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Flüchtlinge warten vor dem Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales.

© dpa

Erfundener Flüchtlingstod in Berlin: Die Lageso-Lüge

Die von einem Helfer erfundene Meldung über einen toten Flüchtling am Berliner Lageso löste Aufregung aus. Eine Übersicht über den Fall - und seine Folgen.

Das Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) steht seit Wochen in der Kritik. Schnell verbreitete sich die Nachricht, dass ein Flüchtling gestorben sei, der lange vor der Behörde gewartet habe. Inzwischen ist klar: alles erfunden.

Wie ist die Lage am Lageso?

Unverändert dramatisch. Noch immer warten Flüchtlinge in langen Schlangen, viele im Freien, weil in den extra aufgebauten Zelten nicht alle Wartenden Platz finden. Der Ablauf der Erstregistrierung ist zwar verbessert worden, weil vor Monaten in der Wilmersdorfer Bundesallee die zentrale Registrierungsstelle eröffnet worden ist. Doch jetzt stehen am Lageso in der Moabiter Turmstraße 21 jene Flüchtlinge in Warteschlangen an, die registriert sind und deren Asylverfahren läuft. Sie haben Anspruch auf finanzielle Leistungen in Höhe des Hartz-IV-Satzes, dafür aber müssen sie sich selbst mit Essen versorgen, sofern dies nicht ein Caterer in ihrer Unterkunft stellt. Dieses Geld kann man sich nur im Lageso abholen, an den Geldautomaten-Kassen.

Da in der zuständigen Leistungsabteilung derzeit aber rund die Hälfte der 70 Mitarbeiter krank ist, können täglich nur 200 bis 300 Flüchtlinge, die einen Termin haben, bedient werden. Alle anderen müssen wieder in ihre Unterkunft zurück, auch wenn sie einen Termin hatten. Sie erhalten einen neuen. Die Folge davon ist, dass viele Flüchtlinge schlichtweg hungern, weil sie kein Geld haben. Allein beim Flüchtlingsheim Allende II in Köpenick, sagte Heimleiter Peter Hermanns, „sind 40 bis 60 Bewohner in dieser Situation“. Hermanns beklagte, „dass die Leute morgens um 6 Uhr zum Lageso gehen und um 20 Uhr ohne Geld zurückkommen“. Hermanns erzählt von Flüchtlingen, die erst im März einen Termin bekommen haben. Bis dahin werden die Menschen außerplanmäßig von den Heimen versorgt.

Hinzu kommen Flüchtlinge, die sich am Lageso in den weißen Zelten und davor sammeln, um sich für die Erstregistrierung in der Bundesallee vorregistrieren zu lassen und das dafür nötige Bändchen abzuholen. Sie stehen in Schlangen auch links vom Haupteingang. Unter diesen Menschen befinden sich wahrscheinlich auch kranke Personen, vielleicht sogar Schwerkranke. Mediziner berichteten, auch ernsthaft erkrankte Flüchtlinge würden sich mit aller Kraft dagegen wehren, behandelt zu werden – aus Angst, dass sie dadurch ihren Platz in der Warteschlange verlieren würden. Die medizinische Versorgung am Lageso hat sich immerhin erheblich verbessert, seit sich Ärzte der Charité um die Gesundheit der wartenden Menschen kümmern. Die Kosten für die Behandlungen der Patienten trägt das Land Berlin.

Wie ist die psychische Belastung und psychologische Betreuung der Helfer?

Ein Problem bekommen vor allem die Helfer, die sich in übertriebener Weise engagieren. „Es gibt Menschen, die entwickeln ein pathologisches Helfen“, sagt Mazda Adli, Chefarzt der Fliedner-Klinik in Berlin, einer Tagesklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik. „Die Hilfe solcher Menschen ist maßlos.“ Übertriebenes Helfen kann zur Kompensation für emotionale Defizite werden. „Sie haben ein instabiles Selbstwertgefühl und leiden oft darunter. Dazu kommt, dass solche Menschen ihre eigenen Grenzen und Bedürfnisse oft nicht mehr richtig einschätzen könnten. Solche Menschen sind oft auf der Sinnsuche.“ Sie suchten dann etwas, mit dem sie ihr Selbstwertgefühl stabilisieren könnten. Das kann dazu führen, dass man einen Tunnelblick entwickelt und den Sinn für die Realität verliert.
Die vermeintliche Lösung ist dann oft ein regelrecht grenzenloses Engagement. „Das sind dann die sogenannten pathologischen Helfer“, sagt Adli, der auch Stressforscher ist. „Sie klammern sich dann oft an die Menschen, denen sie eigentlich helfen sollen.“ Durch diese Maßlosigkeit könne es dann „zu problematischen Fehleinschätzungen und sogar zu extremen und für die Außenwelt völlig unverständlichen Verhaltensweisen kommen“. Adli redet allgemein, er redet nicht über den speziellen Fall von Dirk V, diesen Mann kennt Adli ja gar nicht.
„Solche pathologischen Helfer suchen nach Dankbarkeit und Anerkennung", sagt Adli. „Aber oft ist es so, dass sie genau diese Anerkennung nicht bekommen, weil sie durch ihren Einsatz mehr Probleme verursachen als sie lösen.“ Und durch ausbleibende Dankbarkeit „wird natürlich noch mehr Öl ins Feuer gegossen. Ein Teufelskreis beginnt: Die Betroffenen erhöhen ihr Engagement, werden aber noch mehr enttäuscht, bis hin zur Verbitterung." Eine Vielzahl der freiwilligen Helfer sind psychologisch gar nicht oder nur unzureichend auf ihren aufreibenden Job und auf das massive menschliche Leid, das ihnen begegnet, vorbereitet. Adli gibt allen Helfern einen grundsätzlichen Rat: „Den Helfern gebührt sehr viel Anerkennung und Respekt. Aber man darf dabei nie die eigenen Belastungsgrenzen herausfordern oder gar überschreiten. Immer bei 90 Prozent eine Pause machen.“

Was weiß man über den Helfer Dirk V., der den Fall auslöste?

Dirk V. zählte zu den erfahrensten und bekanntesten Helfern am Lageso. Der 39-Jährige ist PR-Berater. Zum ersten Mal engagierte er sich im Sommer 2015 für Flüchtlinge. Zunächst indem er Kleidung in einer Erstaufnahmeeinrichtung sortierte. Später nahm er zusammen mit seinem Lebensgefährten auch Flüchtlinge in seiner 80-Quadratmeter-Wohnung auf. Der Kontakt wurde über Facebook oder die Anwohnerinitiative „Moabit hilft“ vermittelt. Bedingung war, dass die Flüchtlinge, viele von ihnen strenggläubig, vorab darüber informiert waren und akzeptierten, bei einem homosexuellen Paar unterzukommen. Insgesamt wohnten in der Zeit zwischen Juli und November 24 Asylsuchende aus Afghanistan, Syrien und dem Irak bei Dirk V.

Zu einer gewissen Berühmtheit brachte er es dann im Herbst. Auf seiner Facebook-Seite zog er eine positive, wenn auch polemische Bilanz, in der er mit den gängigen Vorurteilen über Migranten aufräumte: „Kein Muslim da gewesen, der uns im Schlaf abmurksen wollte. Keiner, der uns beschimpft, weil wir als Männer zu zweit ein Bett teilen. Niemand weit und breit, der die Scharia dem deutschen Grundgesetz vorziehen würde. Keiner da gewesen bislang, der nicht bereut, seine Heimat verlassen zu haben.“

Der Post wurde tausendfach in sozialen Netzwerken verbreitet und von zahlreichen Medien aufgegriffen. Bereits im November wies V. auch auf die Überforderung der ehrenamtlichen Helfer hin und kritisierte immer wieder die Politik des Senats: „Du schaust dir das Lageso an und weißt, es wird immer schlimmer. Und die Leute, die nachts vorm Lageso stehen und helfen, sich selbst aufgeben für die Flüchtlinge – das wird irgendwann nicht mehr möglich sein.“ Unter den anderen Helfern galt er als besonders glaubwürdig. Diana Henniges von der Initiative Moabit, die V.s Geschichte vom getöteten syrischen Flüchtling ungeprüft verbreitete, sprach deshalb am Donnerstag von „Verrat“. Sie habe keinen Grund gehabt, misstrauisch zu sein. „Aufgrund der hohen Wahrscheinlichkeit eines solches Vorfalls und aufgrund des Chatverlaufs mit Dirk“ habe sie nicht anders reagieren können. Warum Dirk V. die Geschichte erfand, ist noch nicht bekannt. Zwischenzeitlich soll Dirk V. sein Verhalten im Internet mit „Überforderung“ entschuldigt haben, außerdem sei er „leicht betrunken“ gewesen. Der Post wurde aber mittlerweile wieder gelöscht.

Wird der Fall für ihn strafrechtliche Konsequenzen haben?

Die Polizei hatte den Helfer ausdrücklich als Zeugen befragt, nicht als Beschuldigten. Es liege keine Straftat vor, sagte Polizeisprecher Stefan Redlich schon am Mittwochabend. Seine Einschätzung wird vom Strafrechtler Gerhard Seher von der Freien Universität gestützt. „Mit einem solchen Fall hat der Gesetzgeber nicht gerechnet.“ Das In-die-Welt-Setzen falscher Tatsachen ist allein noch kein Gesetzesverstoß. Hätte der Helfer allerdings erklärt, der Syrer sei durch Gewaltanwendung gestorben, hätte er sich der Vortäuschung einer Straftat schuldig gemacht. Ein „Missbrauch von Nothilfemitteln“ – also das Rufen von Polizei und Feuerwehr – liege auch nicht vor. Der Syrer war ja angeblich schon gestorben.

Die Polizei habe den Fall im Rahmen ihrer üblichen Arbeit aufklären müssen, sagt Seher. Sie hätte auch in die Wohnung des Helfers gegen seinen Willen eindringen können, um sicherzustellen, dass sich dort keine Leiche befindet. So weit kam es nicht, weil der Helfer die Beamten schließlich freiwillig in seine Wohnung ließ. Weder Polizei noch Feuerwehr wollen für ihren Einsatz eine Rechnung stellen – schließlich hat der Helfer keinen Einsatz angefordert. „Drei Mitarbeiter waren mit dem Fall beschäftigt“, sagt Feuerwehrsprecher Sven Gerling. Sie recherchierten nach dem Verbleib des angeblichen Toten – intern und extern. Auslöser waren Medienanfragen. „Das ist sehr ärgerlich“, sagt Gerling.

Wird die Arbeit der Helfer beeinträchtigt werden?

Die eigentliche Arbeit wird wohl kaum beeinträchtigt, dafür ist das Engagement der Helfer zu groß. Diana Henniges von „Moabit hilft“ sagte zwar, dass ihre Initiative etliche Hassmails bekommen habe und viele Helfer sich distanzierten. Aber distanzieren bedeutet nicht, dass sie auch aufhören. Dirk Warbelow ist Vorsitzender des Vereins „Allende II hilft“, der in Köpenick mit rund 50 Mitgliedern die Bewohner des Flüchtlingsheims Allende II und im Union-Fanhaus betreut. „Bei mir hat sich noch niemand gemeldet und gesagt, dass er nicht mehr mitarbeiten wolle“, sagte Warbelow. Er wisse aber nicht, was in den kommenden Tagen noch passiere.

Warbelow ist „erbost“ über die Falschmeldung über den verstorbenen Flüchtling. Er will „die Aktion auch nicht als Hilferuf titulieren“, aber nur verurteilen möchte er sie auch nicht. „Ein gewisses Maß an Verständnis muss man aufbringen, auch wenn die Aktion natürlich nicht gut war.“ Die Falschmeldung sei auch „ein Signal, dass die Ehrenamtler deutlich auf dem Zahnfleisch gehen“.

Die Mitglieder des Vereins „Allende II“ versorgen nicht bloß die Bewohner der Unterkunft Allende II, sie koordinieren seit Kurzem auch die Essensausgabe von Bewohnern des Union-Fanhauses und begleiten Flüchtlinge zu Spendenkammern, in denen Kleider liegen. Auf diese, die direkte Arbeit der Ehrenamtler, habe der Vorfall keinen Einfluss, sagte Warbelow. „Es wäre auch schlimm, wenn es so wäre. Denn ohne die ehrenamtlichen Helfer würde das ganze Konstrukt zusammenbrechen.“ Die Mitarbeiter von „Moabit hilft“ hätten noch viel mehr Probleme zu bewältigen als sein Verein Köpenick.

Was ändert sich am Lageso?

Sozialsenator Mario Czaja (CDU) kündigte am Donnerstag im Parlament weitere Stellen für das Lageso an. Seit dieser Woche würden 13 Bundeswehrmitarbeiter unter Leitung von Sachbearbeitern mitarbeiten. Czaja sagte, dass vor allem im Leistungsbereich ein hoher Krankenstand zu verzeichnen sei. Ab kommenden Montag würden hier rund zehn Mitarbeiter der Deutschen Rentenversicherung sowie weitere Mitarbeiter von der AOK und über den Personaldienstleister Vivento ihre Arbeit aufnehmen. Weitere 20 Mitarbeiter wurden im Leistungsbereich neu eingestellt. Derzeit können laut Czaja etwa 600 Flüchtlinge pro Tag registriert werden. „Wir wollen bis zu 1000 Flüchtlinge pro Tag registrieren.“ Mindestens 50 Pensionäre werden zusätzlich in der Registrierung eingesetzt.

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