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Polizisten stehen vor einem unter Quarantäne gestellten Wohngebäude in der Göttinger Innenstadt. Zuvor fand vor dem Gebäude eine Demonstration gegen Mietenwahnsinn statt. Die Stadtverwaltung hat einen ganzen Wohnkomplex an der Groner Landstraße in Quarantäne gestellt.

© Swen Pförtner/dpa

Update

Eskalation in abgeriegelten Hochhaus in Göttingen: Polizeipräsident nennt Einsatz „absolut gerechtfertigt“

Am Samstagabend kommt es zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Hausbewohnern. Zuvor gab es bereits Kritik an den Quarantäne-Maßnahmen.

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Vor dem nach einem Corona-Ausbruch abgeriegelten Hochhauskomplex in Göttingen ist die Lage am Sonnabend eskaliert. Mehrere der seit Donnerstag in dem Gebäude eingesperrten Bewohner bewarfen Polizisten mit Gegenständen, Beamte setzten Tränengas ein – Augenzeugen zufolge auch gegen Kinder. Es soll mehrere Verletzte gegeben haben.

Der Polizeieinsatz sei, „auch wenn im Internet etwas anderes dargestellt wurde“ in dieser Form „absolut gerechtfertigt“, erklärte der Göttinger Polizeipräsident Uwe Lührig auf einer Pressekonferenz am Sonntagmittag.

Er könne nachvollziehen, dass die Quarantäne-Maßnahmen zu Unmut führen würden, aber er habe „kein Verständnis“ dafür, dass Angriffe auf die eingesetzten Beamtinnen und Beamten durchgeführt wurden, sagte Lührig weiter.

Dem Einsatzleiter der Göttinger Polizeiinspektion Rainer Nolte zufolge habe sich die Situation gegen 15.20 Uhr am Samstag zugespitzt. Circa 80 bis 100 Einwohner des Gebäudekomplexes hätten sich an der äußeren Absperrung befunden. Zeitgleich habe in circa 50 Metern Entfernung eine Demonstration stattgefunden. Es sei zu „verstärkten Unmutsäußerungen“ gekommen, die sich in „Richtung Eskalation“ steigerten, sagte Nolte auf der Pressekonferenz.

Menschen hätten versucht den Bauzaun zu übersteigen und Bewohner hätten sich unter anderem mit brennenden Mülleimern, Pflastersteinen und Möbelstücken bewaffnet. Eine Verstärkung der Einsatzkräfte habe einen Ausbruch verhindern können.

Göttings Oberbürgermeister Rolf-Georg Köhler (SPD) erklärte auf der Pressekonferenz, dass er zu dem Zeitpunkt der Eskalation selbst vor Ort gewesen sei. Gegen 16.30 Uhr habe er vom Leiter der Polizei eine Nachricht erhalten, dass man zwei Personen gefunden habe, die bereit seien, mit ihm zu sprechen, sagte Köhler am Sonntag.

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Er habe daraufhin mit zwei Vertretern der Hausgemeinschaft gesprochen und ihnen erklärt, wie die Quarantäne weiter verlaufen solle. Weiter habe er die beiden Männer darum gebeten, die Versammlungen vor Ort aufzulösen. Dies sei „gottseidank erfolgt“.

Köhler: Ausrufe der Demonstrationen haben die Lage „zumindest verschärft“

Köhler könne die Frage, inwiefern die Demonstration ein Auslöser der Eskalation gewesen sei, nicht beurteilen. Er habe allerdings erkennen können, dass es aus den Demonstrationen heraus Ausrufe gegeben habe, die die Lage „zumindest verschärft“ hätten.

Eine von der Gruppe ohnehin am Sonnabend geplante Kundgebung zum Aktionstag „Shut down Mietenwahnsinn – sicheres Zuhause für alle!“ wurde kurzfristig vom Marktplatz in die Groner Landstraße verlegt. Die etwa 250 Teilnehmenden hätten sich vor dem Gebäude versammelt, „um ihre Solidarität mit den dort internierten Bewohnern zu zeigen sowie für den Erlass von Corona-Mietschulden, Verringerung von Mieten und gute Wohnungen für alle zu demonstrieren“, teilt Lena Rademacher von der Basisdemokratischen Linken mit.

Zahlreiche Bewohner verfolgten die Redebeiträge aus den Fenstern heraus, mehrere dutzend weitere versammelten sich an den Absperrungen.

Einsatz von Pfefferspray gegen die Bewohner - auch gegen Kinder

Rademacher zufolge hat die Polizei die Situation auf der Kundgebung eskaliert, indem sie Pfefferspray gegen Bewohnerinnen, darunter auch Kinder, einsetzte. Videos im Internet zeigen ebenfalls einen Tränengas-Einsatz vor dem Haus: Beamte versuchen so offenbar, Bewohner zurückzudrängen, die sich an einem Absperrgitter zu schaffen machen. Zu sehen ist auf einem Film auch, wie die Polizisten von Personen hinter dem Gitter mit verschiedenen Gegenständen beworfen werden.

Rolf-Georg Köhler (SPD, 4.v.r.), Oberbürgermeister der Stadt Göttingen, spricht mit Bewohnern des unter Quarantäne gestellten Wohngebäude in der Göttinger Innenstadt.
Rolf-Georg Köhler (SPD, 4.v.r.), Oberbürgermeister der Stadt Göttingen, spricht mit Bewohnern des unter Quarantäne gestellten Wohngebäude in der Göttinger Innenstadt.

© Swen Pförtner/dpa

Die Göttinger Polizei sprach am Sonntag von acht verletzten Beamten. Drei von ihnen seien derzeit nicht dienstfähig.

Quarantäne für 700 Bewohner

Die Göttinger Stadtverwaltung hatte für die rund 700 gemeldeten Bewohner der als soziale Brennpunkte geltenden Wohnblocks nach ersten Corona-Fällen Tests angeordnet und eine Ausgangssperre verhängt. Nach den bisher bekannten Testergebnissen haben sich etwa 120 Menschen aus dem Haus mit dem Virus infiziert. Am Montagabend sollen weitere Testergebnisse in Teilen bekanntgegeben werden. Unter den Bewohnern sind auch etwa 200 Kinder und Jugendliche, die dort in teils äußerst prekären Verhältnissen leben.

Politiker der Grünen und Linken sowie Kirchenvertreter hatten die Verantwortlichen zuletzt wegen der drastischen Abriegelung des Wohnkomplexes kritisiert.

Die Bewohner dürfen die Gebäude zunächst bis zum 25. Juni nicht verlassen. Die Eingänge zu dem Grundstück sind verschlossen. Ein mobiles Versorgungszentrum bringt den Menschen Lebensmittel, auch Windeln und Hygieneartikel würden hier ausgegeben, sagt Sozialdezernentin Petra Broistedt.

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Oberbürgermeister Ralf-Georg Köhler erklärte am Sonntag, dass die Menschen zweimal täglich mit Essen versorgt werden würden und dass sie zudem fertig verpackte Lebensmittel erhalten würden. Man würde versuchen, die Versorgung jeden Tag zu verbessern.

Eine Bewohnerin des Komplexes sagt allerdings: „Wir wurden ohne Vorwarnung nicht mehr rausgelassen, konnten nicht vorher einkaufen. Was uns von der Stadt gegeben wird, sind ein paar Äpfel und abgelaufene Chips!“ Stadtverwaltung, Universitätsmedizin und Hilfswerke wie das Rote Kreuz und die Johanniter betreiben vor Ort inzwischen auch eine Gesundheitsstation.

Zu der drastischen Maßnahme hat es aus Sicht von Göttingens Oberbürgermeister Rolf-Georg Köhler (SPD) und dem örtlichen Krisenstab „keine Alternative“ gegeben. Er sei überzeugt davon, dass man „korrekt“ und im Interesse der Bevölkerung gehandelt habe. Auch wenn man sich die Entscheidung über den „unendlich tiefen Eingriff in Grundrechte“ nicht leicht gemacht habe.

Das Ziel sei es, zweimal negativ getesteten Personen, die Möglichkeit geben, die Wohnanlage unter Auflagen zu verlassen. Dies würde bedeuten, dass Bewohner maximal zu dritt unterwegs sein dürften, einen Mund-Nase-Schutz tragen und sich beim Verlassen der Wohnung an- und abmelden müssten.

Die Quarantäne sei Köhler zufolge bewusst für sieben und nicht für 14 Tage angesetzt worden. Man wissen, dass an diesem Standort „die Quarantäne sehr schwierig durchzuhalten“ sei.

„Warum treffen Ausgangssperren die Ärmsten der Armen?“

Der evangelische Göttinger Pfarrer und Grünen-Ratsherr Thomas Harms spricht allerdings von einem „verschärften Arrest“ für 700 Personen. Es sei fraglich, ob eine solche Maßnahme auch in den besseren Wohngegenden angeordnet würde: „Warum treffen Ausgangssperren die Ärmsten der Armen, darunter sehr viele Kinder?“ Die Erniedrigten seien in Krisenzeiten mal wieder „die ersten der Geschlagenen“, sagt Harms.

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Auch die Basisdemokratische Linke in Göttingen kritisiert das Verhalten der Stadt scharf. Hier würden 700 Leute ohne sie vorab zu informieren „interniert“ und mit einem Großaufgebot an Ordnungskräften gezwungen, zusammen mit den Infizierten auf dem Gelände zu sein. „Es wird riskiert, dass der gesamte Wohnblock krank wird, es wird in Kauf genommen, dass Risikopatienten in Lebensgefahr gebracht werden.“

Die Nacht sei dem Einsatzleiter der Polizei Rainer Nolte zufolge ruhig verlaufen. Auch am Sonntag sei es bislang zu keiner derartigen Eskalation gekommen.

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