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Rotes Tuch für die Osteuropäer: Besonders in Ungarn, Tschechien und Polen gibt es starken Widerstand gegen Frans Timmermans als Juncker-Nachfolger.

© REUTERS

EU-Gipfel vertagt sich: Postenpoker in Brüssel vorerst gescheitert

Frans Timmermans als Kommissionschef, dazu Spitzenjobs für Manfred Weber und Margrethe Vestager – soweit der Plan. Wer blockiert wen in Brüssel?

Von Robert Birnbaum

Wir haben heute versagt“, schimpft Emmanuel Macron. „Der Rat und auch Europa hinterlassen einen ganz schlechten Eindruck.“ Es ist kurz nach 13 Uhr Mittag im Brüsseler Ratsgebäude. Hinter dem französischen Präsidenten läuft Angela Merkel zum Ausgang. „Wir denken einfach, dass wir mal 'ne Pause brauchen und dann vielleicht neue Einsichten haben“, hatte die Kanzlerin kurz vorher gesagt. Der längste Gipfel der EU-Geschichte hat sich gerade ergebnislos vertagt. Am Dienstag um elf Uhr geht es weiter. Nur kann niemand sagen, wie. „Wenn wir wüssten, was sich morgen ändern soll, dann hätten wir ja heute weitermachen können“, fasst Merkel die Blockade lakonisch zusammen.

Wie schwierig das Personalpaket für die EU-Spitzenposten diesmal zu schnüren ist, wurde schon zum Auftakt deutlich. Merkel hatte mit Macron und anderen am Rande des G-20-Gipfels in Osaka einen Vorschlag verabredet (siehe nebenstehenden Text), den Ratspräsident Donald Tusk am Sonntag den Fraktionschefs des EU-Parlaments vorstellte.

Doch als Merkel zum Vorgespräch der Regierungschefs aus der konservativen EVP-Parteienfamilie kam, war das Modell schon tot. Die vier osteuropäischen Staaten der Visegrad-Gruppe liefen Sturm dagegen, dass der Sozialdemokrat Frans Timmermans und nicht EVP-Spitzenmann Manfred Weber den Top-Job des EU-Kommissionspräsidenten bekommen sollte. Für Ungarn, Polen und Tschechien ist der Niederländer ein rotes Tuch, hatte er doch als Vizepräsident der EU-Kommission gegen ihre Regierungen Rechtsstaatsverfahren eingeleitet.

"Nicht ohne Kampf"

Doch auch die Regierungschefs von Bulgarien und Kroatien und der Ire Leo Varadkar widersetzten sich Merkels Vorschlag. Varadkar sprach das Motiv später offen aus: Als Sieger der Europawahl und stärkste Fraktion im Parlament könne die EVP auf den Spitzenposten doch nicht „so einfach ohne Kampf“ verzichten!

Der Ire erkannte damit freilich zugleich das Grundproblem an: Die stärkste Fraktion bringt keine Mehrheit zustande. Deshalb läuft auch das ungeschriebene Prinzip ins Leere, dass der in der Europawahl siegreiche Spitzenkandidat Nachfolger von Jean-Claude Juncker wird. „Es gibt keinen Automatismus mehr“, betont der Niederländer Mark Rutte.

Anders als vor fünf Jahren reicht es für die Konservativen nicht, sich mit den Sozialdemokraten zu verständigen; Liberale und Grüne müssen ins Boot. Nur dann hat ein Personalvorschlag, den die Staats- und Regierungschefs vorlegen, Chancen auf Bestätigung im Parlament. Zur Verhandlungsmasse gehören neben dem Kommissionschef denn auch drei bis vier weitere EU-Spitzenjobs – Außenbeauftragter, Parlamentspräsident, Ratspräsident und eventuell Vizepräsident der Kommission.

Aber der Versuch erwies sich als zu kurz gegriffen, die Ämter nach Parteipolitik zu verteilen. Manche Staatenlenker pochten zusätzlich auf Regionalproporz, andere wie die österreichische Interimskanzlerin Brigitte Bierlein auf einen angemessenen Frauenanteil. Mancher versuchte sich ein Ja zu einem Personalpaket gar mit Basarmethoden abhandeln zu lassen. Bulgariens Regierungschef Bojko Borisov postete selbst ein verräterisches Video, das ihn im nächtlichen Gespräch mit Timmermans zeigt. „Sie wissen ja, was uns wichtig ist“, hört man den Bulgaren sagen – die nächste EU-Kommission soll die lästigen Kontrollmechanismen für Korruption, Bandenkriminalität und Behinderung der Justiz zurückfahren.

Als der eigentliche Gipfel mit dreieinhalb Stunden Verspätung endlich begann, steckten die 28 Staats- und Regierungschefs schnell fest. Ratspräsident Donald Tusk unterbrach eine halbe Stunde vor Mitternacht. Der Pole versuchte in stundenlangen Einzelgesprächen mit jedem Teilnehmer und mit kleinen Gruppen, Wege zu finden. Tusk testete Namen – der konservative Brexit-Unterhändler Michel Barnier, die Dänin Margrethe Vestager. Die Liberale kam zeitweise als mögliche Vizepräsidentin ins Spiel.

Neuer Kompromissversuch

Am Morgen machte ein neuer Kompromiss die Runde: Timmermans sollte die Kommission leiten, Weber das EU-Parlament, die bulgarische Weltbank-Funktionärin Kristalina Georgieva würde Tusks Nachfolgerin als Ratspräsidentin. Doch auch gegen dieses Paket gab es Widerstände. Als Tusk die Vertagung bekannt gab, war es schon erledigt. Bulgarien zog Georgieva wenig später offiziell als Kandidatin für den Ratsvorsitz zurück.

Das vorläufige Scheitern – das zweite nach dem ergebnislosen ersten Gipfel vor vier Wochen – hat viele Mütter und Väter. Macrons massiver, persönlich gefärbter Widerstand gegen Weber hat ebenso Positionen verhärtet wie der Eindruck, dass sich ein paar Große in Osaka über die Köpfe der anderen hinweg verständigt hatten. Allerdings gab es auch gute Gründe, den gordischen Knoten nicht gewaltsam zu durchschlagen. Theoretisch ginge das – im Rat reicht das Ja von 21 der 28 Staaten, sofern sie zusammen 65 Prozent der EU-Bevölkerung vertreten.

Doch Merkel machte deutlich, dass ihr der Preis zu hoch wäre: „Unüberbrückbare Spannungen“ für die nächsten fünf Jahre wären die Folge, wenn man Gruppen wie die Visegrad-Osteuropäer oder große Staaten wie Italien einfach überstimmte. Viele Enden müssten zusammengebracht werden – mit der Kritik für einen Tag mehr müsse man leben. Der kann auch wieder lang werden. Einen Termin am Dienstagabend in Rostock ließ die Kanzlerin absagen.

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