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Erdogans Geldpolitik. Das Monatseinkommen der Türken reicht gerade noch für das Nötigste. Wer kann, flüchtet in den Dollar.

© imago images/NurPhoto

Erdogans Inflationskurs spaltet die Gesellschaft: Schuhe flicken und durchalten

Die rasante Entwertung der Lira macht den Türken das Leben schwer. Viele halten dennoch zu Erdogan.

Ein Händler in der Istanbuler Innenstadt kommt mit den Änderungen auf den Preisschildern kaum nach. Beim Großhändler muss er in immer kürzeren Abständen immer mehr für Gemüse, Obst und Eier bezahlen. Und er gibt es an seine Kunden sofort weiter. Seine Stromrechnung im Laden, vor nicht allzu langer Zeit nur 150 Lira im Monat, ist in kurzer Zeit über mehrere Schritte auf fast tausend Lira gestiegen.

Tausend Lira sind fast ein Drittel des türkischen Mindestlohns, mit dem die Hälfte der Beschäftigten in der Türkei auskommen muss. Auch zu Hause steigen die Ausgaben für den Grundbedarf ständig, erzählt der Gemüsehändler. Das gesamte Gehalt eines Bekannten reiche gerade noch für seine Gasrechnung.

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Seit Jahresbeginn hat die Lira mehr als ein Drittel ihres Wertes gegenüber Euro und Dollar verloren. Allein am Dienstag stürzte der Kurs um neun Prozent im Vergleich zum Vortag ab. Die Inflation liegt offiziell bei 20 Prozent, doch viele Bürger und unabhängige Experten beobachten, dass der Wert ihres Geldes noch viel schneller dahinschmilzt.

Kreditkarten überziehen und auf Pump leben

Deshalb sparen die Leute, wo sie können. Ein Schuster in Istanbul sagt, seine Kunden würden ihre alten Schuhe flicken lassen, statt neue zu kaufen. In einer Autowerkstatt wartet der Meister mit seinem Gesellen vergeblich auf Kundschaft. Nur selten komme noch jemand, um sein Auto warten oder reparieren zu lassen, sagt er. Ersatzteile und Motoröl – Importware aus dem Ausland – seien kaum noch zu bezahlen.

Selbst den regelmäßigen Friseurbesuch schenken sich viele Türken inzwischen, um das Geld zusammenzuhalten. Die Istanbuler Bäcker denken über eine kräftige Erhöhung der Brotpreise nach, Gas- und Strompreise steigen ständig. Die Mieten sind innerhalb eines Jahres um mehr als 20 Prozent gestiegen, die Preise für Nahrungsmittel um fast 30 Prozent.

Anfang des Jahres entsprach der Mindestlohn mehr als 300 Euro, heute sind es noch 200 Euro. Wie kommen die Leute da noch über die Runden? Der Gemüsehändler zuckt mit den Schultern. Seine Antwort: „Die Kreditkarten überziehen und auf Pump leben, solange es geht.“

Größere Anschaffungen kommen deshalb für viele nicht mehr infrage. Früher hätten sich Leute aus der unteren Mittelschicht einen gebrauchten Laptop gekauft, weil sie sich keinen neuen leisten könnten, erinnert sich ein Computerhändler. Heute seien selbst gebrauchte unerschwinglich. Das hat auch Folgen für ihn selbst: Für den Ertrag, den er früher mit einer Stunde Arbeit erzielt habe, müsse er heute fünf Stunden arbeiten. „Ich hab’ diese Krise satt“, sagt der Mann.

Wer noch Geld übrig hat, legt seine Lira in Gold an oder tauscht sie in Dollar, um seine Ersparnisse in Sicherheit zu bringen. Die Goldpreise sind deshalb auf einem Allzeit-Hoch. Die Verbraucher haben zudem rund 240 Milliarden Dollar in Fremdwährung unter den Kopfkissen, so viel wie noch nie. Der Dollar ist zur eigentlichen Währung in der Türkei geworden, an der sich alle orientieren.

Zinssenkungen heizen den Währungsverfall an

Die Opposition und viele Experten sehen die Schuld bei Präsident Recep Tayyip Erdogan. Der Staatschef ist überzeugt, dass die Leitzinsen sinken müssen, um die Inflation zu bekämpfen. Die allermeisten Fachleute sagen: im Gegenteil. Eine hohe Inflation müsse mit Zinserhöhungen bekämpft werden. Auf Druck von Erdogan hat die türkische Zentralbank in den vergangenen Monaten mehrmals die Zinsen gesenkt, was den Absturz der Lira beschleunigte. Semih Tümen, ein von Erdogan gefeuerter ehemaliger Vizechef der Zentralbank, nennt den Kurs des Präsidenten ein „irrationales Experiment ohne Aussicht auf Erfolg“.

Erdogan gibt trotzdem weiter Vollgas. Die nächste Zinssenkung wird schon im Dezember erwartet. Der Präsident will mit möglichst niedrigen Zinsen die Konjunktur ankurbeln, um rechtzeitig vor den nächsten Wahlen in anderthalb Jahren die Arbeitslosigkeit bekämpfen zu können. Warnungen von Experten, dass er mit der hohen Inflation und dem Währungsverfall die Menschen in die Armut treibt, schlägt er in den Wind. Hinter den Problemen will er vielmehr ein internationales Komplott gegen die Türkei erkannt haben. Deshalb rief er jetzt einen „wirtschaftlichen Unabhängigkeitskrieg“ aus, den er „mit Gottes Hilfe und Unterstützung der Nation“ gewinnen will.

Auch wenn sich solche Töne absurd anhören: Viele Türken glauben dem Präsidenten und halten trotz aller Beschwerden über die schwache Lira und die steigenden Preise zu ihm und seinem Kurs. „Das Ausland hat es nicht gern, wenn die Türkei stark wird“, sagt ein Schreiner. Der Computerhändler ist überzeugt, dass die Lira-Krise sofort beendet wäre, wenn die Türkei das Ausland nicht mehr mit ihrem Engagement in Zypern, Syrien, Libyen und im Kaukasus ärgern und auf die Erdgas-Suche im Mittelmeer verzichten würde. „Die wollen nicht, dass wir die volle Unabhängigkeit gewinnen.“

Hinzu kommt, dass viele Wähler keine Alternative zu Erdogan sehen. Nach einer Umfrage des angesehenen Instituts MetroPoll trauen zwei von drei Wählern der Opposition nicht zu, die wirtschaftlichen Probleme des Landes zu lösen.

Einen Ausweg sieht auch der Gemüsehändler nicht. „Alle Leute klagen, aber keiner wagt es, aufzumucken“, sagt er. „Aber lange kann das nicht mehr weitergehen – irgendwann knallt es.“

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