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Uiguren suchen in Istanbul mit Bildern nach ihre Verwandten in China.

© AFP/Ozan Kose

„Erst töten, dann melden“: Die „Xinjiang Police Files“ enthüllen das Ausmaß der Uiguren-Verfolgung

Das neue Datenleak dokumentiert, wie die Minderheit der Uiguren im Westen des Landes verfolgt wird. Die Details sind schockierend.

Der junge Mann sitzt leicht gekrümmt in einem eisernen Stuhl, seine Hände stecken zwar nicht in den eisernen Schlaufen der Ablage vor ihm, dafür sind sie mit Handschellen gefesselt. Um ihn herum stehen zwei chinesische Sicherheitsbeamte in Uniform, einer sitzt dem jungen Mann gegenüber und befragt ihn.

Der eiserne Stuhl ist ein sogenannter „Tigerstuhl“, das ist ein Gerät, das laut der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch in chinesischen Polizeistationen und Gefängnissen auch als Folterinstrument benutzt wird – weil Gefangene stunden- oder sogar tagelang auf ihm fixiert werden können.

Dieser Stuhl aber steht in einem sogenannten „Umerziehungslager“ für die Minderheit der Uiguren in Tekes in der westchinesischen Autonomen Region Xinjiang. Er ist auf einem von Tausenden Bildern zu finden, die eigentlich nie ans Licht der Öffentlichkeit gelangen sollten.

In den „Xinjiang Police Files“ haben internationale Medien, darunter der „Spiegel“ und der „Bayerische Rundfunk“, Daten, Fotos und Reden aus dem Jahr 2018 ausgewertet, die dem deutschen Forscher Adrian Zenz offenbar von einem unbekannten Hacker zugespielt worden sind.

Die Unterlagen bieten einen erschütternden Einblick in die unmenschliche Behandlung der Uiguren in den Lagern sowie in willkürliche Inhaftierungen. Auch politische Anweisungen werden darin dokumentiert. Demnach soll Chen Quanguo, der frühere Parteichef von Xinjiang, 2018 einen Schießbefehl für flüchtende Häftlinge erteilt haben: „Erst töten, dann melden.“

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China bezeichnet die Lager als Berufsfortbildungszentren und begründet die Inhaftierung von Uiguren mit „Terrorismusbekämpfung“. Die USA und mehrere westliche Parlamente, etwa Kanada und die Niederlande, hingegen nennen Chinas Vorgehen einen „Genozid“ an den rund zwölf Millionen Uiguren Xinjiangs. Es gibt Berichte über Zwangsarbeit und Zwangssterilisierungen.

Die aktuelle Veröffentlichung führte bereits zu diplomatischen Verstimmungen zwischen Deutschland und China. Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) verlangte in einer einstündigen Videokonferenz mit ihrem chinesischen Amtskollegen Wang Yi eine transparente Aufklärung der Vorwürfe.

Im deutschen Außenministerium sprach man von „schockierenden Berichten und neuen Dokumentationen über schwerste Menschenrechtsverletzungen“. Finanzminister Christian Lindner nannte die Bilder „schockierend“. „Bei allen Gelegenheiten müssen wir chinesische Offizielle auf die Menschenrechtslage ansprechen“, sagt er dem „Handelsblatt“. Chinas Regierung wies die Berichte als „verleumderisch“ zurück.

Zurzeit besucht die UN-Menschenrechtskommissarin China - und auch Xinjiang

„Die chinesische Regierung lügt von Anfang an und versucht, ihre Gräueltaten geschickt zu vertuschen“, sagt Asgar Can, Vorsitzender des Vereins Uigurische Gemeinde in Europa mit Sitz in München. Nach den „China Cables“, einem Dokumenten-Leak aus Xinjiang von 2019, würden die „Xinjiang Police Files“ nun abermals die Grausamkeit der chinesischen Führung gegen Uiguren und andere Minderheiten in aller Deutlichkeit dokumentieren.

„Die Weltöffentlichkeit, die UN, die EU und besonders die deutsche Regierung müssen endlich aufwachen und die Realität erkennen“, sagt Can. Das bedeute „scharfe Sanktionen in allen Bereichen sowie ein Einreiseverbot für hochrangige chinesische Politiker nach Europa“.

Die Enthüllungen kommen zu einem Zeitpunkt, da die UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet China besucht. Die ehemalige chilenische Präsidentin will auch nach Xinjiang fahren, um sich dort über die Zustände in den Lagern zu informieren.

Wie umfassend und unabhängig ihr das gelingt, ist die Frage, Menschenrechtsorganisationen befürchten, dass ihr Besuch von der chinesischen Propaganda orchestriert werden könnte. Mitarbeiter Bachelets hatten im Vorfeld betont, dass sie sich ihre Gesprächspartner aussuchen könne und dass die Unterhaltungen nicht überwacht werden würden.

Vor diesem Hintergrund fordert Asgar Can eine entschiedene Reaktion der Vereinten Nationen auf das Leak: „Die UN müssen bei einer gesonderten Tagung dieses Thema ansprechen und mit einer Resolution das Vorgehen der chinesischen Regierung verurteilen.“ Auch Wirtschaftsverbände und Medien sieht er in der Pflicht, bezüglich China umzudenken.

„Die Bilder direkt aus den Polizei-Computern sind eindrucksvoll – besonders weil sie so viel Rohmaterial beinhalten“, schreibt Adrian Zenz auf Twitter. Ein Bild aus Tekes zeigt einen Mann, dessen Rücken mit roten Striemen bedeckt ist – offensichtliche Spuren von Misshandlungen. Ein anderes zeigt einen Polizisten vor einer Zellentür, der einen Holzknüppel hält wie einen Baseballschläger.

Hinzu kommen Tausende Datensätze mit Informationen über die uigurische Bevölkerung. „Aus dem Kreis Konasheher, südlich der Oasenstadt Kashgar, finden sich beinahe alle Einwohner der Gegend im Datensatz“, schreibt der „Spiegel“. Das seien Hunderttausende Menschen mit ihren Namen, Geburtsdaten und Ausweisnummern. Von ihnen wiederum waren laut „Xinjiang Police Files“ mehr als 22 000 kurz- oder langzeitig interniert.

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