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Er hatte schon im März gewonnen: Ekrem Imamoglu

© Reuters/Murad Sezer

Erdogans heißeste Wahl: Wer wird Bürgermeister von Istanbul?

Die Wahlwiederholung könnte für den türkischen Präsidenten im Fiasko enden. Damit Gegenkandidat Imamoglu nicht gewinnt, werden sogar die Kurden aktiviert.

Ende Juni schaltet Istanbul normalerweise einen Gang zurück. Das Schuljahr ist vorbei, viele Istanbuler Familien sind in die Ferienanlagen an den Küsten oder in ihre Heimatdörfer in Anatolien gereist, um Urlaub zu machen. Außerhalb der touristischen Bezirke in der Innenstadt leeren sich um diese Zeit die Straßen der 16-Millionen-Stadt. Doch an diesem Wochenende ist es anders. Die Fluggesellschaften melden ausgebuchte Maschinen aus allen Landesteilen an den Bosporus: Hunderttausende unterbrechen ihre Ferien, um an diesem Sonntag ihre Stimme bei der Wiederholung der Istanbuler Bürgermeisterwahl abgeben zu können. Die Wahl könnte zum Fiasko für Präsident Recep Tayyip Erdogan werden, mit weit reichenden Folgen für die Türkei.

Wähler unterbrechen ihren Urlaub

Ekrem Imamoglu, der Oppositionskandidat am Bosporus, hatte die reguläre Wahl im März knapp gegen Erdogans Kandidaten Binali Yildirim gewonnen. Erdogans Partei AKP erhob Einspruch und setzte die Wahlkommission unter Druck, um Yildirim eine zweite Chance zu geben.

Die Kommission fügte sich und setzte die Neuwahl an, doch die Entscheidung hat der AKP eher geschadet als genutzt. Meinungsforscher weisen darauf hin, dass viele Türken die Annullierung des Oppositionssieges als ungerecht empfanden. Der Unmut reicht bis in die Anhängerschaft von Erdogans Partei AKP hinein. Das ist ein wichtiger Grund dafür, dass die Opposition diesmal mit einem noch höheren Sieg rechnen darf.

Erst spät hat Erdogan die Gefahr erkannt, vielleicht zu spät. In einem plötzlich gestarteten Endspurt tut er alles, um Imamoglus Einzug ins Rathaus zu verhindern. Er droht dem Oppositionspolitiker sogar mit dem sofortigen Amtsentzug nach einem zweiten Wahlsieg. Kurz vor der Wahl verbreitete die Regierung dann noch einen Aufruf des inhaftierten PKK-Chefs Abdullah Öcalan, der die kurdischen Wähler zur Neutralität anhielt. Auf diese Weise könnte die kurdische Unterstützung für Imamoglu geschwächt werden, hofft die AKP.

Plötzlich hofiert Erdogan die Kurden

Überzeugend wirkt das nicht. Noch vor Kurzem hatte die AKP ihre nationalistische Seite herausgekehrt – jetzt hofiert sie plötzlich die Kurden und riskiert damit zudem einen Streit mit ihrem Partner, der rechtsgerichteten Partei MHP. Die pro-kurdische Partei HDP ließ sich nicht beeindrucken und bekräftigte ihren Wahlaufruf für Imamoglu. Der Oppositionskandidat stehe kurz vor der Wahl sehr gut da, sagte der Türkei- Experte Selim Sazak dem Tagesspiegel in Istanbul. Zudem seien die Oppositionswähler hoch motiviert. „Die AKP dagegen wirkt verwirrt und ratlos.“

Die immer panischeren Versuche der AKP, die drohende neue Niederlage doch noch abzuwenden, zeigen vor allem eines: Die Regierung befürchtet, dass ein zweiter Oppositionssieg am Bosporus weit mehr sein könnte als nur ein lokales Ereignis. Eine zweite Schlappe in der Heimatstadt von Erdogan innerhalb weniger Monate würde den Führungsanspruch des Präsidenten erschüttern. Bereits vorhandene Risse innerhalb der AKP könnten größer werden. Mehrere frühere AKP-Spitzenpolitiker arbeiten an der Gründung einer eigenen Partei.

Erdogans Führungsanspruch ist erschüttert

Im März verlor die AKP bereits die Herrschaft über die Hauptstadt Ankara, über die Urlaubermetropole Antalya sowie über andere wichtige Städte. Wenn jetzt auch noch Istanbul verloren geht, das Kronjuwel der türkischen Politik, ändern sich die Machtverhältnisse im Land. Ein Sieg von Imamoglu wäre das Ende der mehr als 16 Jahre lang unangefochtenen absoluten Macht der AKP. Dann steht die Türkei am Anfang vom Ende der Ära Erdogan.

Oppositionsjournalist Murat Sabuncu, der als ehemaliger Chefredakteur der Erdogan-kritischen Zeitung „Cumhuriyet“ mehr als ein Jahr in Haft saß, sieht die Istanbuler Wahl deshalb als „Volksabstimmung über Erdogan“. Sollte Imamoglu den AKP-Kandidaten Yildirim mit einem deutlichen Vorsprung von sechs bis neun Prozentpunkten schlagen, wie es einige Umfragen erwarten lassen, werde das Regieren für den Präsidenten schwieriger, schrieb Sabuncu in einem Beitrag für die Online-Plattform T24.

Der Präsident dürfte auch in nächster Zeit kaum gute Nachrichten für die Wähler haben. Die schlechte Wirtschaftslage erfordert Sparmaßnahmen, die vielen Normalbürgern neue Lasten aufbürden werden. Im Konflikt mit den USA steuert Erdogan auf eine neue Krise zu, auch eskaliert der Streit mit der EU um die Ausbeutung von Gasvorräten vor der Küste Zyperns. Zwar stehen die nächsten regulären Wahlen erst im Jahr 2023 an, doch sind vorgezogene Wahlen in der Türkei keine Seltenheit.

Der Kampf um Istanbul könnte nach der Wahl weitergehen

Weil so viel auf dem Spiel steht, wird sich im Falle eines Sieges von Imamoglu die Frage stellen, ob Präsident und Regierungspartei diesmal ihre Niederlage annehmen. Wird der Opposition erneut ein Wahlsieg aberkannt, wäre das die Aufkündigung eines politischen Grundkonsenses.

Soner Cagaptay, Türkei-Experte beim Washingtoner Institut für Nahost-Politik, erwartet nach einem erneuten Erfolg von Imamoglu eine Kampagne der Regierung, um den Bürgermeister kaltzustellen, etwa durch die Einstellung staatlicher Zahlungen für Istanbul. Wenn Imamoglu kein Geld mehr habe, um städtische Dienstleistungen zu bezahlen, könne sich die Stimmung rasch gegen den neuen Bürgermeister wenden, laute die Grundüberlegung in Erdogans „Plan B“, schrieb Cagaptay kürzlich. Der Kampf um Istanbul könnte also auch nach der Wahl weitergehen.

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