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Nicht allein. Die Betroffenen des sogenannten "NSU 2.0" erfuhren zuletzt viel Solidarität.

© Arne Dedert/dpa

„Es läuft etwas schief in diesem Land“: Betroffene der Hassmails des „NSU 2.0“ halten Bedrohungslage für „so hoch wie nie“

Seit Wochen erhalten Menschen, die gegen Rechtsextremismus kämpfen, Mails mit Morddrohungen und privaten Details. Hier sprechen einige über ihre Erfahrungen.

Volker Beck hat in seiner langen politischen Laufbahn schon viel erlebt. Als langjähriger Grünen-Bundestagsabgeordnete hat er sich in der Friedenbewegung engagiert, leidenschaftlich für die Rechte von Homosexuellen gekämpft und immer wieder auf antisemitische Tendenzen in Deutschland hingewiesen. Seit über 30 Jahren wird er dafür angefeindet, bedroht, beleidigt. Doch was er in den vergangenen Wochen erlebt hat, ließ den 59-Jährigen trotzdem nicht kalt.

„Was wir gerade erleben, hat eine ganz andere Spur von Wahnsinn“, sagt Beck am Telefon. Zuletzt hatte ihm der vegane Kochbuchautor und Verschwörungstheoretiker Attila Hildmann in einem Telegram-Chat mit mehr als 65.000 Nutzern mit dem Tod gedroht. Beck erstattete Anzeige.

Trotzdem konnte Hildmann seine Äußerungen bei einer Demonstration in Berlin wiederholen: „Wenn ich Reichskanzler wäre, dann würde ich die Todesstrafe für Volker Beck wieder einführen, indem man ihm die Eier zertretet auf einem öffentlichen Platz.“ Das Publikum johlte und jubelte lautstark, die Polizei griff nicht ein.

„Neu ist, dass man öffentlich Menschen die Würde absprechen kann, ihnen mit dem Tod droht und durch positive Resonanz auch noch bestärkt wird.“ Es habe ihn wirklich nervös gemacht, dass die Polizei nicht reagiert habe, erzählt Beck. Immerhin, eine weitere Hildmann-Kundgebung hat die Versammlungsbehörde verboten, doch die Attacke von Hildmann hat Beck in den Fokus gerückt.

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Wie viele Politiker hat Beck in dieser Woche Drohmails erhalten, eine davon gezeichnet vom sogenannten „NSU 2.0“. Seit Wochen erhalten linke Politiker, Anwälte und Prominente solche Drohmails. Inzwischen sind es mehr als 70, teils mit privaten, nichtöffentlichen Informationen, die in mehreren Fällen von hessischen Polizeicomputern abgefragt worden waren. Hessens Innenminister schließt ein rechtes Netzwerk in der Polizei nicht aus.

„Bedrohungslage auf stabilem Dauerhoch“

Auch in der Mail an Beck tauchten Informationen auf, die eigentlich nicht öffentlich waren. „Das lässt einen nicht unberührt“, sagt Beck. Noch größere Sorge als um sich bereite ihm die neue Qualität rechtsextremen Taten. „Die Drohmails von ,NSU2.0‘, das aggressive Potenzial der Hygiene- und Hildmann-Demos nach den Morden von Halle, Hanau und an Walter Lübcke zeigen, dass die Bedrohungslage auf einem stabilen Dauerhoch angelangt ist. So war das noch nie!“

Seit Jahren im Fokus von Rechten: Der Grünen-Politiker Volker Beck.
Seit Jahren im Fokus von Rechten: Der Grünen-Politiker Volker Beck.

© imago

Beck fordert, dass der Staat konsequenter dagegen vorgehen müsse, außerdem sollten private Daten nicht mehr in Anzeigen, dem Firmenregister oder im Impressum von Webseiten auftauchen. Schließlich würden nicht nur Politiker bedroht. „Es geht um jede Aktivistin, jeden Pfarrer, jeden Demoanmelder, jede Journalistin.“

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Tatsächlich waren auch Journalisten wie der „Welt“-Reporter Deniz Yücel und TV-Moderatorin Maybrit Illner bedroht worden. Vor allem waren es aber Frauen, die „NSU“-Mails bekommen hatten, gespickt mit Beleidigungen und Folter- und Vergewaltigungsfantasien.

„Sie wollen uns mundtot machen“

Eine von ihnen, die regelmäßig Todesdrohungen erhält und beleidigt wird, will sich nach dem jüngsten Schreiben nicht offiziell äußern. Erst kürzlich war ihr mit dem Tod gedroht worden. „Heftig“ sei das gewesen. Nun will sie lieber den Ball flach halten, die politische Sommerpause nutzen, um neue Kraft zu sammeln.

Seit mehr als einem Jahr steht auch sie unter dem Schutz des LKA. „Es läuft etwas schief in unserem Land. Diese Leute wollen uns mundtot machen. Sie wollen, dass wir ihnen dieses Land überlassen. Sie wollen Angst und Schrecken verbreiten.“ Sie hoffe, dass sich kein Betroffener wegen der Anfeindungen zurückziehe, sondern jeder weiter für ein demokratisches Deutschland eintrete. „Wenn wir uns als Betroffene einschüchtern lassen, wenn wir uns zurückziehen, wenn wir aufgeben, können wir alle einpacken“, sagt sie.

Autorin und linke Aktivistin: Jutta Ditfurth.
Autorin und linke Aktivistin: Jutta Ditfurth.

© imago

Jutta Ditfurth, die ebenfalls mehrere „NSU“-Mails erhalten hat, will sich nicht einschüchtern lassen. Dabei hätte sie allen Grund dazu. Seit den 80er Jahren hätten Unbekannte zweimal Brandanschläge auf ihre Wohnung verübt, man habe ihr Kot in den Briefkasten gesteckt, auf der Straße sei sie angegriffen worden, 2018 habe sie ein Mann im ICE mit einem Schlagstock verletzt, zählt die Publizistin auf.

Beleidigungen und Drohungen erhalte sie fast täglich, sagt die frühere Grünen-Politikerin, die inzwischen für die Wählervereinigung ÖkoLinX in der Stadtverordnetenversammlung in Frankfurt am Main sitzt.

„Am Anfang haut es dich emotional um, wenn dir ein Mensch, den du gar nicht kennst, detailliert beschreibt, wie er Dich ermorden will“, sagt sie. Die Mail aus dieser Woche: Sie sei eine „Judensau“, die man in den „Gestapo-Keller“ sperren, vergewaltigen und „Arme und Beine absägen“ solle. Doch über die Jahre habe sie gelernt, wie man mit solchen Drohungen umgehe, sie rational verarbeite. „Ich bin jetzt kühl, es berührt mich nicht mehr.“

Auch ihr bereitet es Sorge, dass sich rechtsextreme Strukturen immer mehr ausbreiten. In ihren Büchern hat sie sich mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus in der Weimarer Republik beschäftigt. Teilweise beobachte sie ähnliche Entwicklungen. Es gehe viel langsamer, deswegen müsse man unermüdlich auf die kleinen Veränderungen hinweisen.

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