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Tränen als Symbol. Eine Aktivistin von Extinction Rebellion protestiert gegen die spanische Regierung, Madrid 2019.

© dpa/Brais G. Rouco

Emotionen in der Politik: Vorsicht vor dem Mitgefühl!

Ob Hunger, Flüchtlinge oder das Klima: Oft beherrschen starke Gefühle die Politik. Doch es gibt Grenzen der Empathie, Mitleid hat Schattenseiten.

Woran liegt das? Je näher man dem Bösen kommt, desto unsichtbarer wird es. Jeder weiß, dass es Verbrecher gibt, aber kaum einer kennt einen brutalen, aggressiven, schlechten Menschen. Nähe verblendet. Nähe kann auch korrumpieren. Beim Stockholm-Syndrom etwa entwickelt die Geisel ein positives Verhältnis zum Geiselnehmer.

In ihrem Buch „Beim nächsten Date wird alles anders“ („Women Who Love Psychopaths“) analysiert die amerikanische Psychologin Sandra L. Brown die Struktur pathologischer Beziehungen.

Offenbar hält ein Übermaß an Empathie, die sogenannte Hyperempathie, einige Frauen davon ab, in ihrem Partner den Gewalttäter, Narzissten, Süchtigen oder gar Mörder zu sehen. Weil sie sich ihrem Partner nahe fühlen, rechtfertigen sie dessen Verhalten.

Hyperempathisch veranlagte Menschen sind wie eine hochsensible Antenne, die jedes Gefühl aufnimmt und widerspiegelt. Die Gefühle anderer sind ihre Gefühle.

Das Fremde wird zum Eigenen, aus zwei Menschen einer. An dem Leid, das andere erfahren, fühlen sich diese Menschen mitschuldig. Sie fangen zu weinen an, wenn sie jemanden sehen, der traurig ist. Und sie fühlen mit, wenn jemand aufsteht und laut Nein sagt, zur Umkehr aufruft, Einsicht anmahnt.

Wie beispielsweise Greta Thunberg, das damals noch 15-jährige schwedische Schulkind, das nach dem heißesten Sommer, den Teile Schweden je erlebt hatten, sich am 20. August 2018 wütend mit einem Schild auf den Steinboden vor dem Reichstag in Stockholm setzte, worauf stand: „Skolstrejk for Klimatet“ – „Schulstreik für das Klima“. Aus Thunbergs Respekt einflößender Beharrlichkeit wurde eine globale Bewegung, für das Gelingen ihrer Segelfahrt über den Atlantik wurde in Kirchen gebetet.

Empathie und Identifikation. Teilnehmer der globalen Klimademo am 20. September 2019 in Melbourne.
Empathie und Identifikation. Teilnehmer der globalen Klimademo am 20. September 2019 in Melbourne.

© James Ross/dpa

Der römische Philosoph Seneca stand solch tief empfundenem Mitleid skeptisch gegenüber. In seinem Essay „Über die Milde“ schreibt er: „Der Weise fühlt kein Mitleid, weil dies ohne Leiden der Seele nicht geschehen kann. Alles andere, das meiner Ansicht nach die Mitleidigen tun sollten, wird er gern und hochgemut tun: zu Hilfe kommen wird er fremden Tränen, aber sich ihnen nicht anschließen.“ Bei Immanuel Kant liest sich das ähnlich. Nicht Gefühle sollten Grundlage der Moral sein, sondern die Vernunft.

Nun ist Empathie an sich nichts Negatives. Aus Einfühlung, dem Wir-Gefühl, der emotionalen Anteilnahme, kann moralisch wertvolles Handeln entstehen. Christen orientieren sich am Gleichnis des barmherzigen Samariters. „Verletze niemanden und hilf allen, so viel du kannst“: Das ist auch der Kern der Mitleidsethik des Philosophen Arthur Schopenhauer.

Bilder des weltweiten Elends hämmern sich in die Seelen

Aber was heißt das in der Praxis? Kein Leiden, ob fern oder nah, geht den Menschen heute gar nichts mehr an. Er erfährt davon, weil die Welt unvermittelter, unmittelbarer geworden ist. Mit wachsender Wucht drängt sich das globale Dorf in die Alltags-Wahrnehmungen.

Per Handy, Internet und Satellitenfernsehen hämmern sich die Bilder in die Seelen. Vor der allgegenwärtigen Unfall-, Katastrophen- und Verbrechenspräsenz gibt es kein Entrinnen.

Da waren die Bilder der Hungernden in Somalia. Sie wurden Anfang der neunziger Jahre von CNN in alle Wohnzimmer übertragen, Abend für Abend. Fliegen umschwirrten ausdruckslose Kinderköpfe. Das führte zur ersten humanitären Intervention der Vereinten Nationen.

Bilder von hungernden Kindern in Somalia zirkulierten während der Dürrekatastrophe 2017 in allen Medien.
Bilder von hungernden Kindern in Somalia zirkulierten während der Dürrekatastrophe 2017 in allen Medien.

© Joe Giddens/dpa

Die Operation „Restore Hope“ begann. Aus Mitleid war Eingreifen geworden. Ein knappes Jahr später, in der „Schlacht von Mogadischu“, töteten somalische Milizen 18 US-Soldaten und schleiften deren Körper durch die Straßen der Stadt. Das war das Ende von „Restore Hope“.

Das Bild von Aylan Kurdi stärkte die Willkommenskultur

Im September 2015 ertrank der dreijährige Aylan Kurdi im Mittelmeer. Seine Familie und er waren vor dem Bürgerkrieg in Syrien geflohen. Das Bild des Jungen, dessen Leichnam an den Strand gespült worden war, ging um die Welt.

Sinnbild des Flüchtlingsleids. Der syrische Junge Aylan Kurdi tot am Meeresufer, 2015.
Sinnbild des Flüchtlingsleids. Der syrische Junge Aylan Kurdi tot am Meeresufer, 2015.

© Dogan News Agency/epa/dpa

In Deutschland trug es zu einer beispiellosen Willkommenskultur bei. Zehntausende standen in den kommenden Wochen an Bahnhöfen, um die Flüchtlinge zu begrüßen. Bundespräsident Joachim Gauck sagte: „Es gibt ein helles Deutschland, das sich leuchtend darstellt gegenüber dem Dunkeldeutschland.“ Aus Mitleid war Flüchtlingshilfe entstanden.

Bilder der Willkommenskultur. In Erfurt werden im Sommer 2015 wie an vielen deutschen Bahnhöfen Flüchtlinge von Helfern begrüßt.
Bilder der Willkommenskultur. In Erfurt werden im Sommer 2015 wie an vielen deutschen Bahnhöfen Flüchtlinge von Helfern begrüßt.

© Martin Schutt/dpa

Zwei Jahre zuvor war in Bangladesch, in der Nähe der Hauptstadt Dhaka, ein Gebäude mit fünf Textilfabriken eingestürzt. Mehr als 1100 Menschen starben. Mitverantwortlich für das Unglück seien deutsche Verbraucher, die billige T-Shirts kauften, hieß es. Textilunternehmen wie KiK, Primark, Mango oder Benetton hatten ihre Waren dort produzieren lassen. Aus Mitleid war kritischer Konsumgeist entstanden.

Menschen stehen um die eingestürzte Textilfabrik in Bangladesch, 2013.
Menschen stehen um die eingestürzte Textilfabrik in Bangladesch, 2013.

© Abir Abdullah/dpa

Bei einem Verkehrsunfall in Berlin, an der Kreuzung Invaliden-, Ecke Ackerstraße, starben am Abend des 6. September eine 64-jährige Frau, ihr drei Jahre alter Enkel und zwei Männer.

Verursacht worden war der Unfall von einem SUV-Fahrer, der möglicherweise einen epileptischen Anfall gehabt hatte. Seitdem wird intensiv über die Notwendigkeit des Fahrens schwerer Autos in Großstädten sowie über deren Kohlendioxid-Bilanz diskutiert. Aus Mitleid war eine verkehrs- und klimapolitische Debatte entstanden.

Mitleid geht unter die Haut. Es schmerzt. Die gefühlte Anteilnahme gilt als Grundlage von Fairness und Hilfsbereitschaft.

Das Vermögen, sich in das Leid anderer hineinzuversetzen, zeigt die charakterliche Reife eines Menschen. Es bewegt ihn, aktiv zu werden, um das Leiden zu lindern. Wer Mitleid empfindet, hat ein warmes, wer es nicht empfindet, ein kaltes Herz. Aber die Empathie, also das spontane Mitvollziehen dessen, was ein anderer fühlt, hat Kehrseiten.

Konsequenzen werden beim Mitgefühl oft ausgeblendet

Der Psychologe und Kognitionswissenschaftler Paul Bloom von der Yale University in New Haven (USA) hat Ende 2016 ein Buch mit dem Titel „Against Empathy“ („Wider die Empathie“) verfasst. Darin warnt er vor einem unreflektiert positiven Image des Mit-Leidens, das sich wie ein Scheinwerfer auf zufällig gerade ins Blickfeld geratene Menschen und Situationen richte. Dabei würden die langfristigen Konsequenzen von Hilfshandlungen oft ausgeblendet.

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Bloom skizziert ein Beispiel. Ein kleines Mädchen leidet an einer lebensbedrohlichen Krankheit und steht auf einer langen Warteliste für eine neuartige Behandlung, die Heilung verspricht. Sie kennen das Mädchen gut und haben die Möglichkeit, dessen Namen auf der Warteliste ganz nach oben zu rücken.

In dem Experiment taten genau das zwei Drittel der Teilnehmer, die sich selbst als besonders empathisch charakterisiert hatten. Ist ein solches Verhalten fair? Was ist mit den anderen Patienten, die nun länger auf ihre Behandlung warten müssen und deshalb womöglich sterben?

Ist Empathie nicht immer Ausdruck von Gruppenidentität?

Dass ein aus Mitleid und Nächstenliebe resultierender Hilfswille moralisch äußerst verwerfliche Folgen haben kann, findet sich bereits in den Schriften des mittelalterlichen Theologen Thomas von Aquin.

In seiner „Summa Theologica“ disputiert er die Frage, ob Irrlehrer getötet werden sollen. Thomas von Aquin bejaht das.

Durch Irrlehrer würden einfache Menschen zu einem falschen Glauben verführt und kämen deshalb in die Hölle. Weil die Nächstenliebe uns zwingt, sie vor diesem Schicksal zu bewahren, müsse das gefährliche Wirken der Irrlehrer verhindert und diese müssten notfalls getötet werden.

Der von Empathie gesteuerte Mensch nimmt Leidende und potenziell Leidende in den Blick. Er charakterisiert sich selbst als mitfühlend und den politischen Gegner als kalt. Aber bezieht sich die Empathie oft nicht vor allem auf verschiedene Gruppen?

Man sollte Empathie misstrauen

Die einen fühlen mit Flüchtlingen, die anderen mit jenen, die wegen offener Grenzen womöglich Opfer von vermeintlich höherer Kriminalität werden. Die einen fühlen mit den künftigen Opfern der Erderwärmung, die anderen mit den gegenwärtig Armen, die aufgrund der Lenkungseffekte einer ambitionierten Klimapolitik sich bald kein Fleisch, kein Auto und keine billigen Flüge mehr leisten können. Empathie fördert offenbar das Ausgrenzen und Abwerten von Menschen, die die Werte der eigenen Gruppe nicht teilen.

Daher warnt Bloom davor, Empathie zum politischen Argument zu machen. Er plädiert sogar dafür, ihr zu misstrauen.

Donald Trump etwa inszenierte sich im Präsidentschaftswahlkampf 2016 als Underdog. Einer gegen alle - gegen die korrupten Politiker, gegen die korrupten Parteien, gegen die korrupten Medien, gegen das korrupte Establishment.

Dafür wurde er entsprechend hart angegangen. Die Massivität der Gegenangriffe hatte zur Folge, was im Englischen „pity voting“ genannt wird: Durch einen Reflex der ausgleichenden Gerechtigkeit schlägt sich der Wähler auf die Seite einer Minderheit, die von der Mehrheit angeblich unfair behandelt wird.

Empathische Menschen sind nicht an sich bessere Menschen. Ein Sadist kann sich nur deshalb an den Qualen seines Opfers laben, weil er sich gut in dieses einfühlen kann.

Im Film „Das Schweigen der Lämmer“ spielt Anthony Hopkins den inhaftierten Serienmörder Hannibal Lecter, der mit Vorliebe die Innereien seiner Opfer verspeist. Er hilft der jungen FBI-Anwärterin Clarice Starling (Jodie Foster) dabei, einen anderen Serienmörder zu jagen, der seinen Opfern die Haut abzieht.

Wie kein anderer kann sich Hannibal Lecter in die Gedanken des Täters hineinversetzen und seine nächsten Schritte voraussehen. Das ist Empathie vom Gruseligsten.

Wer Mitgefühl idealisiert, verschlimmbessert die Welt

Hungernde, Textilarbeiter, Flüchtlinge, Klima: Je öfter die weltweit Leidenden, meist medial vermittelt, in den Fokus der Öffentlichkeit geraten, desto wichtiger ist es, die Grenzen globaler Empathie zu kennen. Kein Einzelner kann mit jeder geschundenen Kreatur überall und jederzeit mitleiden. Das überfordert den Seelenhaushalt.

Hyperempathie hat empathischen Stress zur Folge, der als Handlungsbasis zu fragil ist, um dauerhaft sein zu können. Wer sich von der Not anderer vollkommen einnehmen lässt, verliert den Sinn für das Machbare – und für sich selbst.

Gefühl muss sich mit Vernunft und Folgenabschätzung paaren, das Maß an Empathie muss wohldosiert verteilt werden. Wer das Mitgefühl idealisiert, gerät in Gefahr, die Welt zu verschlimmbessern. 

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