur Rechenschaft gezogen“, kündigte das Amt an. Am Morgen darauf begannen die Verhaftungen.

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