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Plakate des kurdischen Präsidentschaftskandidaten Selahattin Demirtas werden aufgehängt.

© Murad Sezer/Reuter

Erdogans Taktik: Am fernen Ararat könnte sich die Türkei-Wahl entscheiden

Für den türkischen Präsidenten sind die Provinzen im Osten der Fokus seiner Wahlkampfstrategie. Eine Niederlage der Kurdenpartei dort könnte Erdogans AKP zum großen Gewinner machen.

Am Ararat im äußersten Osten Anatoliens könnte sich das politische Schicksal der Türkei für die kommenden fünf Jahr entscheiden. Ost-Provinzen wie Agri am biblischen Berg an der Grenze zu Armenien stehen im Zentrum der Strategie des in Bedrängnis geratenen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan vor den vorgezogenen Neuwahlen am 24. Juni. Er will die legale Kurdenpartei HDP aus dem Parlament halten, mit seiner Regierungspartei AKP in Gegenden wie Agri die verbleibenden Parlamentssitze einsammeln und sich so die Mehrheit in der Volksvertretung von Ankara sichern. Erdogans Gegner haben die Gefahr erkannt – ob sie seinen Erfolg verhindern können, ist aber unsicher.

Das türkische Wahlrecht konfrontiert die Parteien mit einer Zehn-Prozent- Hürde für den Parlamentseinzug, ein weltweiter Rekord. Eingeführt wurde die hohe Schwelle lange vor Erdogans Zeiten, um die Kurden aus dem Parlament zu halten. Die HDP hat dank ihrer linksliberalen Ausrichtung, die auch Nicht-Kurden in den Großstädten wie Istanbul anspricht, dieses Spiel durchkreuzt. Bei der letzten Parlamentswahl im Jahr 2015 kam sie auf 10,8 Prozent und 59 Abgeordnete.

Konservative Kurden haben die AKP gewählt

Hier setzt Erdogans Plan an. Gelingt es ihm, die HDP unter zehn Prozent zu drücken, wäre die AKP der große Gewinner. Denn in Agri und anderen ostanatolischen Provinzen sind HDP und AKP die einzigen nennenswerten politischen Akteure. Die Erdogan-Partei hatte in der Vergangenheit viele konservative Kurden für sich gewinnen können. Insgesamt bilden die rund zehn Millionen kurdischen Wähler etwa 20 Prozent der Gesamtwählerschaft in der Türkei: Ihre Entscheidung in den Wahllokalen wird im Juni von großer Bedeutung sein.

In Agri kam die HDP vor drei Jahren auf 68 Prozent der Stimmen und sackte drei der vier Mandate ein, die in der Provinz zu vergeben sind. Die AKP erreichte knapp 27 Prozent und gewann den verbleibenden Sitz; alle anderen Parteien blieben unter zwei Prozent. Fliegt die HDP nun aus dem Parlament, staubt die AKP nach Schätzung des Wahlforschers Mehmet Ali Kulat im Osten insgesamt mindestens 60 zusätzliche Parlamentssitze ab. Damit wäre die Mehrheit der Erdogan-Partei im 600 Mandate starken Parlament wahrscheinlich für die nächsten fünf Jahre gesichert.

Am 8. Juni könnte Demirtas verurteilt werden

Die HDP klagt über Schikanen der Regierung, mit denen ihr Wahlerfolg verhindert werden solle. Ihr Präsidentschaftskandidat Selahattin Demirtas sitzt im Gefängnis. Tausende Aktivisten und Funktionäre bis in die Parteispitze hinein sind ebenfalls hinter Gittern – was die Organisation eines Wahlkampfes erheblich erschwert.

Mehrere Oppositionspolitiker fordern die Freilassung des charismatischen Demirtas, um die Front der Erdogan-Gegner vor dem 24. Juni zu stärken. Bisher hat die Regierung darauf nicht reagiert. Demirtas’ Kandidatur aus der Untersuchungshaft heraus könnte bald jäh beendet werden: Am 8. Juni steht für ihn ein Gerichtstermin an, bei dem er wegen Unterstützung der terroristischen PKK verurteilt werden könnte. Damit würde seine Bewerbung ungültig.

Türkische Medien ignorieren die HDP weitgehend

Ohnehin hat die HDP erhebliche Probleme, sich bei den Wählern Gehör zu verschaffen. Der seit dem Putschversuch vom Juli 2016 geltende Ausnahmezustand gibt den türkischen Behörden weitreichende Vollmachten beim Verbot von öffentlichen Kundgebungen. In vielen Bezirken des Kurdengebietes herrscht eine Ausgangssperre. In den allermeisten Medien der Türkei wird die HDP schlicht ignoriert. Wie die Oppositionszeitung „Cumhuriyet“ meldete, tauchte die HDP in den Berichten des Staatssender TRT im Zeitraum vom 17. April bis zum 6. Mai kein einziges Mal auf; über die AKP und Erdogans nationalistischen Partner, die Partei MHP, berichtete das Staatsfernsehen in denselben Wochen fast 38 Stunden lang.

Vielen gilt die Partei als verlängerter Arm der PKK

Das ist nicht die einzige Schwierigkeit für die HDP. In den Jahren vor 2015 profitierte sie von der Aufbruchstimmung im Land dank eines Waffenstillstandes zwischen den PKK-Terroristen und der türkischen Armee. Doch als die Kämpfe vor drei Jahren wieder aufflammten, tat sich die HDP mit einer eindeutigen Distanzierung von der PKK schwer und vergrätzte damit etliche Wähler. Als vor wenigen Wochen vier andere Oppositionsparteien ein Bündnis gegen Erdogan schlossen, blieb die HDP außen vor: Sie gilt nicht nur bei der Regierung als verlängerter Arm der PKK – auch Erdogan-kritische Nationalisten und Säkularisten gehen auf Distanz.

In den sieben verbleibenden Wochen bis zum Wahltag wird es entscheidend darauf ankommen, ob die HDP über ihre Kernanhängerschaft von weniger als zehn Prozent der Wähler hinaus genug Unterstützer anziehen kann. Auch bei der ebenfalls am 24. Juni stattfindenden türkischen Präsidentenwahl könnten die Kurden wahlentscheidend sein, insbesondere wenn es eine Stichwahl geben sollte. Erdogan hat allen Grund, auf den Ararat zu schauen.

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