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Empörung weltweit: Was ist heute noch links?

Linkssein hat Konjunktur in diesem Herbst. Rund um die Welt gehen Menschen auf die Straße. Sie fordern Klassenkampf und Verstaatlichung der Banken. Doch ist diese Empörung "links"?

Ob der Trend nun ein Genosse oder das Lagerdenken gerade vollkommen out ist, der linke Mythos verblasst gelegentlich, aber untergehen wird er nicht. Linkssein hat Konjunktur. Kein Wunder. Denn die Verhältnisse, die sind wieder so. Klassische Werte wie Gerechtigkeit, Gleichheit, Aufstieg, Solidarität sind unter die Räder geraten. Und obwohl sie in den europäischen Sozialstaaten längst Allgemeingut über alle politischen Strömungen hinweg waren, sieht man ihnen in Zeiten von Niedriglöhnen und Banker-Boni wieder an, woher sie ursprünglich kommen: von links.

Junge Leute lesen wieder dicke Traktate, wie Josef Vogels „Das Gespenst des Kapitals“, dessen Titel auf das Kommunistische Manifest anspielt und ähnlich schwer verständlich ist. Oder kurze Pamphlete wie Stephane Hessels „Empört Euch“. Es liegt was in der Luft in den Demokratien, ein neuer Aufbruch, gegen den Finanzmarktkapitalismus, gegen Parteien und politische Führungen, die ihn nicht in seine Schranken weisen können oder wollen.

Wer in Spanien, Israel, Chile oder Großbritannien auf die Straße geht, ist vor allem: jung. „Occupy Wall Street“ sendet Signale an Politik und Banker um die ganze Welt. Die Parolen, die auf den neuen Wegen des Internet verbreitet werden, klingen ganz alt. Klassenkampf, Banken verstaatlichen. Der Blog „Wir sind die 99 Prozent“ bringt die demokratische Empörung auf den Punkt. Wie kann eine abgeschottete Minderheit, die sich die Taschen vollstopft, ganze Staaten vor sich hertreiben? Warum haben die Politiker nach der Lehman-Pleite 2008 nicht durchgegriffen auf Leerverkäufe, Hedgefonds, Schattenbanken? Quer durch alle Milieus trifft man in diesem Herbst auf Menschen, die einfach die Nase voll haben von „den Märkten“, deren Befindlichkeiten uns täglich gemeldet werden, als handle es sich um empfindliche Wesen, deren Gefühle Politiker nicht verletzen dürfen.

Ist diese Empörung „links“? Auch in der Anhängerschaft und bei den geistigen Ratgebern konservativer, liberaler, christlicher Politik macht sich schweres Unbehagen breit. Hat der Neoliberalismus, der die linken Umverteilungsparteien überall in die Defensive gebracht hat, nicht auch die konservativ-liberalen Werte verbraucht? Margaret Thatcher, die Pionierin der Marktentfesselung, hat sich für manchen Konservativen als kalte Revolutionärin entpuppt.

Beteiligt an der Welle von Deregulierung und Privatisierung zulasten des öffentlichen Sektors waren auch die Parteien der europäischen Linken. New Labour in England, Rot-Grün in Deutschland. Die sozialdemokratischen Parteien gehören in den Augen ihrer traditionellen Anhänger, der kleinen Leute, „zu denen“, den oberen Kasten und Cliquen, die uns die fatale Entwicklung eingebrockt haben.

Wer und was links ist, kann man heute nicht definieren über Parteizugehörigkeit, eher schon über Wertbegriffe (Gerechtigkeit, Gleichheit), oder Lebenseinstellungen (Unverbesserlicher). Wer links ist, sagt heute wieder Kapitalismus und findet es nicht peinlich, von den Reichen hohe Steuern zu fordern.

Links muss man sich nicht nennen, um es zu sein oder dafür gehalten zu werden. Mehrfach hat die Geschichte überwunden, was einmal die politische Linke definiert hat. Die soziale Frage des 19. Jahrhunderts, den Sozialismus, das Aufbegehren der kritischen Jugend in den 60er und 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Die Motive und Träume dieser Generation hatten nur noch wenig Ähnlichkeit mit den Vorstellungen der Arbeiterbewegung, die sich von kaiserlichen Obrigkeiten emanzipieren wollte. Aber als links galt und verstand sich das eine wie das andere. Über zwei Jahrhunderte hat sich der Begriff immer wieder neu aufladen lassen, durch neue Ungerechtigkeiten, neue Unterdrückung, neue Sehnsüchte. Linkssein ist ein Lebensgefühl, das sich verändern kann wie jeder Mensch, der seine Auffassungen wechselt und doch er selbst bleibt.

„Wer mit 20 kein Sozialist ist, hat kein Herz“, hat William S. Schlamm, ein berühmter Renegat des 20. Jahrhunderts gesagt, „und wer es mit 40 immer noch ist, hat keinen Verstand.“ Sozialdemokraten beschreiben ihren Aufstieg oft selbst ironisch mit dem Bild: „Na ja, typisch, links unten angefangen, rechts oben rausgekommen.“

Linke neigen zu Rechthaberei. Lesen Sie auf Seite 2, warum Alleinvertretungsansprüche abstoßen.

Das Herz schlägt links. Wer jung ist, darf träumen, auch vom Unmöglichen. Wer links ist, bleibt jung. Denn, ja, die Welt ist veränderbar, der Mensch gut, Utopien schön, Kompromisse faul. Aber wer die Welt verändern will, der kann sie kaum vermeiden. Wo immer Linke sich neu aufstellen, tauchen in ihren Reihen hartnäckige Kritiker auf. Revisionisten, Reformlinke, Realos, die behaupten, dass der Handelnde sich immer schuldig macht und schlagend nachweisen, dass edle Gesinnungsethiker meist weniger erreichen als handfeste Verantwortungsethiker.

Irgendwie typisch links, wenn eine Partei sich die „Linke“ nennt, und damit sprachlich reklamiert, die einzig wahre Linkspartei zu sein. Linke neigen zu Rechthaberei. Aber Alleinvertretungsansprüche stoßen ab, nicht nur, weil sie eine Quelle der Irrtümer und Verbrechen waren, die zur Geschichte der Linken gehören. Der Kapitalismuskritiker von heute träumt selten vom Sozialismus. Eher von echter Marktwirtschaft statt eines Sozialismus für Banken, die für ihre Risikowirtschaft andere, die Steuerzahler, haften lassen können. Die linken Tugenden und Anmaßungen produzieren unweigerlich einen Pluralismus, ein ganzes Panorama von Typologien und politisch-kulturellen Stilrichtungen. Da ist der Gutmensch, der zornige alte Mann, der Salonbolschewik, der ewige Radikalinski, der Theoriehuber, der linke Schwätzer – und alle in den männlichen und weiblichen, alten und jugendlichen Varianten. Es gibt die hedonistische Linke, es gab die antiautoritäre, die liberale. Wie die Frauenfrage ist die Ökologie in kein Lager einzuordnen. Aber als diese Bewegungen entstanden, galten ihre Vorkämpfer überwiegend als linke Spinner(innen).

Das Herz ist links. Aber es ist auch zerrissen zwischen dem Realitätsprinzip und der Angst vor dem Verrat am jugendlichen Aufbruch. Wenn es eine typisch linke Lebenslüge gibt, dann ist das die Überzeugung, zu den besseren Menschen zu gehören. Sie hilft, die Spannungen zwischen den Mühen der Ebene und den Träumen auszuhalten.

Lebenslügen werden auch im anderen politischen Lager gepflegt. Selbstgewiss sehen sich die bürgerlichen Parteien zum Regieren des Landes berufen. Dass in Deutschland seit „68“ die Mehrheiten gefühlt links sind, selbst wenn Schwarz-Gelb schon Jahre regiert, ist ein Produkt dieser angemaßten Überlegenheit. Sie erzeugt immer wieder das ursprüngliche Linksgefühl, das des Nicht-Dazugehörens. Kein Zufall: Als links galten in vordemokratischen Zeiten ja zunächst die, die an der alten Herrschaft nicht beteiligt waren.

Auch die Piraten, der jüngste Stern am Parteienhimmel, zeigen jenen Widerspruchsgeist gegen die Etablierten, der sie ins linke Spektrum einsortiert. Dabei sagt ihr Vorsitzender Sebastian Nerz doch, die Piraten seien weder rechts noch links, sondern seltsam. Weder-noch, sondern vorn wollten seinerzeit auch die neu gegründeten Grünen sein. Als sie in den 80er Jahren in die Parlamente einzogen, bestanden sie darauf, in der Mitte zwischen Union und SPD, nicht etwa links von dieser, Platz zu nehmen. Aber trotz aller schwarz-grünen Gedankenspiele wird das grüne Führungspersonal immer wieder darauf gestoßen, dass ihre Wählerschaft sich links zuordnen will.

Kompromittiert haben sich im Lauf der Geschichte beide Begriffe, rechts und links. Linke setzen „rechts“ oft als Kampfbegriff ein. Nach der Hitler-Diktatur enthält der Begriff einen Stachel, den die Zuordnung „links“ trotz der sozialistischen Diktatur nicht hat. Das liegt an der unbezweifelbaren demokratischen Kontinuität auf der Linken, die mit ihrer Gegnerschaft gegen beide Diktaturen die SPD verkörpert.

Die geht ausgesprochen heikel damit um, wie links sie denn sein und sich nennen will. Das Parteiprogramm von 2008 definiert die SPD nach langjähriger Suche der alten und der neuen Mitte wieder als „linke Volkspartei“. Links hat eben Konjunktur.

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