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Roger Willemsen wurde als TV-Moderator mehrfach ausgezeichnet, er war Autor von Bestsellern und Honorarprofessor an der Humboldt-Universität.

© Mike Wolff

Erinnerung an Roger Willemsen: "Die Kanzlerin chloroformiert das Land"

Heute vor zwei Jahren ist Roger Willemsen gestorben. Als kluger Beobachter gab der Publizist dem Tagesspiegel im März 2014 ein Interview über den Zustand der deutschen Politiker.

Wie steht es um die deutsche Politik? Roger Willemsen gehörte zu jenen, die besonders präzise beobachtet haben und dabei sah, wie Abgeordnete lärmen, tanzen, rüpeln, schleimen - und kluge Reden halten. Darüber sprach er mit uns im Interview

Sein letztes Buch "Das hohe Haus" führte lange die Spiegel-Bestsellerliste an. Politisch engagierte sich Willemsen u.a. als "amnesty"-Botschafter.

Am 7. Februar erlag er in seinem Haus bei Hamburg einem Krebsleiden. Für den Jahresrückblick 2014 beschrieb er für den Tagesspiegel - gewohnt furios - das deutsche Phänomen Helene Fischer.

Herr Willemsen, das ganze vergangene Jahr sind Sie in jeder Sitzung des Bundestages gesessen, von 9 Uhr früh bis oft in die Nacht hinein. Haben Sie bleibende Schäden erlitten?

Ja, am Gesäß. Die Bank der Opposition mag hart sein, härter sind die Sitze oben auf der Tribüne.

Sie Ärmster!

Ich habe mir nach einigen Tagen ein Kissen mitgenommen und hatte so mein bequemes Habitat. Es gab ja niemanden, der mit einer solchen Verweildauer ausharrte wie ich. Ich darf mit allem Pomp sagen, ich sah keinen Abgeordneten, der 2013 so viele Parlamentsdebatten erlebte.

Sie saßen in einer Zone, in der alles verboten ist.

Man darf auf der Galerie kein Kaugummi kauen, nicht fotografieren, nicht Handysurfen, es ist nicht einmal erlaubt, ein Bonbon zu essen. Es gibt keine Möglichkeit, sich zu erfrischen. Man kann im Klovorraum einen Becher Wasser bekommen, das ist alles. Ich habe einige Kilo Gewicht verloren bei der Beobachtung der Demokratie - meine Bundestagsdiät.

Mal ehrlich, wie oft sind Sie eingenickt, so ganz ohne Kaffee?

Schlafen ist auch verboten, da kommt sofort einer, der Sie weckt.

Es ist ja gern von "Sternstunden des Parlaments" die Rede. Haben Sie eine erlebt?

Die größte Überraschung war, dass es Debatten gibt, die sich jenseits aller tagesaktuellen Relevanz auf die Ewigkeit richten. In diesem Parlament betrachten alle das Wachstum als Allheilmittel gegen jede Form der Krise, und ausgerechnet ein CDU-Mann, Matthias Zimmer, hält die beste Rede, die philosophischste Rede, eine im Vokabular und der Gedankenführung analytisch valide Rede zur Kritik der Wachstumsideologie. Ich lobe da eine durchaus multiple Person, denn derselbe Zimmer hat auch ein paar der hässlichsten Sachen gesagt.

Zum Beispiel?

Die Debatte über Armut werde viel zu sehr mit Blick auf das Materielle geführt. Das möchte ich vor einem Hartz-IV-Wähler wiederholt haben, der nicht weiß, wie er von einem Tag zum nächsten kommt, oder vor den acht Millionen Menschen, die in Niedriglohnverhältnissen leben. Konzentriert euch doch mal auf euren inneren Reichtum! Interessanterweise bekam Zimmer regen Applaus für diesen vulgären Satz zur Armut, aber keinen Applaus für seine vernünftigen Gedanken zum Wachstum.

Die Sternstunden ...

... liegen nach meiner Erfahrung immer da, wo sich das Parlament aus dem Fraktionszwang löst. Wenn Peter Altmaier als Umweltminister eine Deponie für Atommüll sucht und sagt, lasst uns das zusammen machen, gebt mir alle Meinungen und Argumente, vereint eure Anstrengungen, da geschieht das auf eine solidarische, sogar deeskalierende Weise, die beeindruckend ist. Da schält sich plötzlich die Idee des Parlaments heraus, und ich dachte: So könnte es sein.

Angela Merkel ist die wichtigste Rednerin des Bundestags.

Die Kanzlerin ergreift häufiger ihr Handy als das Wort. Wenn sie spricht, breitet sie Betäubungszonen aus. Sie chloroformiert das Land, indem sie unablässig jene Felder benennt, für die es keine Erregung gibt. Sie sagt auf bürokratische Weise, dass sie sagt, was sie gesagt hat. Diese elliptische Rhetorik erlaubt wenig Reibungsflächen. Wo Reibung entstehen könnte, wird sich die Kanzlerin zuerst fragen, ob sie nicht besser dazu schweigt. Dieses Merkel-Prinzip setzt sich gesellschaftlich durch.

Bitte?

Ja, ich höre inzwischen von großen Unternehmen, dass man sich bei Skandalfällen darauf einigt, gar nichts zu kommentieren. So gesehen war der schlimmste Fehler des ADAC, frühzeitig aufzutreten und zu sagen: Unverschämtheit, diese Vorwürfe! Das reizt alle, nachzuforschen und ganz schnell noch mehr herauszufinden.

"Man fragt sich, für wen das gesagt wird - für die Fernsehkameras?"

Ein großes Wort des Parlaments: Debattenkultur. Konnten Sie die erleben?

Sie ist ein schöner Mythos. Die Reden sind ja nicht aufeinander abgestimmt, die wenigsten Redner reagieren spontan. Es wird zu Protokoll gegeben. Da sagt jemand nicht Nutzvieh, sondern er zählt jede einzelne Gattung des Nutzviehs auch noch auf. Ganz selten kommt es vor, dass man jemanden beim Denken sieht. Der Grüne sagt exakt das, was die CDU-Frau eben gesagt hat - diese Redundanzen gehen über alle Parteien hinweg. Die Voraussetzung einer Debatte wäre, sich umstimmen zu lassen, zu sagen, klingt vernünftig, das leuchtet mir ein. Nein, es ist typecasting wie bei Günther Jauch: Niemand darf seinen Standpunkt verlassen, niemand darf je überzeugt werden. Statt Argumenten gibt es sprachliche Piktogramme. Ich könnte etwas zur Rüstung sagen, stattdessen sage ich: Ich habe tiefen Respekt vor den 80 000 Menschen, die in der Rüstungsindustrie arbeiten. Der Respekt ist meine Nummer 26, ich hätte auch die Piktogramme 94 oder 73 nehmen können.

Hat Sie das beim Zuhören frustriert?

Nein, die eigentliche Diskussion findet in den Ausschüssen statt. Wie soll die durch eine Rede im Parlament argumentativ weitergetrieben werden? Man fragt sich, für wen wird das gesagt: für die Fernsehkameras, für die Tribüne?

Und, haben Sie die Antwort?

Für eine diffuse Vorstellung von Ewigkeit, da kann dann jemand nachgucken. So entstehen pro Jahr 50 000 Seiten Protokolle, nach denen ich in meinem Buch zitieren musste. Ich darf nicht schreiben, was ich höre, sondern was offiziell gedruckt steht.

Viele der Reden richten sich sogar an einen fast leeren Saal.

Richtig, das Parlament ist häufig leer, und das führt zum gängigen Vorurteil über Politiker, sie seien faul. Das sind sie nicht. Sie sind eher am Rande der Belastbarkeit durch Parteiarbeit, Ausschussarbeit, Wahlkreisarbeit, Kommunikationsarbeit... Ein 16-Stunden-Tag ist keine Seltenheit, das muss man sagen. Im Übrigen kann man eine Verschiebung nicht ignorieren: Die wichtigen Sachen werden nicht mehr im Parlament gesagt, sondern im Fernsehen. Das bedeutendste politische Geschehen stellt sich in Talkshows aus.

Politiker wie Rita Süssmuth oder Wolfgang Thierse fordern schon seit Jahren: Holt die politische Debatte wieder vom Fernsehen ins Plenum zurück!

Es geschieht nur nicht, es protestiert auch niemand dagegen. Als im April die Frauenquote verhandelt wird und alle, die an der Kompromisslösung gearbeitet haben, hatten schon den Sekt kaltgestellt, wird Ursula von der Leyen zu einer Umfallerin, die in der jüngeren parlamentarischen Geschichte ihresgleichen sucht. Wer im Bundestag nicht redet, ist die zuständige Ministerin von der Leyen. Dafür sitzt sie abends bei Maybrit Illner und erklärt, was sie dem Parlament hätte erklären müssen. Um dann von Illner mit der von jedem Sinn verlassenen Frage konfrontiert zu werden: Hätte die Kanzlerin Sie entlassen müssen? Weiter kann sich Politik nicht von den Bedürfnissen der Bürgerschaft entfernen, als wenn eine Moderatorin die Ministerin fragt, ob deren Vorgesetzte sie für das, was sie gerade im Fernsehen verteidigt, hätte entlassen müssen. Willkommen im Dadaismus!

Wer bekommt den Oscar für Schauspielkunst?

Das kann nur einer sein. Denn Heinz Riesenhuber ...

... der fast 80-Jährige war unter Helmut Kohl Forschungsminister und wurde niemals ohne Fliege am Hals gesehen ...

... hat eine Choreografie, die den gesamten Luftraum nutzt, er wippt, er tanzt, er reitet, er tritt im Gangnam-Style auf, er sagt dazu Sätze, die naturstoned wirken, etwa: "Es ist gut für Deutschland, wenn die Abgeordneten auch fraktionsübergreifend ein Bier miteinander trinken." Diese besinnungslose Lebensfreude ist hochhumoristisch.

Der beste Redner?

Gregor Gysi ist der begabteste und einer der letzten Universalisten im Parlament, er kann zu jedem Thema sprechen, schnell, schlagfertig, manchmal ketzerisch. Auch Jürgen Trittin ist so eine Figur, der dazu mal beim Reden einen Baumstamm umarmt. Für mich unbegreiflich, wie man ihn als Fraktionschef durch Hofreiter ersetzen kann.

Anton Hofreiter ist jung, langhaarig, bayerisch - ein grüner Hoffnungsträger.

Er versammelt Satzbausteine, die wortidentisch von der FDP hätten gesagt werden können. Wenn ich ihn an der Sprachform messe, gibt es keinen Grund, diesen Mann zu wählen. Dann hält er im aktuellen Bundestag eine Jungfernrede, in der er zunächst mal auf die Linke einschlägt und immer noch versucht, der SPD zu gefallen, die inzwischen an der Regierung ist. Das ist fatal.

Was ist wohl unsere Lieblingsepisode im Buch?

Sie konnten sich auf eine einigen?

Ja, recht leicht. Als der Bundestag den Krieg thematisiert und auf der Tribüne vier Pazifisten protestieren, lässt die Grüne Katrin Göring-Eckardt sie abführen. Sie hat da gerade den Vorsitz.

Die Hausordnung triumphiert über das Bürgerrecht. Das gehört zu den vielen symbolischen Akten, die ich beobachtete. 20 Sekunden dauerte dieser Protest, der als undemokratisch angesehen wird, und der Reflex der Grünen ist sofort: Raus!

Sind Ihnen mal Selbstzweifel oder Skrupel begegnet?

Auf der Regierungsbank nicht ein einziges Mal. Doch es gab Frank Schäffler von der FDP, der ausscherte und sagte: Wir dürfen die Banken nicht stützen. Da konnten seine Parteifreunde nicht klatschen. Oder Peter Gauweiler von der CSU, ein altes Feindbild, den ich rehabilitieren muss ...

... Gauweiler hat für dieses Feindbild viel getan ...

... das stimmt, das stimmt, aber der unterstützt Kulturinitiativen, die eigentlich die Linken getragen haben, das ist geradezu anarchisch. Er beklatscht schon mal den politischen Gegner, das ist im Parlament ein beinahe subversiver Akt. Dieser Mann findet es auch suspekt, dass das Goethe-Institut in New York von Wirtschaftslobbyisten annektiert wird und als Kulturort verschwindet - und ist damit mit Claudia Roth einig.

"Große Verunsicherung bei der Belegung der Pausenbrote"

Roger Willemsen wurde als TV-Moderator mehrfach ausgezeichnet, er war Autor von Bestsellern und Honorarprofessor an der Humboldt-Universität.
Roger Willemsen wurde als TV-Moderator mehrfach ausgezeichnet, er war Autor von Bestsellern und Honorarprofessor an der Humboldt-Universität.

© Mike Wolff

Wurde es auch mal lustig?

Wenn eine CDU-Abgeordnete im Bundestag sagt, es zeige sich "eine große Verunsicherung bei der Belegung der Pausenbrote", das ist schon grandios. Oder wenn Rainer Brüderle wie in einer Büttenrede meint: "Die Bürger werden entscheiden, ob eine vernünftige Politik fortgesetzt wird oder irrer Gulasch gemacht wird." Da sind wir bei Comedy.

Wann war es für Sie interessant?

Wenn eine Rede aus dem Zentrum des Lebens kommt. Da beschreibt jemand, wie er im wildmorastigen Fehn großgeworden ist, wo der Vater die Taschenlampe im Mund hatte, um die Marke am Arsch der Kuh zu überprüfen, und der kackbedeckte Schwanz wedelt durchs Gesicht, wenn also der Sachverstand des Redners infiziert ist von primärer Erfahrung, und ich einen Stall sehe und den Schlamm - diese Leute brauchen keine Redenschreiber.

Und was ging Ihnen richtig auf den Keks?

Eigentlich alles, wenn es um Rüstung geht. Da ist dann kein Argument zu schlicht und keine Fälschung zu dreist. Da tragen deutsche Waffenexporte zum Schutze der Menschenrechte in aller Welt bei, da wird argumentiert wie die amerikanische Waffenlobby nach einem Amoklauf, und wenn ich dann mitbekomme, von 17 600 Anträgen auf Rüstungsexporte sind gerade mal 105 abgelehnt worden, dann dämmert es einem spätestens, dass so gut wie alle Parteien das mitmachen, bis auf die Linken.

Etwa 13 000 Reden werden in einer Legislaturperiode gehalten. Konnten Sie ein rhetorisches Grundmuster erkennen?

Es gibt den Satz von Paul Valéry: Wer den Gedanken nicht angreifen kann, greift den Denkenden an. Oft zu erleben war die Herabsetzung des Menschen vor dem Argument: Ihr Gefasel. Sie sind ein Dummkopf. Sie sind faul. Sie haben nichts verstanden. Es werden dem politischen Gegner keine ehrenhafte Gesinnung unterstellt, sondern grundsätzlich die niedrigsten Beweggründe. Das ist der Standard des Parlaments. Dann gibt es noch Rüpelfiguren wie Volker Kauder, breitbeinig, bösartig, schamlos in der Ehrabschneidung. Er ist die Blutgrätsche der Kanzlerin. Ein anderes rhetorisches Ritual hat sich völlig verselbständigt, das der Dankbarkeit, es ist die allerschmierigste Form der Ranschmeiße de Luxe. Permanent danken Abgeordnete Frau Merkel, ich danke Ihnen, dass Sie in der Türkei klar Stellung bezogen haben, ich bin unserer Kanzlerin außerordentlich dankbar, dass sie noch einmal darauf hingewiesen hat, dass wir eine Wertegemeinschaft sind... Man hört ständig Ergebenheitsadressen und Unterwerfungsgesten in Endlosfloskeln. Das Podest für so einen Satz ist prunkvoll, nur der Satz oben drauf ist eine Wurst.

Ein großer parlamentarischer Mythos ist der Zwischenruf. Hier sind einige aus der Vergangenheit: "Galgenkandidat, Harzer Roller, Lackschuhpanter, Petersilienguru, Nadelstreifenrocker, Putzlumpen, Massenmörder, Betonbolschewist, kläffender Goldhamster, Dampfnudel, Hebammenkiller, Frühstücksverleumder, Rotzjunge, Lüstling, Ochsenfrosch, Bombenleger, Pistolero, Pöbelkönig, Knallfrosch, Gruselkomiker, Mini-Goebbels." Hat Ihr Bundestagsjahr 2013 dieses Niveau gehalten?

Nein. Der Zwischenruf ist in der Krise, ich war von seiner Geistlosigkeit erstaunt, er ist als Dokument von Esprit nie erkennbar. Herbert Wehner rief noch "reitender Rosstäuscher", und keiner konnte das enträtseln. Das gibt es nicht mehr. Einmal wurde debattiert, ältere Menschen sollten noch in einen Beruf geführt werden, und Steinbrück rief "Tue ich doch gerade". Das fand ich ganz nett.

Der Zwischenruf geht auch quantitativ stark zurück.

Was sagt uns das? Wenn der Zwischenruf etwas ist wie der Fluch des Autofahrers im Straßenverkehr, jemand also mitgerissen wird von der eigenen Erregung, dann wäre das Parlament heute gelassener, cooler...

... oder gleichgültiger.

Das hieße auch unbeteiligter, weniger empört. Ja, mein Blick fiel oft auf politikmüde Politiker.

Von 631 Sitzen im Bundestag werden 229 von Frauen eingenommen. Verhalten die sich anders?

Frauen agieren sachlicher, Männer kommen herrschaftlich daher. Als es etwa um die Prostitution an Grenzen und um Menschenhandel ging, haben mehrere Frauen unterschiedlicher Parteien gesprochen, informiert und engagiert, über alle Parteigrenzen hinweg, sie waren in Tschechien gewesen, sie hatten sich umgeschaut. Kaum enterten die Männer das Thema, sah ich kein Bordell mehr, keinen Grenzstrich, nichts. Es gibt durchaus diese Fälle, wo jemand für ein Problem brennt, wo es zur Herzensangelegenheit wird. Jeder kennt den hässlichen Satz von Helmut Schmidt, wer Visionen hat, solle zum Arzt gehen. Und es wird Politikern oft vorgeworfen, sie hätten keine Visionen. Das ist nicht wahr. Ich erwähne nur die Frau, die ihre letzte Rede hält und sagt, solange ich lebe, werde ich mich für die Anpassung der Renten in Ost und West einsetzen, dann bricht sie in Tränen aus. Solche Momente der Rührung gibt es auch.

Die Zeit der Zote ist vorbei?

Holger Krestel von der FDP ruft zu einer Frau, die ein Wirtschaftsmagazin zitiert: Das haben Sie wohl in der "Bunten" gelesen! Der Frau wird Interesse an Klatsch zugesprochen, um ihre Kompetenz abzustreiten. Doch die Verachtung gegenüber Frauen ist längst nicht so groß wie die Verachtung gegenüber Armen. Ich hatte vermutet, da walte etwas Pietät, das ist nicht oft der Fall.

"Da herrscht bisweilen ein Geschrei wie auf dem Schulhof"

Roger Willemsen wurde als TV-Moderator mehrfach ausgezeichnet, er war Autor von Bestsellern und Honorarprofessor an der Humboldt-Universität.
Roger Willemsen wurde als TV-Moderator mehrfach ausgezeichnet, er war Autor von Bestsellern und Honorarprofessor an der Humboldt-Universität.

© Mike Wolff

Das heikelste Ressort ist wohl das des Finanzministers, ein falsches Wort von ihm kann Demonstrationen in Athen oder Lissabon auslösen und die Börsen zum Rotieren bringen. Es heißt, Wolfgang Schäuble rede daher nicht mehr frei.

Das klingt plausibel, ich sah ihn immer mit Skript. Schäuble ist kein guter Redner, stets gramvoll, er redet am liebsten aus dem tiefen Innenleben von Zahlenkolonnen heraus. Er fühlt sich dort wohl, wo man anorganische Materie vermutet: Statistiken, Entwicklungskurven, Bilanzen. Nirgendwo spiegelt sich das Leben von Menschen. Trotzdem glaube ich ihm seine Sorge um die Jugendarbeitslosigkeit in Portugal, Spanien, in Griechenland.

Warum?

Weil er das eher beiläufig einführt, auf eine lakonische Weise. Peer Steinbrück erzählt von einem Arbeitsamt in Griechenland, eine junge Frau habe ihm das und jenes gesagt. Von Schäuble habe ich das nie gehört, aber er wirkt bei der Ausbreitung seiner Zahlen, als seien ihm die Konsequenzen wohl bewusst. Es macht ihn eine Kälte aus, eigentlich könnte er eine künstliche Intelligenz sein. Allerdings spricht Schäuble als ein Orakel, das sich durch die badische Färbung seines Dialekts humanisiert.

Kürzlich klagte ein Lehrer in einem Leserbrief an unsere Zeitung, das Treiben im Bundestag habe seinen Schülern keinen guten Eindruck vermittelt. Hat die Klasse einen schlechten Tag erwischt?

Nein, da herrscht bisweilen ein Geschrei wie auf dem Pausenhof, die Redner werden ignoriert, man unterhält sich laut, beschäftigt sich mit seinem Handy, dann wieder schaut eine komplette Fraktion nach hinten. Ich habe ein einziges Mal das Aufflammen von spontanem Applaus auf der Tribüne erlebt, was ja gar nicht erlaubt ist, und das war, als der Präsident des Bundestages die Abgeordneten in toto mahnte: Würden Sie bitte Ihre Privatgespräche zurückstellen! Das denkt man als Zuschauer hinter dieser Lärmwand im Minutentakt.

Sie hätten es gerne gesittet.

Wohlgemerkt, ich klage nicht Disziplin ein, das gehört nicht zu meinem Wesen. Ich würde nur gerne den Rednern zuhören können, während ich da sitze. Das Parlament ist so voller symbolischer Gesten, es möchte klar machen, welchen hohen Wert Demokratie hat, dass deren Verteidigung lohnt. Und bringt sich selbst keine Wertschätzung entgegen. Die Regierungsbank ist nicht besser. Es werden ja Minister direkt angesprochen, gerade Sahra Wagenknecht traut sich das, das Pult der Rednerin steht zwei Armlängen neben der Kanzlerin, doch die Haltung der Regierenden signalisiert demonstrativ: Du interessierst mich nicht. Diese Missachtung zu sehen, war meine erste große Überraschung.

Die "Würde des Hohen Hauses" gibt es nicht?

Doch. Wenn man bedenkt, welche Idee von Demokratie, von Menschenrecht, von immateriellen Werten, die schützenswert sind, dahinter steckt, dann hat es Würde. Dass das Parlament sich immer wieder respektlos all dem gegenüber verhält, ist in jedem Fall demaskierend.

Was auffällt, ist, dass die Linken generell in Ihrem Buch am positivsten erscheinen. Standen die Ihnen schon vorher politisch nahe?

Ich bin so voraussetzungslos wie möglich in dieses Parlamentsjahr gegangen. Ich habe mir eigentlich gewünscht, ich würde Leute aus CDU und FDP entdecken, die ich bemerkenswert finde, gerade weil sie mir politisch fern stehen. Die Linken hatte ich ideologisch sehr viel aufgeladener erwartet, verknöcherter, bornierter, mit viel polemischem Streufeuer. Stattdessen sah ich eine ganze Reihe von jungen Frauen aus der Linkspartei, ein Beispiel wäre Diana Golze, die in ihrer Sachlichkeit fast glanzlos pragmatisch auftreten, aber mit einer hohen Informiertheit und Leidenschaft für eine Sache. Und dann stören einfach deren notorische Diskreditierungen durch alle anderen Parteien. Immer wieder SED, Planwirtschaft... Da zitiert eine Linke Einstein und sagt, wir brauchen ein neues Denken, schon kräht einer von der FDP blöde: Sie meinen den neuen Menschen im Sozialismus!

Wer Ihr Buch liest, wird ab und an am Parlamentarismus verzweifeln ...

... Hilfe! Das wollt’ ich nicht! ...

... und Sie schreiben, die Opposition sei nun so klein, "die Folgen werden gravierend sein". Wieso denn?

Meine Befürchtung ist, es wird deutlicher werden, dass im Parlament eine Simulation von Debatten stattfindet. Wenn 70 Minuten lang ein und derselbe Standpunkt aufgefächert wird, dann darf jemand sechs Minuten Widerworte geben, das könnte vom Wahlvolk mit mehr Desinteresse an politischen Entscheidungen quittiert werden. Dabei, und das ist mir wichtig, lässt sich viel erfahren im Parlament.

Ungefähr 60 Sitzungstage gibt es im Jahr, Sie mussten sich sicher immer mal zum Reichstag quälen.

Nie. Es hat mich sehr viel mehr gefesselt, als ich dachte. Ich habe dem Parlament mit großer, ungebrochener Lust folgen können. In einer Stunde, wie das bei sonstigen Besuchern normal ist, bekommt man einen kurzen Peep-Show-Eindruck, das führt zu nichts.

Je mehr sich das Jahr zu Ende neigt, desto häufiger taucht in Ihrem Buch das Wort "müde" auf.

Es gibt Leerlauf, Rituale, Floskeln, das führt zur Erschlaffung aller vitalen Kräfte, ja. Trotzdem wird im Parlament unsere Wirklichkeit beschlossen, für mich hat das Pathos.

Warum dieses Projekt: ein Jahr Bundestag?

Als ich Dieter Hildebrand davon erzählte, war der als interessierter Zeitgenosse ganz elektrisiert, er meinte: Warum hat das nie jemand gemacht? Ich habe extra die Position der nicht journalistischen Beobachtung gewählt, ich habe niemanden interviewt, nicht zu Themen recherchiert, war nicht beim Wahlkampf dabei, ich wollte nur die panoramatische Sicht der Themen eines Jahrs. Wir haben ja bei repräsentativen Apparaten die Vorstellung, es gäbe ein Heimliches, es gäbe ein Dahinter, was das Eigentlichere sei - das wollte ich entziffern. Und die Bühne, die mir bereitet war, war der Parlamentssaal, sie ist öffentlich zugänglich, und sie zeigt mir für die Dauer eines Bühnenabends, der ein Jahr dauert, was auf der politischen Bühne gespielt wird, wer die Schmierendarsteller sind, die Qualität der Dialoge, welche Dramen es gibt.

Das "SZ-Magazin" hat 2013 Fragen an alle Abgeordneten des Bundestags geschickt, unter anderem, wen sie gerne als Quereinsteiger bei sich hätten. Sie, Herr Willemsen, waren der Wunschkandidat, weit vor Xavier Naidoo und Thomas Gottschalk! Es gibt Angebote, die kann man nicht ablehnen.

Die Quintessenz meiner Beobachtung des Parlaments kann nicht sein, dessen Mitgliedschaft anzustreben. Ich bin eher ein Vertreter der Außerparlamentarischen Opposition, deren momentane Stärkung ich mir herzlich wünsche.

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