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Seine Vision des Brexit hat der britische Streetart-Künstler Banksy in Dover verewigt.

© Glyn Kirk/AFP

EU-Austritt Großbritanniens: Diese sechs Brexit-Szenarien sind denkbar

Wie es nach der Niederlage von Theresa May beim Brexit weitergehen könnte, ist völlig offen. Möglich sind mehrere Szenarien.

Am Dienstagabend sollte das britische Parlament über den EU-Austrittsvertrag abstimmen. Im Fall einer sich abzeichnenden Ablehnung des Deals mit der EU würde das Risiko steigen, dass Großbritannien im März ganz ohne Vereinbarung aus der EU aussteigt. Angesichts der aufgeheizten politischen Diskussion in London gibt es sechs mehr oder weniger wahrscheinliche Szenarien, wie es beim Brexit demnächst weitergehen könnte.

1. May triumphiert

Wenn es nach der Einschätzung fast aller Beobachter in London geht, dann kann eigentlich nur noch ein Wunder der Regierungschefin Theresa May am Dienstag eine Mehrheit im Unterhaus bescheren. Die Abgeordneten stimmen über den Austrittsvertrag mit der EU ab, in dem es um die Rechte der Bürger beim Brexit, die finanziellen Aspekte des Austritts und nicht zuletzt die Regelung der Grenzfrage zwischen Nordirland und Irland geht. Außerdem ist festgelegt, dass es nach dem Brexit im März eine knapp zweijährige Übergangsfrist geben soll, in der sich – abgesehen vom Verlust des britischen Stimmrechts in der EU – erst einmal nichts ändert. All diese Vereinbarungen würden greifen, falls der Vertrag im Parlament durchkommen sollte.

Weil der Austrittsvertrag eine Notfall-Lösung vorsieht, die Nordirland bis auf Weiteres an den EU-Binnenmarkt bindet, will die nordirische Partei DUP ihn allerdings ablehnen. Auch bei den Brexiteers unter den regierenden Tories werden voraussichtlich viele Abgeordnete mit „Nein“ stimmen. Da May nicht mit der Unterstützung der oppositionellen Labour-Party rechnen kann, hat der Sender BBC bereits die verheerendste Niederlage einer Regierung seit 100 Jahren vorhergesagt. Angesichts der düsteren Prognosen wäre ein Sieg Mays eine Sensation. Die Last-Minute-Appelle der Regierungschefin, dass das Unterhaus im nationalen Interesse der Vereinbarung mit der EU zustimmen solle, haben daher vor allem ein Ziel: Schadensbegrenzung angesichts der drohenden Niederlage.

2. Neuverhandlungen

Im Fall einer Niederlage muss May spätestens am 21. Januar dem Unterhaus darlegen, wie es weitergehen soll. Nach Medienberichten ist allerdings nicht klar, ob May überhaupt einen „Plan B“ hat. Denkbar wäre, dass May in der kommenden Woche in Brüssel auf Nachbesserungen beim EU-Austrittsvertrag dringt, welche die Bedenken gegen die Nordirland-Lösung im Unterhaus ausräumen würden. EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker hat sich allerdings schon dagegen ausgesprochen. Nach seinen Worten hätten die EU-Staats- und Regierungschefs und die Kommission bereits klargestellt, dass es keine Nachverhandlungen geben werde. Die Regelung im Austrittsvertrag, der zufolge Nordirland notfalls bis auf Weiteres im EU-Binnenmarkt bleibt, soll langfristig offene Grenzen in der früheren Bürgerkriegsregion im Norden der irischen Insel garantieren.

Vor allem der irische Premierminister Leo Varadkar dürfte sich voraussichtlich vehement dafür einsetzen, dass an dieser Regelung nicht gerüttelt wird. Nach einer Niederlage von May am Dienstag ist indes auch nicht auszuschließen, dass die Regierungschefin einfach den Spieß umdreht. May könnte die Unterhausabgeordneten parteiübergreifend auffordern, einen mehrheitsfähigen Vorschlag für ein geändertes Abkommen mit der EU vorzulegen. Denkbar wäre in diesem Fall, dass sich mit Hilfe der oppositionellen Labour-Partei eine Mehrheit für das „Norwegen-Modell“ findet. Nach dem Vorbild Norwegens könnte Großbritannien dann am EU-Binnenmarkt teilhaben, müsste aber auch in die EU-Kasse einzahlen.

3. No-Deal-Szenario

Zollkontrollen in Dover und eine harte Grenze im Norden der irischen Insel – dies wären unter anderem die Folgen eines ungeregelten Ausscheidens Großbritanniens am 29. März. Ein „No-Deal-Szenario“ würde dann zur Realität, wenn sich das politische Pokerspiel um den Brexit über die nächsten Wochen hinzieht und bis Ende März keine Ersatz- oder zumindest eine Notlösung gefunden wird. Im Falle eines „No Deal“ wäre vermutlich auch der Betrag von rund 40 Milliarden Euro, den Großbritannien im Rahmen der Austrittsrechnung an die EU zahlen muss, für die Gemeinschaft verloren. Bis jetzt gibt es allerdings im Unterhaus eine Mehrheit von Abgeordneten, die ein „No-Deal-Szenario“ auf jeden Fall verhindern will. Mit Änderungsanträgen zielen sie darauf ab, einen ungeregelten Austritt Großbritanniens möglichst unwahrscheinlich zu machen. Im Lager der Brexiteers sprechen sich hingegen Politiker wie der frühere Brexit-Minister David Davis dafür aus, es notfalls auch auf einen „No Deal“ ankommen zu lassen – nicht zuletzt, um die Verhandlungsposition gegenüber der EU zu verbessern.

4. Verlängerung der Brexit-Frist

Einen Ausweg könnte die Verschiebung des Brexit-Datums am 29. März bieten. Damit könnte mehr Zeit gewonnen werden, um einen ungeregelten Brexit noch zu verhindern. Einer Fristverlängerung müsste nicht zur London zustimmen, sondern auch sämtliche verbleibenden 27 EU-Staaten müssten sich einverstanden erklären. Allerdings dürften die EU-Staaten einer Fristverlängerung nur dann zustimmen, wenn sich auch tatsächlich eine Einigung auf eine tragfähige Lösung abzeichnet. Es gibt derweil noch einen weiteren Grund, der für eine Verschiebung des Brexit-Datums spricht: Unter Berufung auf hochrangige Kabinettskreise berichtete der „Independent“, dass selbst im Fall eines Votums des Unterhauses zugunsten des Deals mit der EU die Frist bis zum 29. März nicht ausreichen würde, um alle nötigen Gesetze durchs Parlament zu bringen. Eine Verlängerung der Frist um mehrere Wochen sei notwendig, berichtete das Blatt.

5. Neuwahlen oder Sturz Mays

Nach einem Bericht der Zeitung „Observer“ will die oppositionelle Labour-Partei im Fall einer Niederlage Mays am kommenden Dienstagabend bereits am folgenden Tag einen Misstrauensantrag gegen die Regierungschefin im Parlament stellen. Mit dem Antrag will Labour-Chef Jeremy Corbyn demnach Neuwahlen erzwingen. Die Zeitung zitierte einen hochrangigen Labour-Vertreter mit den Worten, dass die Oppositionspartei schnell handeln müsse, falls May im Fall einer Niederlage nicht zurücktrete und von sich aus Neuwahlen ankündige. Allerdings ist ungewiss, ob die Rechnung Corbyns aufgeht. Zum einen ist unklar, ob ein Misstrauensantrag, der zum Sturz der Regierungschefin führen würde, eine Mehrheit im Unterhaus finden würden. Damit es zu Neuwahlen kommt, braucht es wiederum eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament. Es ist fraglich, ob diese Mehrheit zustande käme.

6. Zweites Referendum

Zur Abhaltung eines zweiten Referendums, mit dem möglicherweise die ursprüngliche Austrittsentscheidung von 2016 revidiert werden könnte, wäre ein entsprechender Beschluss des Unterhauses nötig. Zudem müsste das Brexit-Datum verschoben werden, weil für eine derartige Volksabstimmung mit einem Vorlauf von einem halben Jahr gerechnet wird. Befürworter eines zweiten Referendums argumentieren damit, dass die Bevölkerung bei der Abstimmung im Juni 2016 von den Brexiteers mit Falschangaben – etwa bei der Verwendung von Statistiken zu den britischen EU-Beiträgen – bewusst in die Irre geführt wurde. Das Problem bei einem zweiten Referendum besteht allerdings darin, dass eine Wiederholung der Volksabstimmung die Spaltung zwischen Gegnern und Befürwortern der EU im Land noch vertiefen könnte. Ein Referendum, das diesmal knapp zugunsten der EU ausginge, würde die jahrzehntelange Europadebatte unter den Tories wohl nur weiter befeuern. Außerdem müssten sich sich die Initiatoren eines zweiten Referendums vorhalten lassen, den Volkswillen zu missachten, der bei der ersten Abstimmung im Juni 2016 geäußert wurde. Dies gilt übrigens auch für die Option, dass die britische Regierung von sich aus den ganzen Austrittsprozess stoppt. Laut einer Einschätzung des Europäischen Gerichtshofs besteht zumindest theoretisch diese Möglichkeit.

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