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Taavi Roivas, Estlands Premierminister, ist einer der jüngsten Staatschefs Europas. Er steht der wirtschaftsliberalen Reformpartei vor, die bei den Parlamentswahlen am 1. März 2015 wieder stärkste Kraft wurde. Roivas wird sich aber einen neuen Koalitionspartner suchen müssen, da die Sozialdemokraten von der Zentrumspartei, der Partei der russischen Minderheit, überholt wurden.

© Ints Kalnins/Reuters

Estland: So geht digital

Im EU-Digitalisierungsvergleich steht Deutschland nur auf Platz 10, bei den öffentlichen Dienstleistungen sogar nur auf Platz 19. In Estland hingegen ist der digitale Staat Alltag. Eine Reportage aus Tallinn.

Von Anna Sauerbrey

Er bitte um Enschuldigung, sagt Siim Sikut, für das Wetter. Galant spannt er einen Regenschirm auf und geleitet den Gast durch den Schneeregen. Siims Englisch ist so perfekt wie sein Gebaren. Es gurgelt lediglich ein wenig auf der Zunge des Mittdreißigers – wie ein Bach, tief im dunklen Wald, den noch nie jemand gesehen hat. Sie haben viel Wald in ihrem kleinen Land, die Esten, viel Wasser, viel Dunkelheit. All das ist Topografie. Siim Sikkut, der Leiter der estnischen Staatskanzlei, hat die Aufgabe, das Land aus den Zwängen der Topografie zu befreien, es unabhängig zu machen von seiner misslichen Lage am nordöstlichen Rand der Europäischen Union, es neu zu erfinden: als Netzwerk in den ortlosen Weiten des Internets. „Wir lösen die Verbindung zum physischen Territorium auf“, sagt Siim.

Seine Schritte hallen wieder von den massiven Steinstufen des Stenbock-Hauses. Der estnische Regierungssitz, eine Verwaltungsresidenz aus dem 18. Jahrhundert, thront über den Dächern von Tallinn. Siim führt in den Kabinettssaal. „Setz dich ruhig hierhin“, sagt er. Auf einem Schild steht „Taavi Rõivas“, das ist Estlands Premierminister, daneben liegt der Holzhammer, mit dem er in turbulenten Sitzungen für Ruhe sorgt. „Das stört ihn nicht. Willst du seinen Hammer mal ausprobieren?“

Als erstes Land der Welt für Estland eine elektronische Staatsbürgerschaft ein

Das Kabinett trifft sich analog, doch es müsste nicht. Gesetzesvorlagen und Termine werden online abgestimmt. In Estland sind fast alle staatlichen Dienstleistungen digital. Jeder Bürger bekommt seit 2002 bei der Geburt eine Identifikationsnummer, die ihn sein ganzes Leben begleitet. Mit dieser Nummer und zwei Pins kann er online Steuererklärungen machen, Parktickets ziehen, Rezepte vom Arzt bekommen, Verträge unterschreiben und wählen.

Anfang dieses Jahres hat die Regierung eine weitere „Digitale Agenda“ verabschiedet. Als erstes Land der Welt führen die Esten die digitale Staatsbürgerschaft ein. Sie wollen gar ihr ganzes digitales Land vervielfältigen und in die „Cloud“ transferieren.

An die sowjetische Besatzung kann Siim sich kaum erinnern. Er ist im Süden aufgewachsen, weit weg vom politischen Tallinn. Sicher, Eis gab es nur im Sommer. Lange musste man dafür anstehen. „Als Kind versuchen deine Eltern, dein Leben möglichst glücklich zu machen. Erst später habe ich verstanden, wie begrenzt ihre Möglichkeiten waren.“

Taavi Kotka war Unternehmer, bevor er den Job als oberster Digitalstratege der estnischen Regierung übernahm. Hier präsentiert er die estnische ID-Karte, das Herzstück aller öffentlichen digitalen Dienstleistungen in Estland.
Taavi Kotka war Unternehmer, bevor er den Job als oberster Digitalstratege der estnischen Regierung übernahm. Hier präsentiert er die estnische ID-Karte, das Herzstück aller öffentlichen digitalen Dienstleistungen in Estland.

© Raigo Pajula / AFP

Als das Land 1991 wieder ein eigenständiger Staat wurde, war Siim gerade acht, sein Chef, der Premierminister, war zwölf. Doch obwohl die junge Politikergeneration, die heute die estnischen Staatsgeschäfte führt, kaum eigene Erfahrungen mit den Besatzern hat, spielt die Nachbarschaft zu den Russen bis heute eine Rolle. 2007 war Estland Opfer massiver Cyberattacken aus Russland. Seitdem arbeitet das Land noch intensiver an seiner digitalen Sicherheit.

Viele Akten, zum Beispiel die Grundbücher, gibt es gar nicht mehr auf Papier. Deshalb hinterlegt Estland seit Jahren Kopien wichtiger Datenbanken auf seinem Territorium im Ausland, auf Servern in Botschaften. Begrenzter Platz, sagt Siim. Deshalb verhandeln die Esten nun mit befreundeten Regierungen um Datenspeicher. „Wir werden unser eigenes Datenterritorium außerhalb unserer Grenzen haben. Dort wird estnisches Recht gelten“, sagt Siim. Praktisch könne das ein Serverraum sein, aber auch eine virtuelle Grenze auf einem gemeinsamen Server sei denkbar. „Die Gesundheitsdaten, unser E-Kabinett – all das muss unbedingt überleben, falls es Ärger gibt“, sagt Siim, und mit „Ärger“ meint er Russland. „Sagen wir mal so: Die Lage in der Ukraine hat das Projekt beschleunigt.“

Um wichtige Daten zu sichern, will das Land in die Cloud ziehen

„In Estland“, sagt Taavi Kotka, „hängt alles mit dem Wetter zusammen. Die Sommer sind fantastisch, aber neun Monate lang kann man weder Ski fahren noch leben.“ Taavi, hauptamtlicher Digitalvisionär der estnischen Regierung, deutet mit dem Kinn in Richtung Fenster. Draußen vor dem Wirtschaftsministerium, einem unscheinbaren Haus am Rand der Tallinner Altstadt, huschen die Menschen schweigend von Vordach zu Vordach. Kinder auf dem Weg nach Hause tragen Daunenanzüge. Der Stoff der gefütterten Hosen reibt zwischen ihren Beinen aneinander. Sitt, sitt, flüstert es in den Gassen. Ansonsten ist es still.

Im Winter, warnt ein Reiseführer, seien Esten nicht besonders gesprächig. Für Taavi Kotka gilt das nicht. Taavi, 35 Jahre alt und oberster IT-Beauftragter des Landes, wirkt aufgeregt wie ein kleiner Junge kurz vor der Bescherung. Er lässt sein goldenes iPhone auf dem Tisch Pirouetten drehen. In wenigen Tagen wird der erste elektronische Bürger des Landes seinen Ausweis erhalten. Wählen wird der E-Bürger zwar nicht dürfen, aber er erhält eine estnische ID-Karte, kann ein Unternehmen gründen, die digitale Unterschrift nutzen und die estnische Steuererklärung elektronisch machen. „Wir können unsere Wirtschaft kaum physisch vergrößern. Wir haben nur 1,3 Millionen Einwohner, ein Demografieproblem – und kaum Immigranten. Wegen des Wetters“, sagt Taavi. „Also holen wir die Unternehmen digital ins Land.“ Diese können überall sitzen – und vergrößern trotzdem das Bruttoinlandsprodukt.

Transferwise, ein estnisch-britisches Start-up, arbeitet an der Auflösung von Grenzen für digitale internationale Finanzströme

Taavi ist eigentlich Programmierer und Unternehmer. Vor zwei Jahren hat er seine Anteile an einem großen estnischen IT-Unternehmen verkauft. Immer werde er nicht für den Staat arbeiten. Bald will er zurück in die Wirtschaft, mehr Geld verdienen. Dabei haben der junge Premier und seine Leute auch in der Regierung eine Art Start-up-Mentalität verankert: die Lust am Wachsen, an der radikalen Veränderung. Die Digitalisierung und der Bedeutungsverlust von Grenzen werde Staaten ohnehin zu Unternehmen machen, glaubt Taavi. „Es wird mehr Wettbewerb geben. Den gibt es ja schon, und das ist gut so. Wir verändern nur die Instrumente.“ Dabei gehe es nicht darum, wer die niedrigste Unternehmenssteuer hat. „Dieses Spiel kann keiner auf Dauer gewinnen.“ Es gehe darum, insgesamt attraktiv zu sein.

„Im Winter“, sagt Taavet Hinrikus, „kann es hier sehr deprimierend sein.“ Taavet, Mitte 30, war der erste Angestellte, den die Gründer von Skype einstellten, dem bekanntesten in Estland gegründeten IT-Unternehmen, das 2011 von Microsoft aufgekauft wurde. Heute ist er einer von fünf Geschäftsmännern, die den Ministerpräsidenten bei der digitalen Weiterentwicklung des Landes beraten. Taavet holt sich ein Stück selbst gebackenen Kuchen in der Küche von Transferwise – dem Start-up, das er mitgegründet hat.

Die Idee dafür entstand 2011, als Taavet für Skype nach London zog. Sein Gehalt ging in Euro auf sein estnisches Konto. Jeden Monat musste er es auf sein britisches Konto überweisen, und jedes Mal kam weniger als erwartet an – wegen der Banken und deren ungünstigen Wechselkursen. Sein Freund Kristo Käärmann hatte das gleiche Problem, nur umgekehrt. Er schickte Geld von England nach Estland. Also überwies Taavet Kristo Geld innerhalb von Estland in Euro, Kristo Taavet innerhalb von England in Pfund. Daraus wurde eine Geschäftsidee und Transferwise zum Makler in einem Netzwerk von Geldgebern und Empfängern, das somit die Gebühren für Auslandsüberweisungen umgeht. Taavet sieht sich als Systemstürmer. Obwohl Geld digital ist und keine physischen Grenzen kennt, sagt er, halten die Banken diese künstlich aufrecht, weil es ihnen nützt. Inzwischen gibt es Transferwise für 22 Währungen, das Unternehmen hat bereits über eine Milliarde verschoben.

Taavet isst seinen Kuchen, während er in den Konferenzraum geht. Morgen muss er nach London, dann nach New York. Grenzen sind ihm egal. Sein Unternehmen hat er in England gegründet, weil das Land die lockerste Regulierung für Finanzdienstleister in der EU hat. Die meisten Mitarbeiter sitzen in Tallinn, wo die Mieten und die Löhne niedriger sind. Die Zwänge der Topografie spürt er nur, wenn er mal wieder in einer der winzigen Propellermaschinen von Air Baltic die Ostseeküste entlang nach Resteuropa ruckelt.

Aber wo, Taavet, ist Heimat, wenn man überall und nirgends ist, ein Teilchen dieses oder jenes digitalen Netzwerk-Staates? Taavet atmet tief ein. „Meine Frau ist Italienerin. Meine Familie ist europäisch. Zu Hause sind wir in London. Trotzdem bin ich Este. Ich bin hier geboren. Das kann mir keiner nehmen.“

Die Reportage erschien am 21. Dezember im "Tagesspiegel am Sonntag".

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