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Gläserner Patient? Zwei Krankenschwestern informieren sich digital.

© picture alliance / Jochen Eckel

Update

Elektronische Patientenakte: Der Arzt sieht alles – oder gar nichts

Wer seinen Ärzten Einblick in die elektronische Patientenakte gewährt, muss ihnen immer alles zu sehen geben. Das finden Verbraucherschützer bedenklich.

Was geht es den Zahnarzt an, ob sein Patient depressiv und in psychotherapeutischer Behandlung ist? Was hat es den Orthopäden zu interessieren, ob seine Patientin schon mal einen Schwangerschaftsabbruch hatte? Weshalb muss der Apotheker wissen, dass sein Kunde nicht bloß eine Gelenksalbe braucht, sondern auch unter Darmstörungen leidet?

Bei der elektronischen Patientenakte, die Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) bis zum Jahr 2021 erzwingen will, wird es für die Patienten zunächst nur ein Alles-Oder-Nichts-Prinzip geben. Das bestätigte das Gesundheitsministerium am Dienstag dem Tagesspiegel. Wer seinem Arzt, seinem Apotheker oder Therapeuten Einblick in die digitale Datensammlung gewährt, macht ihm damit dann automatisch und ohne Wahlmöglichkeit sämtliche Informationen zugänglich – auch solche, die ihn fachlich gar nicht zu interessieren haben und die ihm der Patient vielleicht lieber vorenthalten würde.

Verbraucherschützer: Patientenbelange müssen in den Mittelpunkt

Verbraucherschützer zeigten sich über diese fehlende Differenzierungsmöglichkeit alarmiert. „Bei allen positiven Eigenschaften der Patientenakte müssen gerade zum Start die Belange der Patienten im Mittelpunkt stehen“, sagte Kai Vogel, Gesundheitsexperte beim Bundesverband der Verbraucherzentralen, dem Tagesspiegel. Dazu gehöre „die individuelle Entscheidungsmöglichkeit, wer, wann Zugriff auf die eigenen Daten hat“. Wenn das nicht der Fall sei, so prophezeite Vogel, leide die Akzeptanz.

Die Deutsche Stiftung Patientenschutz erklärte, wenn die elektronische Patientenakte in dieser Form komme, sei „Jens Spahn nicht Geburtshelfer sondern Totengräber“. Nur der Patient dürfe darüber entscheiden, wer Einblick in welche Gesundheitsdaten erhalte, forderte Vorstand Eugen Brysch. „Das muss der Gesundheitsminister jetzt garantieren.“

Auch von den Grünen kam scharfe Kritik. Es sei „ein Grundversprechen der elektronischen Patientenakte, dass die Versicherten selbst entscheiden können, wem sie welche Daten zur Verfügung stellen wollen“, sagte Fraktionsexpertin Maria Klein-Schmeink. Mit den fehlenden Datenschutzeinstellungen in der ersten Ausbaustufe der Akte setze die Bundesregierung „die wichtige Akzeptanz bei Versicherten und Leistungserbringern aufs Spiel“. Dafür trage Spahn „persönlich durch seine ausschließlich politisch motivierte Fristsetzung die Verantwortung“.

Ministerium sieht kein Problem mit Datenschutz

Der Gesundheitsminister wies die Vorwürfe zurück. „Der Datenschutz ist nicht löchrig", sagte Spahn am Dienstag beim Berliner Hauptstadtkongress. Jeder Patient entscheide selber, welcher Arzt Einblicke in seine Patientenakte bekomme. Und diese Entscheidung, so ergänzte ein Sprecher gegenüber dem Tagesspiegel, treffe der Patient "genauso freiwillig wie er bei einer normalen Anamnese Auskünfte über seine bisherigen Vorerkrankungen gibt“.

Gleichzeitig bestätigte der Minister, dass Patienten ab 2021 noch nicht für jeden Arzt individuell festlegen könnten, welche Inhalte der Patientenakte sie zur Ansicht freigeben sind. Das sei "wünschenswert", sagte Spahn, "da wollen wir auch hin, aber das klappt im ersten Schritt noch nicht."

Zeitdruck als Ursache für technische Abstriche

Tatsächlich scheint die kurze Frist, die Spahn den Entwicklern für die elektronische Patientenakte gesetzt hat, ursächlich für die technischen Abstriche gewesen zu sein. Das berichtete die „Süddeutsche Zeitung“ unter Hinweis auf Äußerungen von Vertretern der „Gesellschaft für Telematikanwendungen der Gesundheitskarte“ (Gematik) gegenüber mehreren Abgeordneten. Aufgrund dieses Zeitdrucks habe man sich entschieden, die Patientenakte Anfang 2021 erst einmal einzuführen und dann die Rechte für Patienten nachzuliefern. Wann genau Patienten die elektronische Akte wirklich individuell einstellen könnten, hätten nun die Gematik-Gesellschafter zu befinden.

Seit vergangenem Mittwoch gehört dazu auch das Gesundheitsministerium. Spahns Ressort ist dort mit einem Geschäftsanteil von 51 Prozent jetzt sogar Mehrheitsgesellschafter. Diese „Übernahme“ war in Fachkreisen heftig umstritten. Doch Spahn wollte damit die Digitalisierung des Gesundheitswesens beschleunigen.

Ärzte müssen die Akte auf Patientenwunsch nutzen

Die elektronische Patientenakte etwa ist von der Bundesregierung seit fast 15 Jahren geplant. Dass sie von allen gesetzlichen Krankenkassen bis Anfang 2021 flächendeckend angeboten werden muss, hat Spahn schon vor einiger Zeit per Gesetz verfügt. Mit einem weiteren Referentenentwurf, der sich noch in der Ressortabstimmung befindet, will er nun zusätzlich gewährleisten, dass die Ärzte diese digitale Akte auf Wunsch auch tatsächlich nutzen und füllen müssen. Die Patienten erhalten Anspruch darauf – auch nach Behandlungen im Krankenhaus. Und sie sollen auch die Möglichkeit erhalten, noch deutlich mehr darin speichern zu lassen als bisher: ihren Impfpass beispielsweise, den Mutterpass, den Nachweis von Kinderuntersuchungen oder das Bonusheft für den Zahnarzt.

Spahn verteidigte erneut das Tempo, mit dem er die Einführung der elektronischen Patientenakte vorantreibe. „Ich möchte einfach nicht warten, bis das alles irgendwie kommt - aus USA oder, noch viel problematischer, aus China“, betonte er unter Verweis auf niedrigere Datenschutzniveaus anderer Länder.

Für Ausschreibung und Entwicklung der hochdiffizilen Akte bleibt den Krankenkassen aufgrund von Spahns politischen Vorgaben nun allerdings nicht viel mehr als ein Jahr. Klein-Schmeink sieht darin den Grund, dass man nun offensichtlich „Abstriche bei wichtigen Funktionalitäten gemacht“ habe. Das sei nicht hinnehmbar, sagte die Grünen-Politikerin. Die Versicherten müssten „in der ersten Ausbaustufe zumindest einstellen können, dass nur sie selbst oder auf Wunsch zusätzlich ihr Hausarzt sensible Daten zu sehen bekommt“.

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