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Reise ins Ungewisse: Soldaten der Roten Armee kehren aus Ostdeutschland zurück nach Russland.

© imago stock&people

Erinnerungen an den 3. Oktober 1990: „Die Deutschen wurden wiedervereinigt - wir gespalten“

Sie waren Anhänger der Perestroika und erlebten den Mauerfall in Deutschland. Wie ein sowjetischer Soldat und eine Moskauer Bürgerrechtlerin die Wende erinnern.

Von Rebecca Barth

Als Alexander Blinow 1993 das erste Mal seit Langem wieder russischen Boden betritt, erkennt er sein Land nicht wieder. So vieles scheint plötzlich möglich: Die Menschen handeln mit allem, was sie in die Finger bekommen. Neoliberale Berater aus Amerika unterziehen das Wirtschaftssystem einer Schocktherapie, die wenige Leute sehr reich und viele Menschen sehr arm machen würde. Hoffnungslosigkeit paart sich mit Brutalität. Selten war es einfacher, einen Menschen für ein paar Rubel um die Ecke zu bringen – ohne Konsequenzen fürchten zu müssen.

In dieses Land kehrt der 26-jährige Soldat Blinow zurück, wobei von Heimkehr keine Rede sein kann. Als einer von gut einer halben Million sowjetischer Armeeangehöriger in Deutschland sollte er nach dem Fall der Berliner Mauer zügig das Land verlassen. Aus der einstigen Besatzungsmacht war über Nacht ein von den Deutschen geduldeter Gast geworden. 160.000 Soldaten und deren Familien mussten jedes Jahr abziehen, dazu tonnenweise Technik. Die größte Militäroperation in Friedenszeiten, sie war schlecht vorbereitet. Und so steht Blinow 1993 mit Frau und Kind in Moskau am Bahnhof und weiß nicht, wo er übernachten soll.

Vielen geht es wie ihm. Die Regierung lässt 46.000 Wohnungen bauen – viel zu wenig, um die rückkehrenden Soldaten unterzubringen. Offiziere, die bis dato mit ihren Familien in schicken Wohnungen gelebt hatte, fanden sich plötzlich in Zelten wieder, während um sie herum die bekannte Welt zusammenbrach. Neue Heimat: Russische Föderation. „Wir standen vor dem Ruin.“

Glühender Anhänger der Perestroika

1988 kommt Blinow nach Deutschland. Er ist ein glühender Anhänger von Gorbatschows Perestroika und glaubt, das sowjetische System sei reformierbar. „Wir begannen echte Probleme zu diskutieren. Das war echte Demokratie und wir glaubten, dass alles besser werden würde.“ Dass seine Hoffnungen bitter enttäuscht werden, ahnt er zu diesem Zeitpunkt nicht.

Unterdessen gehen Millionen Menschen im Baltikum für ihre Unabhängigkeit auf die Straßen. Der Staat, den Blinow als Heimat bezeichnet, gilt hier als Besatzungsmacht. Blinow sagt: „In der Sowjetunion waren wir alle gleich.“ Wer Letten oder Esten fragt, erfährt: Gleich war, wer sich der russischen Kultur unterwarf. Nationalsprachen durften zeitweise nicht in Schulen unterrichtet werden, Hunderttausende wurden nach Sibirien deportiert. Im Gegenzug siedelten die Sowjets gezielt russische Industriearbeiter im Baltikum an. Machten die Esten 1945 noch rund 90 Prozent der Bevölkerung auf ihrem Territorium aus, waren es 1989 nur noch knapp über 60 Prozent.

Bittere Erinnerungen

„Unser System ist auch zerfallen, weil viele Völker mit Gewalt an die Sowjetunion gebunden wurden. Aber in ihrer Nostalgie sehen das viele Menschen nicht“, sagt die russische Dissidentin und Bürgerrechtlerin Irina Scherbakowa.

Obwohl viele Russen mit Bitterkeit auf die Umbrüche Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre zurückblicken, stellt der Mauerfall eine positive Ausnahme dar. Als am 9. November 1989 immer mehr Menschen Berlins Straßen fluten, um einen ersten Blick in den Westteil der Stadt zu erhaschen, steht der Soldat Blinow Wache am Ehrenmal im Tiergarten.

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Verwirrt und überrumpelt meldet er seinem Vorgesetzten was er sieht. Der weiß auch nicht, wie er reagieren soll und so lässt sich Blinow einfach anstecken von der Euphorie. „Die Deutschen wurden künstlich voneinander getrennt. Wir haben uns sehr gefreut, dass sie wiedervereint wurden.“

Rund 600 Kilometer weiter südlich in München sitzt Irina Scherbakowa enttäuscht vor dem Fernseher. Wie gerne wäre sie live dabei gewesen, hätte mit ihren Freunden in der DDR gefeiert und selbst einen ersten Blick nach Westberlin geworfen. „Der Mauerfall war unglaublich. Wir müssen uns bei Gorbatschow bedanken, dass er keine Minderwertigkeitskomplexe und keine Angst vor dem Westen hatte.“

Irina Scherbakowa vermisst die Sowjetunion nicht.
Irina Scherbakowa vermisst die Sowjetunion nicht.

© Mike Wolff

In ihrer Freude über die deutsche Wiedervereinigung sind sich Soldat und Bürgerrechtlerin einig. Über das, was folgte, nicht. Fragt man Blinow nach der Sowjetunion, beginnt er aufzuzählen, was er vermisst: Solidarität, Gemeinschaftssinn, das Gefühl, zu etwas Großem dazuzugehören.

„Der Verlust kulturell bestimmend zu sein, ist für viele Menschen heute sehr schmerzhaft. Aber dieses Gefühl wird bewusst vom Kreml gefördert.“, sagt Susanne Schattenberg, Direktorin der Forschungsstelle Osteuropa der Universität Bremen.

„Heute ist überall Palmöl drin“

Scherbakowa aber vermisst an der Sowjetunion: nichts. „Die Umbrüche in Osteuropa haben Hoffnungen erfüllt, an die wir selbst nicht geglaubt haben.“ Verlieren würde Russland nur unter Putin: „Wir müssen der Realität ins Auge blicken: Wir sind kein Rechtsstaat geworden. Es gibt keine freien Wahlen, kein funktionierendes Parlament und das System wird immer autoritärer.“

Mit ihren Ansichten ist Scherbakowa in der Minderheit, viele Menschen denken wie Soldat Blinow. Eine aktuelle Umfrage des Lewada-Zentrums zeigt: 75 Prozent halten die Sowjetära für die beste Zeit, die das Land je erlebt hat. „Dass ich nicht lache“, entgegnet Irina Scherbakowa. „Als hätten wir nicht in Schlangen gestanden, um Lebensmittel zu kaufen. Die Situation bei uns war noch viel schlimmer als in der DDR.“

Wenigstens waren die Lebensmittel besser, für die man Schlange gestanden hat, findet Blinow. „Heute ist überall Palmöl drin“, sagt er. „Früher hattest du zwar nur eine Jeans und wolltest lieber drei haben. Aber heute habe ich fünf Jeans und fresse Palmöl.“ 

Gefühl von Minderwertigkeit

Da tut es gut, dass Russland wenigstens außenpolitisch wieder zu neuer Stärke gefunden hat, dass die Krim zurück ist, „da, wo sie hingehört.“ „Das Gefühl minderwertig zu sein und verloren zu haben ist etwas typisch Russisches, das es so in den anderen Republiken der ehemaligen Sowjetunion nicht gibt“, sagt Susanne Schattenberg von der Universität Bremen. Die Euphorie über die Annexion der Krim habe das deutlich gezeigt.

Von der sowjetischen Stabilität und Ordnung ist nicht mehr viel übrig als Aleksandr Blinow Anfang der 90er Jahre nach Moskau zurückkehrt. „Plötzlich sollte ich nicht die Völker der Sowjetunion verteidigen, sondern ein Land von Kapitalisten und deren Geld.“ Er tritt aus der Armee aus und beginnt Uhren herzustellen. „Die Deutschen wurden wiedervereinigt“, sagt Blinow. „Aber wir wurden gespalten.“

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