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Boris Johnson

© Henry Nicholls/REUTERS

Entscheidende Woche der Brexit-Verhandlungen: Der Entfesselungskünstler Johnson bewegt sich

Der britische Premier macht endlich Zugeständnisse, aber sie reichen noch nicht. Nun wird eine erneute Brexit-Verlängerung wahrscheinlich. Eine Kolumne.

Eine Kolumne von Christoph von Marschall

Was nun, Boris Johnson? Der britische Premier steht vor einer kaum lösbaren Aufgabe. Er hat seiner Partei Versprechen gegeben, die er nicht einlösen kann. Er hat einen Machtkampf mit dem Parlament gesucht, den er nicht gewinnen kann. Und er hat der EU mit No Deal gedroht, ohne glaubwürdiges Drohpotenzial zu haben.

Noch dreieinhalb Wochen? Nein. Die Entscheidung fällt jetzt

Nun beginnt die Woche der Wahrheit. Bis zum 31. Oktober, an dem Großbritannien die EU verlassen will, bleiben zwar noch 24 Tage – eine kleine Ewigkeit in der Politik, zumal für Entfesselungskünstler wie BoJo. Aber noch gibt es kein Austrittsabkommen, das sowohl von der EU samt ihrem in dieser Frage entscheidenden Mitglied Irland als auch von einer Mehrheit des britischen Parlaments akzeptiert wird. Die Lösung muss in dieser Woche gefunden werden, damit sie in den EU-Hauptstädten vor dem EU-Gipfel am 17./18. Oktober geprüft und dort beschlossen werden kann. Und anschließend im Londoner Parlament gebilligt werden kann.

Die sonst üblichen Tricks in der EU – Warten auf die allerletzte Minute und Uhr anhalten, bis alle weich werden – verfangen hier nicht, da das Beschlossene ja auch noch in der Praxis vorbereitet werden muss, um vom 1. November an zu funktionieren. Die "allerletzte Minute" beginnt nicht am 31. Oktober um Mitternacht. Sie schlägt in dieser Woche.

In der entscheidenden Streitfrage – wo verläuft die Zollgrenze zwischen dem EU-Binnenmarkt und dem ausgetretenen Großbritannien? – hat Johnson begonnen sich zu bewegen. Doch er wird sich noch viel weiter bewegen müssen, wenn er ein überarbeitetes Abkommen erreichen will, das ohne den in London verhassten "Backstop" auskommt. Die EU sollte ihn nicht auflaufen lassen, sondern flexibel reagieren. Aber sie darf natürlich keine Zugeständnisse machen, die das Funktionieren des EU-Binnenmarkts beeinträchtigen.

Lavieren zwischen Rechtsfragen und politischen Mehrheiten

Johnson fällt es schwer, weiter auf die EU zuzugehen. Jeder Schritt ist ein Beweis mehr, dass die Brexit-Befürworter, darunter Johnson, die Bürger vor dem Referendum belogen haben und seither weiter beschwindeln, damit die Widersprüche zwischen Wunsch und Realität nicht allzu offensichtlich werden.

Sein zweites Problem liegt im Widerspruch zwischen den rechtlichen Verpflichtungen auf der irischen Insel und dem politisch Möglichen im Londoner Parlament. Richtet man sich nach den Staatsgrenzen, müsste die neue Handelsgrenze auf der irischen Insel verlaufen, zwischen dem EU-Mitglied Irland und der zu Großbritannien zählenden Provinz Nordirland. Eine harte Grenze quer durch die irische Insel verbietet jedoch das irische Friedensabkommen.

Die Alternative wäre, dass die Zoll- und Handelsgrenze in der irischen See zwischen Nordirland und dem übrigen Großbritannien verläuft. Nordirland bliebe dann handelstechnisch und mit Rücksicht auf landwirtschaftliche Tiere, Agrargüter und Lebensmittelhygiene Teil des EU-Binnenmarkts. Einen solchen Verzicht auf Souveränität in einem Teil des britischen Staatsgebiets nennt Johnson unannehmbar; viele Parlamentarier sehen das ebenso.

Verzicht auf Nordirland als Preis für den Brexit?

Außerdem macht die Democratic Unionist Party (DUP), die derzeit stärkste Partei in Nordirland, da nicht mit. Sie vertritt die Protestanten, sähe darin eine Lockerung der Zugehörigkeit zu Großbritannien und einen gefährlichen Schritt zur Wiedervereinigung mit dem katholischen EU-Mitglied Irland.

Ohne die Abgeordneten der DUP haben Johnson und die britischen Konservativen keine Aussicht auf Mehrheit im Londoner Parlament, weder für die Regierung noch für den neuen Austrittsvertrag. Andererseits macht dieser Konflikt klar: Der Verzicht auf Kontrolle über Nordirland gehört vermutlich zu den Kosten eines ehrlichen Austritts aus der EU. Das mag den Unionisten in Nordirland nicht gefallen. Viele Engländer hingegen sehen in Nordirland schon lange eher eine Belastung als einen Gewinn.

In dieser eigentlich ausweglosen Lage schlägt Entfesselungskünstler Johnson nun zwei verschiedene Grenzen vor, je nachdem, um welche Waren es sich handelt. Für Kühe, Rinder, Agrargüter und Ähnliches soll ganz Irland ein Rechtsraum sein. Denn ohne eine physische Grenze können sich Tiere frei auf der Insel bewegen; die physische Grenze verbietet aber das Friedensabkommen. Für den Agrarbereich und Lebensmittel läge die künftige EU-Außengrenze also in der irischen See.

Zweierlei Zollgrenzen zwischen der EU und Großbritannien

Für andere Güter hingegen läge sie auf der Insel, an der Grenze zwischen Irland und Nordirland. Für deren Kontrolle brauche man keine physische Grenze, sagt die Regierung Johnson. Die Überwachung und die Erledigung der Zollformalitäten könne man durch eine intelligente Bürokratie und ein "Trusted Trader"-System sicherstellen.

Etwas Schmuggel werde es gewiss geben; aber den gebe es schon heute an der irischen Grenze, zum Beispiel wegen unterschiedlicher Preise, etwa bei Benzin, und unterschiedlicher Vorschriften für manche Güter. Die Größenordnung sei tolerierbar. Und sie werde auch nicht sonderlich wachsen, behauptet die Regierung Johnson auf den Einwand, dass der Anreiz zum Betrug durch die zweigeteilte Zollgrenze und das Fehlen physischer Barrieren an der künftigen EU-Außengrenze doch wohl erwartbar steigen werde.

In Wahrheit schlägt Johnson eine Lösung vor, die ihm innenpolitisch machbar erscheint, vor allem mit Blick auf Nordirland, ohne sich um die Praktikabilität im künftigen Alltag zu scheren. Johnson beruft sich bei der Rechtfertigung, warum die Grenze für Rinder in der irischen See verlaufen dürfe, für Industriegüter und Souveränitätsfragen hingegen quer durch Irland, auf ein Zitat des nordirischen Protestantenführers Ian Paisley über Nordirland: "Die Menschen sind britisch, das Vieh ist irisch." Zudem ist der Vorschlag der doppelten Grenze so kompliziert, dass nur wenige Lust verspüren, sich mit den Details zu beschäftigen. Und so verschwimmt einmal mehr, dass Johnson und die Tories diese unmögliche Situation verschuldet haben.

Die EU reagiert skeptisch - zu Recht

Die EU-Kommission und einzelne Regierungen der EU-Staaten reagieren skeptisch auf Johnsons neue Vorschläge. Einerseits wegen Zweifeln, ob sie im Alltag funktionieren. Andererseits, weil Johnson zusätzlich vorschlägt, Nordirland müsse das Recht haben, die Einigung auf eine solche doppelte Zollgrenze in regelmäßigen Abständen zu überprüfen - samt dem Recht, die Absprache einseitig zu beenden.

So will Johnson den so genannten "Backstop" aus dem bisher vorliegenden Austrittsabkommen loswerden, das seine Vorgängerin Theresa May ausgehandelt hatte. Das britische Parlament hat dieses Abkommen mehrfach abgelehnt. Der "Backstop" legt fest, dass Großbritannien erst aus dem Binnenmarkt ausscheidet, wenn eine allseits akzeptierte Lösung für die künftige Zollgrenze in Einklang mit dem irischen Friedensabkommen gefunden ist. Erst danach kann Großbritannien eigene Handelsverträge mit anderen Staaten schließen. Eine einseitige Kündigung, in diesem Fall durch Nordirland, kann die EU nicht zulassen. Das muss Johnson klar sein.

Es ist eher unwahrscheinlich, dass BoJo in den wenigen Tagen dieser Woche einen akzeptablen Vorschlag präsentieren kann. Und zu der großen Kehrtwende, die aus dem kaum lösbaren Problem eine historische Chance generiert – die Chance zum Einstieg in die Wiedervereinigung Irlands, wozu ein Verzicht Londons auf die Kontrolle über Nordirland gehört – ist Johnson und sind seine Konservativen nicht auf die Schnelle bereit. Das braucht Zeit.

Viele Wege führen in die Verlängerung

So spricht vieles für eine erneute Verlängerung der Brexit-Frist. Einen No-Deal-Austritt mit all seinen Risiken und Kosten strebt kein Vernünftiger an. Das britische Parlament hat ihn verboten. Johnson hat zwar gesagt, er wolle eher sterben, als die EU um Verlängerung zu bitten. Auch jetzt hat er die Verlängerung im Telefonat mit Emmanuel Macron erneut ausgeschlossen. Aber er hat schon vieles gesagt, was er zurücknehmen musste.

Irgendein Weg findet sich am Ende. Vielleicht muss Johnson kurz ins Krankenhaus, und ein Vertreter unterschreibt in der Zeit den Antrag, den Johnson selbst nicht stellen will. Zunächst jedoch bleibt dem Entfesselungskünstler noch eine Woche, um einen Ausweg zu suchen, der ihn vor den Folgen des eigenen Redens und Handelns schützt. Oder der zumindest den Blick der britischen Wähler für seinen Anteil an der Schuld vernebelt.

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