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Israels Premier Benjamin Netanjahu beschuldigt den Iran, ein "geheimes Atomprogramm" zu führen.

© AFP

Eskalation im Nahen Osten: Droht jetzt ein Krieg zwischen Israel und dem Iran?

Der Streit um das Atomabkommen mit dem Iran eskaliert. Die Gefahr eines Kriegs zwischen Israel und dem Iran rückt näher. Die wichtigsten Fragen und Antworten.

Mit einer dramatischen Geste zog Benjamin Netanjahu an einem schwarzen Vorhang und enthüllte ein Bücherregal voller Aktenordner: Beweise für ein geheimes iranisches Atomwaffenprogramm, wie der israelische Ministerpräsident bei einem Fernsehauftritt am Montagabend sagte. Rund 55 000 Seiten an Unterlagen und 183 CDs voller Daten, im Januar vom israelischen Geheimdienst Mossad in Teheran gestohlen, dokumentieren demnach den fortgesetzten Versuch der Iraner, trotz der Verpflichtungen aus dem Atomabkommen von 2015 den Bau einer Nuklearwaffe anzustreben. Netanjahus Auftritt macht eine Aufkündigung des Atomdeals durch US-Präsident Donald Trump wahrscheinlicher – und erhöht die Gefahr eines neuen Krieges in Nahost.

Warum eskaliert die Lage gerade jetzt?

Netanjahus Erklärung facht ohnehin eskalierende Spannungen zusätzlich an. Trump muss bis zum 12. Mai über die Wiedereinführung amerikanischer Sanktionen gegen den Iran entscheiden, was das Ende des Atomvertrages bedeuten würde. Der US-Präsident zeigte sich beeindruckt von Netanjahus Auftritt und sagte, das Atomabkommen gebe dem Iran die Möglichkeit, innerhalb weniger Jahre eine Nuklearwaffe zu entwickeln. Deutschland, Frankreich und Großbritannien versuchen seit Wochen, den US-Präsidenten noch umzustimmen und den Atomvertrag intakt zu lassen. Stattdessen streben die Europäer neue Vereinbarungen an, um Irans Raketenprogramm und Machtstreben in Nahost zu begrenzen.

Viele Experten in Washington unterstützen den europäischen Versuch. Ein Ausstieg der USA aus dem Atomabkommen würde den iranischen Hardlinern den Vorwand liefern, das Nuklearwaffenprogramm wieder zu starten, warnte der frühere US-Außenamtssprecher John Kirby. Mit Netanjahus Fernsehauftritt, der von einigen Medien als reine Schauveranstaltung zur Beeinflussung Trumps kritisiert wurde, rückt ein Kollaps des Atomdeals von 2015 jedoch ein gutes Stück näher. Ein weiterer Grund für Netanjahus rhetorische Attacke auf den Iran ist die Lage im Gazastreifen. Die dort herrschende Hamas-Organisation verstärkt in jüngster Zeit ihre Kontakte zur iranischen Regierung. Israel sieht die zuletzt neu aufgeflammte Gewalt in Gaza als Zeichen der iranischen Versuche, den jüdischen Staat zu destabilisieren.

Welche Rolle spielt die israelisch-iranische Konfrontation in Syrien?

Israel fühlt sich durch die Präsenz der Iraner und der mit Teheran verbündeten libanesischen Hisbollah in Syrien bedroht. Iranische Kämpfer und Truppen der Hisbollah sammeln sich in der Nähe der von Israel besetzten Golanhöhen; Israel zieht auf seiner Seite der Grenze laut Berichten ebenfalls Truppen zusammen, um einen möglichen Angriff aus Syrien abwehren zu können. Auch Raketen und Kampfdrohnen, die in Syrien starten, bilden eine wachsende Gefahr für den jüdischen Staat. Netanjahu will deshalb insbesondere die Lieferung hochmoderner Lenkraketen nach Syrien verhindern.

Im Februar war eine iranische Kampfdrohne in den israelischen Luftraum eingedrungen – israelische Militärschläge in Syrien sind die Folge. Zuletzt waren in der Nacht zum Montag bei Raketenangriffen in Syrien, die den Israelis zugeschrieben wurden, mindestens 26 Menschen getötet worden, die meisten davon Iraner. Schon vor wenigen Wochen hatten die Israelis eine von den Iranern genutzte Luftwaffenbasis in Syrien angegriffen.

Was stört Trump an dem Atomdeal?

Aus Sicht des US-Präsidenten und anderer Hardliner wie Sicherheitsberater John Bolton läuft das Atomabkommen auf einen Ausverkauf westlicher Interessen hinaus. Der von Trumps Vorgänger Barack Obama ausgehandelte Vertrag gebe dem Iran die Möglichkeit, das Atomprogramm voranzutreiben und gleichzeitig vom Ende der westlichen Sanktionen zu profitieren. So verdiene der Iran Milliardensummen, die er unter anderem in den Syrien-Konflikt stecke. Für Trump ist der Atomvertrag irreparabel. Bei Trumps Haltung spielt die amerikanische Innenpolitik eine große Rolle: Der Präsident hatte seinen rechtskonservativen Anhängern im Wahlkampf versprochen, den Iran-Vertrag aufzukündigen. Zudem entspricht ein Ausstieg aus dem Atomvertrag den isolationistischen Instinkten Trumps. Der Präsident will die USA aus einem von ihm als nachteilig empfundenen Geflecht internationaler Vereinbarungen befreien.

Wie wirkt sich Netanjahus Auftritt aus?

Die Präsentation Netanjahus ist inhaltlich heftig umstritten. Zwar betonte der israelische Premier in seinem Power-Point-Vortrag, dass der „Iran lügt“. Doch die Substanz des Materials, das der Mossad aus einem geheimen Archiv der Iraner geholt haben soll, enthält nach Meinung von Fachleuten keine neue Fakten. Netanjahu sprach von einem Geheimprogramm namens „Amad“, mit dem die Iraner die Bombe entwickeln wollten. Gerade weil die internationale Gemeinschaft davon wusste, sei das Atomabkommen von 2015 ausgehandelt worden, schrieb der Nahost-Experte Jeffrey Lewis auf Twitter.

Tatsächlich gibt es bei den israelischen Enthüllungen und bei der Reaktion der US-Regierung Ungereimtheiten. Netanjahus Vorwürfe bezogen sich auf einen Zeitraum Anfang des vergangenen Jahrzehnts, nicht auf den Jetzt-Zustand. Dem Weißen Haus unterlief in einer Stellungnahme ein vielsagender Fehler. Zunächst hieß es in der Erklärung, Netanjahu habe bewiesen, dass der Iran ein geheimes Atomwaffenprogramm „hat“. Kurz darauf wurde die Mitteilung gelöscht und durch eine neue ersetzt. Darin wurde betont, Israel habe Beweise, dass der Iran ein solches Programm „hatte“. Erst kürzlich hatten hochrangige Trump-Berater erklärt, der Iran halte sich an die Vorschriften des Atomdeals von 2015.

Ist die Führung in Teheran bereit, das Abkommen zu modifizieren?

Das ist so gut wie ausgeschlossen. Irans Führung hat in den vergangenen Tagen mehrfach deutlich gemacht: Die Mitte 2015 geschlossene Vereinbarung ist weder verhandelbar noch veränderbar. Erst vor wenigen Tagen sagte Präsident Hassan Ruhani, sein Land werde keinerlei Beschränkungen akzeptieren, die über die bisherigen Zusagen hinausgehen. Der Iran halte sich an die Übereinkunft. Und die habe nicht nur das gegenseitige Vertrauen zwischen der Islamischen Republik und dem Westen gestärkt, sondern leiste auch einen konstruktiven Beitrag zum Frieden in der Region. Irans Rolle im Nahen Osten und das Raketenprogramm seien ohnehin nie Gegenstand der Verhandlungen gewesen.

Dass Ruhani neue Gespräche kategorisch ausschließt, hat handfeste Gründe: Er gehört zum einen seit Jahren zu den prominentesten Förderern und Befürwortern der Übereinkunft. Erklärte sich der 68-Jährige jetzt zu Nachverhandlungen bereit, käme das einem enormen Gesichtsverlust gleich und schwächte ihn innenpolitisch. Denn die Hardliner würden sich eine derartige Gelegenheit nicht entgehen lassen, das verhasste Abkommen umgehend zu kippen. Die politischen und religiösen Ultras lassen keine Gelegenheit aus, gegen den Deal zu opponieren. Immer wieder wird der Präsident attackiert, er habe sich dem Westen angebiedert und die Werte der islamischen Revolution verraten. Zudem bringen sie Ruhani immer wieder mit dem Hinweis in Bedrängnis, der Wegfall der Sanktionen habe dem Volk wenig eingebracht. In der Tat hat sich die wirtschaftliche Situation vieler Iraner kaum verbessert.

Was treibt Benjamin Netanjahu an?

Israels Premier gilt seit Jahren als schärfster Gegner der Atomvereinbarung. Er hält sie für einen schweren Fehler, weil der Iran damit Freiheiten bekomme, die die Mullahs missbrauchten, um den Nahen Osten zu destabilisieren. Deshalb fordert Netanjahu unermüdlich, den Vertrag nachzubessern oder – besser noch – aufzukündigen. Wie Trump traut auch er den Mullahs nicht über den Weg. Netanjahus Credo: Von dem Ziel, Atomwaffen zu besitzen, wird das Regime in Teheran niemals Abstand nehmen. Doch in jeder Art von Aufrüstung sieht Jerusalem eine existenzielle Gefahr für Israel.

Wie groß ist die Gefahr einer direkten Konfrontation Israels und des Iran?

Sie wird immer größer. Aber das könnte eine Art indirekter Krieg werden. Experten in Israel gehen davon aus, dass der Iran nicht selbst angreifen wird, sondern die ihr unterstellte libanesische Hisbollah in den Kampf schickt. Die Schiitenorganisation ist militärisch längst eine Großmacht, aufgerüstet von Teheran gleicht sie einer hochmodernen Armee. An der Nordgrenze zu Israel verfügt die „Partei Gottes“ nach Geheimdienstinformationen über schätzungsweise 120 000 Raketen. Das Arsenal reicht von kleineren Geschossen bis hin zu effektiven Mittel- und Langstreckenwaffen. Diese könnten praktisch jeden Ort im jüdischen Staat erreichen. Selbst die Flugabwehr vom Typ Iron Dome, die Israel an strategisch wichtigen Punkten aufgestellt hat, wäre nicht in der Lage, alle Angriffe abzuwehren. Deshalb wird mit vielen Opfern gerechnet, selbst wenn die Hisbollah nur einen Teil ihrer Raketen abfeuert.

Dieses Szenario hat wiederum zur Folge, dass über einen Präventivschlag nachgedacht wird, um die eigene Bevölkerung so gut es geht zu schützen. Kein Wunder, dass vor einigen Monaten eines der größten Militärmanöver Israels seit Langem an der Nordgrenze stattfand. Das Ziel lautete, sich genau auf einen solchen Ernstfall vorzubereiten. Und noch etwas wird von der politischen Führung ins Feld geführt: Israel wäre bereit, mit Hilfe seiner Luftwaffe den Krieg bis in den Iran zu tragen. Erst vor wenigen Tagen drohte Außenminister Avigdor Lieberman den Mullahs unverhohlen: Wenn Tel Aviv attackiert wird, werden wir Teheran angreifen und jeden iranischen Militärstützpunkt in Syrien zerstören, der Israel bedroht.

Wie wird sich im Kriegsfall die arabische Welt verhalten?

Keine Frage: Die arabische Welt wird Israel für sein Vorgehen pflichtschuldig verdammen. Das gehört zum propagandistischen Standardprogramm. Doch mehr ist nicht zu erwarten. Schon gar nicht, dass ein arabisches Land in den Konflikt eingreifen wird. Denn viele Staaten, allen voran Saudi-Arabien und Ägypten, sind insgeheim froh, dass endlich jemand dem Iran die Stirn bietet und sich Teherans aggressivem Kurs widersetzt. Wenn das „Schmuddelkind“ Israel den unbeliebten und riskanten Job übernimmt, umso besser. Der saudische Thronfolger Mohammed bin Salman soll in den vergangenen Monaten die Verantwortlichen in Jerusalem sogar gedrängt haben, gegen die Hisbollah vorzugehen – Hauptsache, der Erzfeind Iran wird in die Schranken gewiesen. Es ist längst kein Geheimnis mehr, dass Israel und Saudis auf einer Linie liegen, wenn es gegen den gemeinsamen Gegner geht. Mit Trump sind sich bin Salman und Netanjahu einig, dass die größte Gefahr für die Region und darüber hinaus von Teheran ausgeht.

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