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Für die Schulen ist es nicht einfach, gemeinsame Unterrichtsprojekte zu entwickeln, wenn sie auf unterschiedlichen Erdteilen liegen.

© AFP

Entwicklungspolitik: Wenn der Schüleraustausch Vorurteile festigt

Partnerschaften mit Schulen in Entwicklungsländern galten seit den 70er Jahren als ideales Mittel zum Abbau von Vorurteilen. Ein Irrglaube, wie es jetzt heißt. Vielfach werden nur Klischees zementiert.

„Ohne diesen Austausch hätte ich nicht gewusst, dass diese Menschen genauso sind wie wir. Jetzt kann ich sagen, dass es nicht überall in Afrika Armut gibt.“ (Aussage einer Schülerin nach einer Reise zu einer Partnerschule in Afrika)

Seit den 1970er Jahren machen sich Generationen von Schülerinnen und Schülern aus Deutschland auf dem Weg in die Welt. Seither gibt es Schulpartnerschaften mit lateinamerikanischen, afrikanischen oder asiatischen Schulen. Und die Erwartungen an diese Partnerschaften sind hoch. Sie gelten als ideales Mittel, um das gegenseitige Verständnis zu fördern und einen Dialog zu beginnen. Der Senat in Bremen hat das 2009 in einer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Grünen so formuliert: „Schulpartnerschaften mit sogenannten Entwicklungsländern sind hervorragend geeignet, die Lebenswirklichkeit anderer Länder und Kulturen kennenzulernen und im Unterricht vertiefend zu bearbeiten.“ So ähnlich liest sich das auch in den Grundsatzbeschlüssen der Kultusministerkonferenzen 1997 und 2007, als sie jeweils Rahmenbeschlüsse fassten, damit in den Schulen das „globale Lernen“ zum Alltag werden sollte. Seit 2005 werden Schulpartnerschaften und Reisen zu den jeweiligen Partnerschulen mit dem Entwicklungspolitisches Schulaustauschprogramm (Ensa) gefördert. 2013 hat das Entwicklungsministerium dafür 1,45 Millionen Euro ausgegeben.

Jeden Tag etwas dazu gelernt

„Er hat mich sowie meine Mutter öfters angelogen. Er hat mich die ganze Zeit angelogen. Er hatte wenig Benehmen. Ich wünsche mir nicht, dass jemand noch mal für länger als drei Wochen bei mir wohnt.“ (Äußerung einer Schülerin nach dem Rückbesuch eines Austauschschülers aus einem Entwicklungsland)

In der Praxis ist das allerdings gar nicht so einfach mit dem „globalen Lernen“, und vor allem dem Ziel, „die Lebenswirklichkeit anderer Länder und Kulturen kennenzulernen“. Birgit Mitawi, die seit mehr als 20 Jahren Reisen Jugendlicher aus Brandenburg auf die tansanische Insel Sansibar organisiert, hat im Verlauf ihrer Arbeit auch Schulpartnerschaften begleitet, und vor allem Seminare zur Vor- oder Nachbereitung der Austauschprogramme angeboten. „Als ich 1992 die erste Begegnung vorbereitet habe: Was wusste ich da“, fragte sie bei einem Fachgespräch des Vereins Nord-Süd-Brücken in Berlin mit dem Titel „Reisen bildet Vorurteile?“ Ihre Antwort: „Wenig.“ Seither habe sie aber „jeden Tag etwas gelernt“. Eine Erfahrung, die auch Gisela Führing bestätigt. Die mittlerweile 70-jährige Führing hat jahrelang bundesweit das Entstehen von Nord-Süd-Partnerschaften koordiniert und gefördert, zunächst für den Deutschen Entwicklungsdienst (DED), der inzwischen zur Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) gehört, später für den Evangelischen Entwicklungsdienst (EED), der inzwischen Teil der evangelischen Hilfsorganisation Brot für die Welt ist. Sie kann eine Menge darüber erzählen, wie schwer es ist, in einen richtigen Dialog zu treten, tatsächlich einen Austausch zwischen den deutschen Schülern und Schülern aus afrikanischen Ländern zustande zu bringen.

Stolperstein Entwicklungshilfe

„Ich möchte gern ein Freies Soziales Jahr machen, wo ich bedürftigen Menschen helfen kann, aber welches sich auch gut in meinem Lebenslauf machen würde.“ (Aussage eines Schülers nach einer Reise zur Partnerschule im Süden)

Das größte Problem für den Schüleraustausch zwischen dem Norden und dem Süden ist nach Führings Erfahrung das Offensichtliche: die materiellen Unterschiede sind so groß, dass es kaum eine Schulpartnerschaft gibt, die nicht irgendwann – meistens sogar ganz am Anfang – zum Entwicklungsprojekt wird. In nahezu jeder Partnerschaft, die Führing begleitet hat, kam irgendwann die Frage auf: Sollen wir die nötigen Reisekosten nicht lieber für den Bau eines neuen Brunnens investieren? Dabei sind die Erwartungen beider Seiten zwar verschieden, aber auch ähnlich. Die Schulen im Süden erwarten für den Aufwand, den sie betreiben müssen, um eine Schülergruppe samt erwachsenen Begleitpersonen aus Deutschland unterzubringen, zu verköstigen und bei Laune zu halten, eine Gegenleistung. Und zwar möglichst materieller Art. Wenn das Schulhaus ausgebaut wird, eine Solaranlage aufgebaut wird, eine Schulküche ausgestattet oder ein Internetanschluss spendiert wird, dann hat sich die Schulpartnerschaft gelohnt. Die deutschen Schüler und Lehrer sind so betroffen davon, wie unterschiedlich der Lebensstandard ist, dass sie dringend helfen wollen. Also verkommt die Schulpartnerschaft in Deutschland zu einer ständigen Spendensammlung: Sponsorenläufe, Basare und Kuchenverkäufe für die „armen Kinder in Afrika“. Auf beiden Seiten verfestigen sich die Klischees über die jeweils anderen. Das gilt im Großen wie im Kleinen.

Gisela Führing lacht, als sie sich an den Versuch einer Schule erinnert, Gastgeschenke loszuwerden. Die Schule hatte in einem riesigen Korb Dinge gesammelt, die den Gastgebern überreicht werden sollten: vom Fußball über Hautöl war alles dabei. Da saßen sie dann mit ihrem Warenlager und wussten nicht, wie sie die Dinge verteilen sollten. „Am Ende kamen jeden Tag Besucher aus der Schule in die Unterkunft der deutschen Gäste und blieben und blieben, weil sie erwarten konnten, zum Abschied irgendetwas geschenkt zu bekommen.“ Gisela Führing schüttelt sich. Sie sitzt in einem Café in Berlin und erinnert sich: „Das war so entwürdigend.“

"So ist halt Afrika!"

Ausnahmezustand in einer Schule in Nairobi. Das ist nicht nur so, wenn die Chefin des Internationalen Währungsfonds, Christine Lagarde, zu Besuch ist. Das gilt auch, wenn die deutschen Projektpartner sich ankündigen.
Ausnahmezustand in einer Schule in Nairobi. Das ist nicht nur so, wenn die Chefin des Internationalen Währungsfonds, Christine Lagarde, zu Besuch ist. Das gilt auch, wenn die deutschen Projektpartner sich ankündigen.

© Reuters

Stolperstein Machtstrukturen

„Besonders gut fand ich, dass sich unsere Partner sofort auf unsere Anweisungen eingelassen haben. Sie wollten unser Wissen über Arbeitstechniken teilen, um so selbst etwas dazuzulernen.“ (Aussage eines Berufsschülers nach seiner Rückkehr vom Partnerbesuch)

Nach der Erfahrung von Gisela Führing sind die Machtstrukturen nicht nur im Umgang zwischen den Deutschen und ihren Partnern ein Problem. So eine Schulpartnerschaft kann auch die Machtstrukturen der Schulen im Zielland zementieren. Als Beispiel nennt Führing eine Partnerschule in Afrika. Der Deutschlehrer durfte entscheiden, wer mitfahren durfte. Dieses Privileg ließ er sich durch Dienstleistungen „zum Teil auch sexuelle“ bezahlen. Häufig hat sie aber auch beobachtet, dass Lehrer aus einer afrikanischen Partnerschule kurz nach ihrem Deutschlandaufenthalt versetzt werden oder „von der Schule geflogen sind“. Oft kämen die Lehrer mit ganz neuen Vorstellungen und Lehrmethoden zurück, stellten die Hierarchien infrage und würden so schnell zum Fremdkörper in ihrer eigenen Schule. Führing hat beobachtet, dass selbst die Lehrer, die sich ihre vermeintliche Überlegenheit und ihren eigenen Rassismus bewusst gemacht hätten, in ihrem Verhalten dennoch in die Falle laufen können. Sie beschreibt ein Beispiel aus Bremen. Da wollte ein sehr engagierter Lehrer im afrikanischen Partnerland ein Medienprojekt initiieren. Jeder deutsche Schüler sollte mit einem Schüler der Partnerschule einen kleinen Videofilm drehen. Der Lehrer verlangte aber, dass die kenianischen Partnerschüler in der Zeit des Besuchs der deutschen Schüler vom Unterricht freigestellt werden sollten. Er war ganz erschrocken, als ihn Führing nach der Rückkehr darauf aufmerksam machte, dass er „mit seiner deutschen Machtposition seine Interessen durchgesetzt hatte“.

Besuche können Vorurteile und Klischees verstärken

„Der Umgang mit den Menschen untereinander ist ganz anders. Alle sind sehr nett und die ganze Zeit fröhlich.“ (Aussage eines Schülers nach der Rückkehr vom Partnerbesuch)

Luise Steinwachs hat jahrelang Berliner Kinder zu Partnerschulen in Windhuk begleitet. Seit 2000 hat Berlin eine Städtepartnerschaft mit der namibischen Hauptstadt. Teil der Partnerschaft sind auch Schulpartnerschaften. Nach Informationen des Entwicklungspolitischen Bildungs- und Informationszentrums (Epiz), dem früheren Arbeitgeber von Steinwachs, sind es aktuell zehn Berliner Schulen, die einen Austausch mit namibischen Schulen pflegen. Steinwachs hat Seminare zur Vor- und Nachbereitung der Partnerbesuche abgehalten und entwickelt. Sie ist mehrfach mit Gruppen mitgefahren. Aber nach und nach bekam sie Zweifel daran, ob es überhaupt sinnvoll ist, Jugendliche nach Afrika zu schicken, um die Lebensverhältnisse dort kennenzulernen.

In einer Studie für den Verein Berlin-Postkolonial hat sie die in diesem Text zitierten Aussagen von Jugendlichen zusammengetragen. Sie befragte Jugendliche im ganzen Bundesgebiet, nachdem sie von ihren Partnerschaftsbesuchen zurückkamen. Die Haupterkenntnis der Studie: „Persönliche Begegnungen im Rahmen von Schulpartnerschaften können Vorurteile und Klischees verstärken.“ Die Jugendlichen, die im Alter zwischen 14 und 20 Jahren an solchen Austauschprogrammen teilnehmen, stecken mitten im Prozess ihrer eigenen Identitätsbildung. Steinwachs beschreibt das, was beim Partnerbesuch passiert, so: Zunächst bemühten sich die Jugendlichen, möglichst viele Ähnlichkeiten zwischen sich und ihren Austauschpartnern zu finden. Viele Jugendliche wunderten sich darüber, wie ähnlich Interessen und Wünsche waren. Gleichzeitig suchten sie aber auch nach den Unterschieden. Wer so weit reise, stehe schließlich auch unter dem Druck, „etwas zu erzählen haben zu müssen“, wie sie sagt. Die aufkommende Irritation versuchten die Jugendlichen entweder gleich zu übergehen, oder mit dem starken Drang zu helfen, aufzulösen.

Sigrun Landes-Brenner, bei Brot für die Welt für die Inlandsprogramme zuständig, sagt deshalb auch: „Wir diskutieren immer wieder über das Alter.“ Brot für die Welt schickt keine Jugendlichen in ein Entwicklungsland, die nicht mindestens 16 Jahre alt sind. Und Landes-Brenner sagt außerdem: „Reisen sollten nicht am Anfang einer Partnerschaft stehen.“ Für eine gelingende Partnerschaft, darin sind sich die Fachleute aber alle einig, sollten gemeinsame Unterrichtsinhalte entwickelt werden. Am erfolgreichsten sind nach Landes-Brenners Erfahrungen Schulpartnerschaften dann, wenn die deutsche Schule die Partnerschaft „ins eigene Schulprofil aufgenommen hat“. Das heißt dann, in Geografie, Geschichte oder dem naturwissenschaftlichen Unterricht wird das Partnerland immer wieder als Beispiel herangezogen. Hanna Kalhorn von Ensa legt großen Wert darauf, dass die deutsche und die Partnerschule ihre Programme gemeinsam erarbeitet haben.

Ein bisschen Exotik

„Die Verbrecherzahl ist dort extrem hoch. Auf jeder Mauer gibt es irgendwie Glassplitter, Stachelzaun oder Hunde und sogar Schlangen, die das Grundstück vor Fremden schützen.“ - „Sie laufen recht langsam und nehmen es auch ansonsten mit verabredeten Terminen und Uhrzeiten nicht sonderlich genau.“„So ist halt Afrika!“ (Äußerungen von Schülern nach ihrer Rückkehr vom Partnerbesuch)

Luise Steinwachs sieht für die Schüler zwei große Probleme: die Erwartungen der Daheimgebliebenen und die Ensa- Richtlinien. Die Förderung des Schüleraustauschs hat nämlich das Ziel, aus den jungen Leuten „Multiplikatoren“ für entwicklungspolitische Themen und Keimzellen für „globales Engagement“ zu machen. Das setze die Schüler unter enormen Druck, mit „abenteuerlichen und exotischen Geschichten zurückzukommen“. Als Beispiel nennt sie eine Schülerin, die ihre Präsentation mit dem Foto eines Käfers beginnt, den sie mit einer Handbewegung als besonders groß darstellte. Das sei die erste Begegnung in Afrika gewesen, nachdem die Jugendlichen das Flugzeug verlassen hatten. Die Schüler reagierten auf diese Anforderungen mit Abwertung, ihre Überlegenheitsgefühle würden gestärkt, und nach einem Besuch von drei Wochen „fühlen sich viele kompetent, die gesamte Entwicklungspolitik neu zu erfinden“, stellt Steinwachs fest. „Wenn dies die Hauptergebnisse von persönlichen Begegnungen im Schüleraustausch sind, ist deren Sinnhaftigkeit ernsthaft zu hinterfragen“, sagt Steinwachs. Sie findet, dass der Lernprozess, der im besten Fall dann doch irgendwann einsetze, schwer zu steuern sei. Außerdem: „Auf wessen Kosten erlauben wir uns, so privilegiert zu lernen?“

Gisela Führing hatte selbst lange Zweifel, ob sie Austauschprogramme initiieren sollte. „Aber meine ersten Erfahrungen habe ich in einem Workcamp in Tansania gemacht“, berichtet sie. Später hat sie in Tansania unterrichtet. Wie schwer es ist, zu erkennen, dass man sich falsch, rüde oder unhöflich verhalten hat, hat sie selbst erst nach Jahren gelernt. Für Jugendliche ist das noch viel schwerer, sagt sie und berichtet von einem Jungen, der gerade Vegetarier geworden war auf einer Niger-Reise. In jedem Dorf seien Hühner für die Gäste geschlachtet worden, „doch der Junge saß da mit seinem Bunsenbrenner und kochte Nudeln“. Das würde man auch einem deutschen Gastgeber nicht zumuten. Trotzdem sagt Führing: „Interkulturelles Lernen ist ein Prozess. Und irgendwo muss er anfangen.“

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