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Neonazis, die untergetaucht sind, werden nicht immer wegen rechter Straftaten gesucht.

© Daniel Schäfer/dpa

Ermittlungen: 467 Rechtsextreme in Deutschland sind untergetaucht

Die Haftbefehle liegen vor - doch knapp 500 Rechtsextremisten sind nicht zu fassen. Wie kann das sein?

Von Frank Jansen

In Deutschland können Haftbefehle gegen insgesamt 467 Rechtsextremisten nicht vollstreckt werden, weil die Beschuldigten nicht aufzufinden sind. Das berichtet die „Neue Osnabrücker Zeitung“ unter Berufung auf eine Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Linken-Fraktion im Bundestag. Knapp jeder fünfte Gesuchte gilt als gewalttätig. Die Zahlen wirken angesichts der bundesweit 175000 offenen Haftbefehle gering. Dennoch machen sich die Sicherheitsbehörden Sorgen.

Weshalb wurden die Haftbefehle ausgestellt?

Das Bundesinnenministerium spricht von insgesamt 605 Haftbefehlen, darunter sieben aus dem Ausland, die am Stichtag 28. September im Polizeilichen Informationssystem „Inpol-Z“ und dem Schengener Informationssystem (SIS II) vorlagen. Demnach liegen gegen einen Teil der 467 Rechten mehrere Haftbefehle vor. Doch längst nicht alle Untergetauchten werden wegen politisch motivierter Delikte gesucht. Das sind „nur“ 108. Zwei von ihnen sind mit mehreren rechten Delikten aufgefallen. Und insgesamt zwölf Rechte sollen politisch motivierte Gewalttaten verübt haben. Nach weiteren 87 Rechten fahndet die Polizei wegen unpolitischer Gewaltdelikte. Konkrete Fälle mit Tatverdächtigen nennt das Ministerium nicht.

Wenn es um Gewaltdelikte geht: Sind die Gesuchten gefährlich?

Zumindest ein Teil von ihnen gilt durchaus als gefährlich. Auch wenn keiner der Untergetauchten wegen Terrorverdachts gesucht wird, sind immerhin vier Fälle dabei, in denen es um Mord geht. In einem weiteren um Totschlag. Bei drei der fünf Fahndungen befinden sich die Gesuchten aber offenbar im Ausland. Das lässt sich aus der Liste der stichwortartig genannten Haftbefehle schließen, die im Anhang der Antwort des Ministeriums steht.

Sicherheitskreise betonen, bei gewalttätigen Neonazis im Untergrund sei zu befürchten, dass sie terroristisch aktiv werden. „Es gibt das Risiko, dass einer durchknallt und meint, er müsse mehr machen als bisher“, heißt es in Sicherheitskreisen. Und die Erinnerung an die Terrorgruppe NSU ist nicht verblasst. Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe waren 1998 aus Jena verschwunden, die Fahndung blieb erfolglos. Die drei radikalisierten sich im Untergrund weiter. Böhnhardt und Mundlos erschossen zehn Menschen, verübten zwei Sprengstoffanschläge und raubten Banken aus. Polizei und Verfassungsschutz ahnten nicht, dass die drei eine Terrorzelle gebildet hatten. Die Suche nach Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe wurde eingestellt. In den Sicherheitsbehörden würde heute niemand behaupten, von den derzeit Untergetauchten werde garantiert keiner versuchen, den NSU nachzuahmen.

Wie und von wem wurden die 467 Personen als rechtsextrem definiert?

Die Polizei zählt die Untergetauchten zum „Phänomenbereich PMK-rechts“. Gemeint ist die politisch motivierte Kriminalität von Neonazis und anderen Rechten. Danach sind alle Untergetauchten zumindest mit Delikten wie dem Hitlergruß oder rassistischer Hetze aufgefallen. Das betrifft auch die Gesuchten, in deren Haftbefehl von einer unpolitischen Straftat die Rede ist. Das Innenministerium nennt in der Liste der Haftbefehle unter anderem Diebstahl, Erschleichen von Leistungen – dazu zählt Schwarzfahrerei – und Delikte im Straßenverkehr.

Bei den politisch motivierten Delikten geht es mehrfach um Volksverhetzung und Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisation, das wären dann Hitlergruß und das Schmieren eines Hakenkreuzes. In der Liste ist nicht zu erkennen, welche Delikte wie Körperverletzung, Bedrohung, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte oder auch Totschlag und Mord rechts motiviert waren oder nicht.

Sind die Zahlen im Vergleich zu Vorjahren gestiegen oder gesunken?

Die Bilanz vom 28. September enthält Fälle aus den Jahren 2009 bis 2018. Seit 2016 hat die Zahl der Haftbefehle gegen Rechte enorm zugenommen. Allein für das laufende Jahr sind 382 verzeichnet. Sicherheitsexperten nennen als einen Grund die vielen Angriffe auf Flüchtlinge und deren Unterkünfte.

Die Zahlen ändern sich allerdings nahezu täglich, da es der Polizei schon gelingt, gesuchte Rechtsextremisten festzunehmen. Und im September 2017 sah die Statistik der offenen Haftbefehle noch schlechter aus als heute. Damals sprach die Polizei von 640 Fahndungen nach 501 Personen aus dem Spektrum der rechts motivierten Kriminalität. 2016 waren es 207 offene Haftbefehle gegen 161 Rechte.

Warum tauchen Neonazis ab?

Häufig verweigern sie sich der „Strafvollstreckung“, wie der Liste der offenen Haftbefehle zu entnehmen ist. Rechtsextremisten zahlen offenbar in vielen Fällen eine Geldstrafe nicht und entziehen sich auch der dann fälligen Haft. Hinweise, dass mit Haftbefehl gesuchte Neonazis gezielt in den Untergrund gegangen sind, um Anschläge zu verüben, haben die Sicherheitsbehörden offenbar nicht. Jedenfalls wird das nicht kommuniziert.

Wieso können die Haftbefehle nicht vollstreckt werden?

Angesichts der Zahl von 175 000 nicht vollstreckten Haftbefehlen ist die Polizei schlicht überfordert. „In besonders gefährlichen Fällen werden Zielfahnder eingesetzt“, sagen Sicherheitskreise. Das heißt dann auch: in allen anderen nicht. Die Fahndung läuft dennoch weiter, es gibt auch Razzien, doch für die Suche nach Rechten mit weniger schweren Taten wie Hitlergruß oder „Erschleichen von Leistungen“ hat die Polizei meist zu wenig Personal. Dieses ist auch zunehmend gebunden durch die anhaltende Terrorgefahr. Für die Observation eines islamistischen Gefährders rund um die Uhr sind mehr als 20 Beamte notwendig. Das Bundeskriminalamt zählt aktuell um die 760 Gefährder, mehrere hundert von ihnen befinden sich in Deutschland auf freiem Fuß. Um allein diese Personen permanent im Blick zu halten, wären tausende Polizisten notwendig. Das ist nicht zu leisten. Daran ändert auch die laufende Austockung des Personals der Sicherheitsbehörden in Bund und Ländern wenig.

Wie ist die Situation in Berlin?

Sicherheitskreise sagen, es gebe derzeit keine offenen Haftbefehle gegen „prominente“ Rechtsextremisten. Bei den Gesuchten handele es sich meist um Leute, die ihre Geldstrafen nicht begleichen. Die Polizei sieht sich allerdings zunehmend mit einem bizarren Phänomen konfrontiert. Von den nach Berlin kommenden Obdachlosen aus Osteuropa fallen immer mehr mit „Heil Hitler“ und anderen rechtsextremen Parolen auf. Wenn die Polizei die Täter ermitteln kann, werden sie der Kategorie „PMK-rechts“ zugeordnet und bestraft. Doch zumindest ein Teil der verurteilten osteuropäischen Krakeeler entzieht sich der Geldstrafe und wird dann mit Haftbefehl gesucht. Und oft nicht mehr gefunde 

Wie kommt die Polizei bei ihren Ermittlungen voran?

Die Aufklärungsquote bei politischer motivierter Kriminalität, also rechte, linke, islamistische und andere Delikte, ist bundesweit mäßig. 2017 sank sie auf 39,7 Prozent. Im Jahr zuvor waren es 42,7 Prozent. Bei der Teilmenge der Gewalttaten sieht es etwas besser aus, aber auch hier geht der Trend nach unten (2017: 52,6 Prozent, 2016: 59,9 Prozent). Und spektakuläre Altfälle mit mutmaßlich rechtem Hintergrund werden womöglich nie aufgeklärt.

In Berlin sind das die zwei Sprengstoffanschläge auf den jüdischen Friedhof in Berlin-Charlottenburg. Im Dezember 1998 wurde die Grabplatte auf der letzten Ruhestätte von Heinz Galinski, ehemals Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, bei der Explosion einer Bombe zerstört. Im März 2002 flog ein Sprengsatz in den Eingangsbereich des Friedhofs, die Trauerhalle wurde beschädigt. In beiden Fällen vermuten die Sicherheitsbehörden bis heute rechte Judenhasser als Täter. Nach dem Ende des NSU im November 2011 prüfte die Polizei, ob die Terrorzelle die Anschläge verübt haben könnte. Beweisen ließ sich nichts. Ungeklärt ist auch der Bombenanschlag auf die bei Neonazis verhasste Wehrmachtsausstellung im März 1999 in Saarbrücken. Womöglich war auch das eine Tat des NSU.

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